Editorial ZUKUNFT 09/2023: Die Zukunft der Sozialdemokratie – VON ALESSANDRO BARBERI UND REINHARD LEITNER

Angesichts der bemerkenswerten jüngsten Veränderungen im Rahmen der SPÖ, die vor allem mit dem neuen Bundesparteivorsitzenden und Klubchef Andreas Babler verbunden sind, hat sich die Redaktion der ZUKUNFT entschlossen, ausgehend von der neuen programmatischen und ideologischen Ausrichtung eine eigene Ausgabe zur Zukunft der Sozialdemokratie zu gestalten. Dabei konnten wir insgesamt neun pointierte Beiträge von herausragenden Autor*innen und Genoss*innen zusammenstellen, die auf verschiedenen Ebenen thematisieren, mit welchen Beständen und Ausblicken die österreichische Sozialdemokratie wieder geschlossen und gestärkt werden kann. So diskutieren und dokumentieren wir mit dieser Ausgabe u. a. die eminent wichtige Rolle des Feminismus, die maßgebliche Funktion der Bildungspolitik oder den derzeitigen Stand der Politikwissenschaft im Blick auf die Zukunftsforschung.

Es ist uns dabei ein Hauptanliegen, im Sinne des Comebacks der SPÖ einen Beitrag zur schlagkräftigen Einheit der Partei zu leisten, der es uns ermöglichen kann, als progressive politische Bewegung die Zukunft der Sozialdemokratie mit der Zukunft Österreichs zu verbinden, um dabei auch an die historischen Erfolge der sozialistischen Partei anzuschließen. In diesem Kontext wird mehr als deutlich, dass sich die Sozialdemokratie schlussendlich von allen Formen reaktionärer Politik distanzieren muss, um das politische System Österreichs wieder auf die Grundlagen der Zweiten Republik zu verpflichten und sich realpolitisch mit einer „Politik von unten“ an den Anliegen und (Grund-)Bedürfnissen der Menschen zu orientieren.

Dieses Politikverständnis durchzieht mehrfach das unsere Ausgabe eröffnende Interview, das Andreas Babler der Redaktion der ZUKUNFT freimütig gegeben hat, um seine Vorstellungen von einer progressiven sozialdemokratischen und sozialistischen Politik zu verdeutlichen. Dabei geht unser Bundesparteivorsitzender auf programmatische und ideologische Fragen genauso ein, wie er die Rolle von Intellektuellen, Gewerkschaften und der Bevölkerung zum Gegenstand seiner Ausführungen macht. Dabei steht klar vor Augen, dass die SPÖ unter seiner Führung darauf setzt, eine Bewegung – und keine Sitzung – zu sein, an der möglichst viele Menschen teilnehmen können. So werden alle Bürger*innen in Erinnerung an Bruno Kreisky eingeladen, ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen. Dass in diesem progressiven Zusammenhang auch Außenpolitik, Migration und Feminismus diskutiert werden, versteht sich fast schon von selbst.

Denn dass die Frauenpolitik den entscheidenden Punkt einer sozialistischen Politik darstellt, ist seit den Anfängen der Arbeiter*innenbewegung immer wieder hervorgehoben worden. Deshalb betont auch Eva-Maria Holzleitner mit ihrem Artikel, dass im Blick auf die Zukunft der Sozialdemokratie der Feminismus den Unterschied macht und machen wird. Dabei sind ihr gerade aus frauenpolitischer Perspektive Themen wie Care-Arbeit, Arbeitszeitverkürzung, geteilte Karenz, Lohntransparenz und Vermögenssteuern wichtige Elemente einer linken Frauenpolitik, die sie gleichzeitig im (sozialistischen) Rahmen eines stabilen Sozialstaats denkt. Ein Staat, der etwa im Blick auf die Gefahr der Altersarmut von Frauen nachdrücklich gestärkt und ausgebaut werden muss, um mit einem klaren Programm und guten Konzepten mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Die Besinnung auf die klassischen Bestände der Arbeiter*innenbewegung ist auch Bernhard Müller ein besonderes Anliegen, wenn er betont, dass die SPÖ ihren organisatorischen Tiefpunkt als echte Chance begreifen muss. Im Blick auf die Zukunft der Sozialdemokratie liefert unser Autor eine pointierte und kompetente Stellungnahme zur aktuellen Lage der Sozialdemokratie und plädiert dabei ebenfalls für eine klare linke Ausrichtung der SPÖ. Es ist also an der Zeit, einen politischen Neuanfang zu wagen, der sich inhaltlich jenseits von Vergangenheitsglorifizierung und Kreisky-Nostalgie auf die Wurzeln der Sozialdemokratie besinnt und diese auch organisatorisch-strukturell sowie personell erfolgreich ins Hier und Jetzt transferiert. Dies, so Müller, täte nicht nur unserer Partei gut, sondern insbesondere unserem Land.

Eine dieser maßgeblichen Wurzeln der Sozialdemokratie ist seit den Arbeiterinnenbildungsvereinen des 19. Jahrhunderts die Bildungspolitik. Deshalb freut es uns, dass Wolfgang Markytan, Bundesbildungsgeschäftsführer der SPÖ, angesichts der tiefgreifenden Veränderungen der politischen Landschaft hervorhebt, dass sich sozialdemokratische Politik im Spannungsfeld zwischen Paternalismus und Populismus situieren sollte, da die Zukunft der Sozialdemokratie Anpassung und großen Mut erfordert. In diesem Zusammenhang dürfen wir auch alle unsere Leserinnen auf die Bundesbildungs-Konferenz im September 2023 hinweisen, die, so Markytan, den Weg für eine erneuerte Sozialdemokratie weisen wird, indem sie die Komplexität und Vielfalt unserer Zeit anerkennt und mutig angeht.

Der Bildungsbereich ist auch für Gerhard Schmid, Bundesbildungsvorsitzender der SPÖ, von eminenter Bedeutung für die Zukunft der Partei. Dabei diskutiert er die Kernbereiche sozialdemokratischer Politikgestaltung aus bildungspolitischer Perspektive und fordert im Einklang mit der sozialdemokratischen Tradition gleiche Bildungschancen für alle. So dürfen Kinder eben nicht selektiert und „sortiert“ werden, weshalb uns allen eine Gesamtschule vor Augen stehen sollte. In diesem Kontext geht es auch angesichts von dynamischen gesellschaftlichen Veränderungen wie der dritten industriellen Revolution durch Digitalisierung um eine kantige sozialistische Politik, die sich den Mechanismen der „Infokratie“ (Byung-Chul Han) und des Informationskapitalismus (medien-)kompetent entgegensetzt. Genau das führt zu einer demokratiepolitischen Problemstellung, die für die Zukunft der Sozialdemokratie von entscheidender Bedeutung ist.

Dass eine deutliche Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und das Entwerfen von (gesellschafts-)politischen Alternativen zum Kernbestand der österreichischen Arbeiter*innenbewegung gehört, betont auch Alexander Kaiser. Denn gegen die internen Differenzen und die äußeren Polarisierungen hilft im Sinne progressiver Politik nur die Einheit, der Zusammenhalt und die straffe Organisation der Partei. In Erinnerung an Victor Adler plädiert Kaiser deshalb für eine offene Diskussionskultur, mit der alle progressiven Strömungen gebündelt werden können. Dabei ist es unserem Autor auch ein Anliegen, auf die devastierenden Auswirkungen eines globalen Kapitalismus hinzuweisen, dessen Egoismus nur durch die kollektive Tradition der Linken bekämpft werden kann. In diesem Sinne ist es notwendig, für die aktive Umverteilung ökonomischer Ressourcen einzutreten und soziale und ökonomische Missstände anzuprangern.

Auch die Politikwissenschaft ist für die künftige Politik der Sozialdemokratie von geraumer Bedeutung, wie der Beitrag von Roland Benedikter zeigt, der das Verhältnis von Politologie und Zukunftsforschung untersucht und dabei vor allem einer Frage nachgeht: Was ist der Stand der Dinge hinsichtlich der Einbeziehung der Zukunft in die zeitgenössische Politikwissenschaft? Dabei fordert Benedikter die Gründung einer internationalen Task Force von Politik- und Sozialwissenschaftlern zum Schnittpunkt „Politikwissenschaft und Antizipation“, aber auch eine stärkere Zusammenarbeit von politikwissenschaftlichen Gremien mit internationalen Organisationen wie OECD und UNESCO. Eine Forderung, der auch die SPÖ auf dem Weg in die Zukunft mit guten Gründen nachkommen kann, indem sie im Sinne einer progressiven Allianz dafür eine Plattform zur Verfügung stellt.

Robert Menasse wurde am 13. Juni 2023 für sein Buch Die Erweiterung (Suhrkamp 2022) mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2022 ausgezeichnet. Im Rahmen der Preisverleihung im Bruno-Kreisky-Forum hielt er eine für die Sozialdemokratie bemerkenswerte Festrede, die in Absprache mit dem Autor nun dankenswerterweise auch in transkribierter und leicht redigierter Form den Leser*innen der ZUKUNFT präsentiert werden kann. Denn Menasse betont durchgängig, dass es in der Sozialdemokratie auf Das Menschenbild, die Haltung, die Werte … ankommt, weshalb eine (durchaus kritische) Rückbesinnung auf Bruno Kreisky keineswegs Nostalgie bedeutet. Deshalb nimmt er den angeblichen „Schuldenkanzler“ und die staatliche VOEST in Schutz und betont u. a. angesichts faschistischer Politiker*innen bzw. Rechtspopulist*innen und im Blick auf eine progressive Bildungspolitik, dass es keine Demokratie von Idioten geben kann.

Einen sensiblen Bereich der sozialdemokratischen Politik behandelt dann Dominik Bernhofer, wenn er vorsichtig betont, dass die Zukunft der Sozialdemokratie auch damit zu tun hat, ein positives Verständnis vom Nationalstaat zu gewinnen, um gerade dadurch dem reaktionären Nationalismus entgegentreten zu können. Denn der Nationalstaat ist ein wichtiges Instrument der (österreichischen) Sozialdemokratie und hat eben nicht nur einen Schmuddelkind-Status. Wir brauchen also, so Bernhofer, eine Debatte über die Rolle des Nationalstaats im Rahmen der (weiteren) europäischen Einigung. Die aktuell ausgebrochene Diskussion über das Verhältnis der SPÖ zur EU und zur Migrationspolitik sollte also für eine größere Debatte zur „nationalen Frage“ im 21. Jahrhundert genutzt werden. Denn eines scheint unserem Autor klar zu sein: Der (österreichische) Nationalstaat ist zu wichtig für die arbeitenden Menschen, als dass ihn die Sozialdemokratie den rechten Parteien überlassen dürfte.

Dass die Redaktion sich mit jeder Ausgabe um eine schöne und passende Bildstrecke bemüht, dürfte unseren Leser*innen bisher nicht entgangen sein. Deshalb danken wir an dieser Stelle Clemens Schmiedbauer und David Višnjić, die im Auftrag der SPÖ den bedeutsamen Außerordentlichen Landesparteitag fotografisch begleitet haben, der am 03. Juni 2023 in Linz stattfand. Denn neben der Peinlichkeit, die mit diesem Parteitag verbunden bleibt, ist er doch auch ein historisches Ereignis, mit dem für viele Menschen und Genoss*innen die Hoffnung auf eine progressive Neuausrichtung der Partei verbunden ist. Im Blick auf die Zukunft der Sozialdemokratie wollen wir also zum Ende hin festhalten: Back to the roots! Back to the future!

Abschließend hoffen der Chefredakteur und die Redaktion, dass unsere Ausgabe zur Zukunft der Sozialdemokratie Denkanstöße liefern kann, die es uns ermöglichen, geeint und diszipliniert eine gemeinsame Programmatik und Ideologie in die Zukunft zu tragen. Es ist uns eine sozialistische Herzensangelegenheit, die internen Differenzen ad acta zu legen, um geschlossen und gemeinsam in die ZUKUNFT zu blicken und zu gehen … Denn das ist, auch in trauernder Erinnerung an Caspar Einem, unser Wille zum aufrechten Gang!

Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße

Alessandro Barberi und Reinhard Leitner

ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/

REINHARD LEITNER
ist Sozialist und Zigarettenhersteller. Er ist seit Jahrzehnten im Umfeld und in der SPÖ politisch engagiert und setzt sich seit langem – auch mit dieser Ausgabe der ZUKUNFT – für eine progressive und linke Ausrichtung der Partei ein.