BESINNUNG AUF EINEN HISTORISCHEN AUFTRAG. WARUM DIE SPÖ IHREN ORGANISATORISCHEN TIEFPUNKT ALS ECHTE CHANCE BEGREIFEN MUSS. VON BERNHARD MÜLLER

Der Beitrag von BERNHARD MÜLLER stellt eine pointierte Stellungnahme zur aktuellen Lage der Sozialdemokratie dar und plädiert dabei auch angesichts der Peinlichkeiten am Außerordentlichen Landesparteitag in Linz für eine klar linke Ausrichtung der Sozialdemokratie. gemeinsam eine klare Zielausrichtung zu formulieren.

I. Einleitung

Im Juni platzte eine politische Bombe, die nicht nur innerhalb der SPÖ Fassungslosigkeit sowie Entsetzen auslöste und ihr zurecht viel Spott und Häme einbrachte, sondern auch international für Schlagzeilen („Österreich die schlampige Republik, Der Spiegel; „Die SPÖ macht sich zur Giraffe“, Neue Zürcher Zeitung) sorgte: Am Linzer Parteitag wurde am 03. Juni 2023 offenbar eine falsche Zuordnung des Stimmzettelergebnisses für Hans Peter Doskozil und Andreas Babler vorgenommen, sodass es zu einem umgekehrten Resultat von Sieger und Verlierer kam, wodurch Hans Peter Doskozil irrigerweise zum neuen Bundesparteivorsitzenden gekürt wurde – Siegesrede inklusive. Mit zwei Tagen Verspätung hieß der neue Bundesparteivorsitzende der SPÖ, nach einem neuerlichen Prüfvorgang und einer eilig einberufenen Pressekonferenz der Wahlkommissionsvorsitzenden, plötzlich Andreas Babler. Die Peinlichkeit, nicht einmal richtig Stimmen auszählen zu können, nimmt der SPÖ niemand ab, diese Schmach muss sie alleine tragen und darf sich über beißenden Spott nicht wundern – zur berechtigten Frustration vieler vor allem ehrenamtlicher Funktionär*innen.

II. Schikanen für Arbeitslose? Grundwerte …

Was unserem Land aber wirklich nachhaltig schadet, sind die Umstände, dass laufend ehemalige Minister*innen wegen Korruption, Untreue, Betrug u. ä. vor Gericht stehen, dass bürgerliche Landespolitiker*innen ungeniert mit Rechtsextremisten Koalitionen abschließen, dass wir bis vor Kurzem einen Finanzminister hatten, der kokett ein paar Nullen im Budget vergessen hat, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, dass Herr Strache nach dem hinlänglich bekannten Ibiza-Skandal 42.000 (!) Vorzugsstimmen bejubeln konnte, dass wir im EU-Vergleich eine erschreckend hohe Inflation (zeitweilig sogar die höchste aller westlichen EU-Länder) aufweisen und uns anstatt einem völkerrechtswidrig überfallenen Land humanitär zu helfen, feig hinter der Neutralität verstecken. Während Arbeitsminister Kocher einen Gutteil seiner Zeit offenbar dafür aufwendet, sich neue „Schikanen für Arbeitslose“ (AK-Präsidentin Renate Anderl) auszudenken und mit Erlässen den für viele so bitter nötigen Zuverdienst erschwert, schwadroniert Bundeskanzler Nehammer in Slapstickmanier von der angeblichen Notwendigkeit, das Bargeld in der österreichischen Bundesverfassung zu verankern, wiewohl es europarechtlich bestens abgesichert ist und nationale Beschlussfassungen rein kosmetischer Natur sind.

Diese Aufzählung an erschütternden Vorkommnissen und Verfehlungen ließe sich nahezu beliebig fortsetzen. International wird Österreich, einst geschätzter diplomatischer Partner und Vermittler, schon lange nicht mehr ernst genommen. Die Posse um die Stimmenauszählung bei der Bundesparteivorsitzwahl einer Oppositionspartei ist dabei maximal ein übelschmeckendes Sahnehäubchen. Der ehemalige Bundesgeschäftsführer und Klubobmann a. D. Josef Cap irrt fundamental, wenn er in einem Gastkommentar für ein schrill-buntes Gratisblatt meint, das Wichtigste für die SPÖ sei es, wieder der Bundesregierung anzugehören.

III. Ein historischer Auftrag und die Saat für künftige Wahlerfolge

Historischer Auftrag der Sozialdemokratie ist es, nicht nach Posten zu schielen, sondern mit Vehemenz für ihre Grundwerte (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität) einzutreten, um ein besseres Leben für alle – und nicht nur Privilegierte – zu erreichen. Der Mensch muss im Mittelpunkt unseres Handelns stehen; und zwar nicht als Lippenbekenntnis oder Wahlslogan, sondern ernst- und glaubhaft. Wenn die österreichische Sozialdemokratie nicht (mehr) weiß, was sie inhaltlich will bzw. keine ihr ureigenen Grundsätze vertritt, ist es müßig und sogar verderblich, auf eine Regierungsbeteiligung zu hoffen. Ehrlicherweise muss man sagen, dass es schon lange schwerfiel, die SPÖ noch als/in Bewegung wahrzunehmen, aber der Prozess der Entpolitisierung dieser Traditionspartei ging seit 2019 erschütternd rapide vor sich.

Der teils chaotische, unsägliche, aber auch schmerzliche und mit inneren Verwundungen einhergegangene Vorsitzentscheidungsprozess im Vorfeld des Linzer Parteitages hat aber auch gezeigt, dass durch den innerparteilichen Wahlkampf plötzlich sozialdemokratische Themen wie der Kampf für eine 32-Stundenwoche, gegen die anhaltende Teuerung, das Eintreten für Kinderrechte, für leistbares Wohnen, nachhaltig-ökologisches Handeln oder internationale Solidarität die politischen Debatten beherrscht und die Medien dominiert haben. Es mag für die SPÖ schmerzhaft sein, aber die Wahlerfolge der KPÖ in Graz und erst recht im bürgerlichen Salzburg müssen Warnung und Motivation zugleich sein: Nur eine beharrliche, aufrichtige, glaubwürdige und bodenständige Politik für die wirklichen Anliegen der Bürger*innen – insbesondere für jene Menschen, die uns besonders brauchen – kann die Saat für künftige Wahlerfolge der SPÖ sein.

IV. Glaubwürdigkeit, Ethik und Moral der Sozialdemokratie

Zur Glaubwürdigkeit gehört auch, dass sozialdemokratische Verantwortungsträger*innen ihre Arbeit für die Menschen und das Land in den Fokus ihrer Öffentlichkeitsarbeit rücken. Auf den ersten Blick mag dieser Hinweis banal oder sogar lächerlich erscheinen, doch offenbar sind die Verlockungen von Social Media, sich mit Cocktails im Sonnenuntergang, bei Galadiners in Haubenlokalen oder amourös am Meer zu inszenieren, auch für manche Sozialdemokrat*innen (wiewohl zumeist Männer) unwiderstehlich. Was sollen sich dabei jene Vielen denken, die in sommerlich heißen Wohnungen ohne Balkon verharren müssen, weil ein Urlaub für sie aufgrund sinkender Reallöhne und enormer Preisteuerungen unleistbar geworden und Entspannung vom hektischen sowie aufreibenden Alltag in weite Ferne gerückt ist? Um nicht missverstanden zu werden: Sozialdemokratische Politiker*innen müssen nicht in „Sack und Asche gehen“, haben ein Anrecht auf ein adäquates Eigenheim, erholsame Urlaube und insbesondere auf Privatsphäre. Wer aber selbst das Private zum Öffentlichen macht, sich in Lifestyleposen (teils bis zur Lächerlichkeit) inszeniert, darf nicht erwarten, dass dies als ein für unsere Werte adäquates Verhalten empfunden wird. Es mag ungerecht sein, dass rechte Populisten – ohne von den Wähler*innen abgestraft zu werden – mit dem Porsche vorfahren, feudale Anwesen besitzen oder gar Millionäre sein dürfen, aber die Erwartungshaltung an Sozialdemokrat*innen hinsichtlich Ethik und Moral ist zurecht höher.

Dass Bundeskanzler Nehammer mit markig rückwärtsgewandten Sprüchen zur Zukunft des Verbrennungsmotors oder mit vorgegaukelter Sorge um das Bargeld jede Glaubwürdigkeit als Regierungschef preisgibt, schadet unserem Land, und die sozialdemokratische Antwort darauf müsste sein, dass wir einen Ausbau von sozial(rechtlich)er Absicherung in der Bundesverfassung fordern, denn es fehlt vielen Bürger*innen nicht am „Cash“, sondern generell an Geld, um ein halbwegs materiell sorgenfreies Leben bestreiten zu können. Auch wenn unpolitisches Genuss- und Konsumposen in der virtuellen Welt zahlreiche Likes bringen mag, im echten Leben zählt, was politische Parteien erreichen, um den Menschen in ihrem Land ihr Fortkommen zu erleichtern – dessen sollte sich die SPÖ in besonderem Maße bewusst sein.

V. Conclusio

Nicht zuletzt darf es nicht Anspruch der Sozialdemokratie sein, lediglich Schwarz-Blau verhindern zu wollen! Weder den bereits zuhauf vorhandenen Rechtspopulist*innen nacheifern zu wollen noch in ein weltfremdes Sektierertum zu verfallen, wird der österreichischen Sozialdemokratie Kraft und Stärke geben, um unser Land positiv verändern zu können. Gelingen kann dies nur, wenn sich die SPÖ als Volkspartei links der Mitte begreift. Dass diese Ausrichtung in den vergangenen Jahren und Monaten von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie dem ehemaligen Innenminister und erfolgreichen Kommunalpolitiker Karl Schlögl[1], dem vormaligen Kreisky-Pressesprecher sowie späteren Spitzenjournalisten Johannes Kunz[2], Gerhard Zeiler (einst Pressesprecher von Fred Sinowatz und Franz Vranitzky, später erfolgreicher Medienmanager) oder Institutionen wie dem Renner Institut Tirol[3] gefordert wurde, zeigt, dass die Partei in einer erfreulichen Buntheit und Breite in der Lage wäre, gemeinsam eine klare Zielausrichtung zu formulieren.

Wann, wenn nicht jetzt nach dieser Chaosphase, wäre es an der Zeit, einen politischen Neuanfang zu wagen, der sich inhaltlich jenseits von Vergangenheitsglorifizierung und Kreiskynostalgie auf die Wurzeln der Sozialdemokratie besinnt und diese auch organisatorisch-strukturell sowie personell erfolgreich ins Hier und Jetzt transferiert. Es täte nicht nur unserer Partei gut, sondern insbesondere unserem Land!

BERNHARD MÜLLER

ist Politikwissenschaftler und Publizist. Politisch ist er als Vizepräsident des Bundes sozialdemokratischer Akademiker*innen, Künstler*innen und Intellektueller (BSA) tätig. Des Weiteren ist er als Generalsekretär des Vereins Urban Forum Egon Matzner-Institut für Stadtforschung aktiv.

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Bernhard Müller © Bernhard Müller

[1] Karl Schlögl: „Die SPÖ muss versuchen, eine linke Volkspartei zu sein“, online unter: https://www.noen.at/purkersdorf/region-purkersdorf-130-jahre-spoe-spoe-muss-linke-volkspartei-sein-purkersdorf-spoe-130-jahre-spoe-132226664 (letzter Zugriff: 15.09.2023).

[2] Johannes Kunz: „Kreisky verwandelte die SPÖ von einer Klassenpartei zu einer linksliberalen Volkspartei, die sowohl auf dem Land als auch bei urbanen Bildungsbürgern, Intellektuellen, Künstlern und sozialen Aufsteigern punkten konnte“, online unter: https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2185917-Von-Kreisky-lernen.html (letzter Zugriff: 15.09.2023).

[3] RI Tirol: „Die SPÖ als linke Volkspartei muss sich neu erfinden, um langfristig eine linke Mehrheit in Österreich erringen zu können“, online unter: https://www.ri-tirol.at/aktuelles/sozialdemokratie-jetzt-oder-nie (letzter Zugriff: 15.09.2023).