Angesichts unseres Schwerpunktthemas Israel und Antisemitismus bespricht THOMAS WILKE eine für die Geschichte des Judentums im 20. Jahrhundert mehr als bedeutsame Freundschaft. Denn die Lebenslinien und Beziehungen von Walter Benjamin und Gershom Scholem spielen für das Schicksal der Jüdinnen und Juden eine paradigmatische Rolle.
I. Einleitung
Schaut man auf gegenwärtige Diskussionen des deutsch-jüdischen Verhältnisses und sucht nach intellektuellen Ankerpunkten, dann landet man möglicherweise bei der Freundschaft von Walter Benjamin und Gershom Scholem. Beide aus gutbürgerlichem Haus stammend – Benjamin als Sohn eines Antiquitätenhändlers, Scholem als der eines Buchdruckers – begegneten sie sich 1915 erstmals. Während Benjamin frühzeitig ein sprachphilosophisches und mystisches Interesse zeigte, wandte sich Scholem, gleichwohl als Widerstand gegen die häusliche Assimilation, dem Zionismus zu und lernte hebräisch. Ein äußerliches Zeichen war der Wandel seines Namens von Gerhard in Gershom, selbst wenn Walter Benjamin ihn zeit seines Lebens mit Gerhard anredete. Ihre gemeinsam geteilte Zeit währte im Vergleich der Freundschaft bis zu Benjamins frühem Tod 1940 lediglich bis 1923, als Scholem seinen Entschluss umsetzte und nach Jerusalem auswanderte.
II. Eine Freundschaft
Aber diese Zeit war von einer Intensität geprägt, die das Fundament für die Folgejahre darstellte, in denen sich beide bis auf einige wenige Besuche in Paris nicht mehr sahen, auch wenn sie es sich vornahmen und das als Sehnsuchtsmoment immer wieder formuliert ward. Die Freundschaft der beiden ist gut dokumentiert, nicht nur über die vorliegenden Briefwechsel, deren Publikation Scholem initiierte, sondern ebenso über die Biografien über Walter Benjamin sowie Scholems Geschichte ihrer Freundschaft.
Es ist sinnvoll, sich aus heutiger Sicht einige Punkte dieser Freundschaft zu vergegenwärtigen, da sie alles andere als selbstverständlich geworden sind. So vermerkte der sieben Jahre jüngere Scholem eher lakonisch, dass sie „beide eigentlich keine Lehrer im guten Sinne des Wortes“ hatten, und „ohne akademische Führer [ihren] Sternen nach[gingen]“ (Scholem 1975: 32). Das hielt sie nicht davon ab, sich selbst zu bilden und den jeweils anderen in der Lektüre und durch die Lektüre zu fordern, dabei von gemeinsamen Interessen aber von unterschiedlichen Standpunkten auszugehen, nächtelang mit gegenseitiger Literaturempfehlung zu diskutieren und dem anderen zuzuhören. Der Stellenwert einzelner Texte und Bücher – mit Blick auf Bildung in ihrem Kontext – tritt deutlich hervor, wenn die Mühen der Beschaffung ersichtlich werden, beispielsweise im ganz selbstverständlichen Erstellen von Abschriften per Hand. Doch was macht diese außerordentliche Freundschaft darüber hinaus für die Gegenwart so interessant?
III. Berliner Kindheit und Briefe
Es sind erst einmal die gemeinsamen Wurzeln in Berlin, die Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion, dem familiären Assimilationsprozess, der Verortung im Deutschen bis hin zu Fragen des Nationalen als Differenzlinie zur zionistischen Diskussion der Zeit, aber genauso das Leben in einer sich grundlegend verändernden Welt – politisch, wirtschaftlich, kulturell, religiös, sozial. Viel verband die beiden, selbst mit grundverschiedenen Charakteren: das Interesse an der jüdischen Kultur, das schwierige Verhältnis zu den Vätern, das eigenwillige Entscheiden für ein interessegeleitetes Studium, die Suche nach Orientierung verbunden mit dem Blick auf eine wissenschaftliche Karriere, der Wille, den anderen zu verstehen, die Neugier, aber auch Engel als Sujet, das Übersetzen, letztlich die Distanz zum Ersten Weltkrieg, dessen Ausgang sie im selbstgewählten Exil zusammen mit Benjamins Frau Dora in der Schweiz verbrachten. In dieser Zeit zeigte sich Doras vermittelndes Geschick in durchaus spannungsreichen Situationen zwischen den beiden. Während Scholem in den meisten Bereichen pragmatisch veranlagt war, lässt sich Benjamin in Geldfragen alles andere als souverän, und teilweise spröde bis distanziert-unzugänglich im Umgang mit anderen Menschen beschreiben. Nahezu unvereinbar scheinen jedoch ihre moralischen Positionen, die jedoch nur selten explizit und schon gar nicht als Vorwurf zur Sprache kamen. Während der Verlobte Walter Benjamin mit der verheirateten Dora Pollack in deren Haus ein Verhältnis begann, das kurze Zeit später zur Ehe und bereits 1918 zum gemeinsamen Sohn Stefan führte, berührten die lebhaft geführte Ehe und die später offenen Ehebrüche Benjamins Scholem eher peinlich, auch wenn er sich nach dreizehn Ehejahren von seiner Frau Escha trennte, um kurz darauf seine Studentin zu ehelichen. Das waren allerdings keine Themen zwischen den beiden, sondern eher Bestandteil der biografischen Aufarbeitungen. Denn auch wenn heute Kommunikation problemschaffend wie auch problemlösend als „Schild und Schwert“ ideologisch erhöht, als Kompetenz, Ressource und Strategie angerufen wird: Was braucht es, um den anderen zu verstehen: „Unsere Gemeinschaft besteht eben darin, daß jeder diese Stummheit des anderen wortlos versteht und ehrfürchtet“. Das geht aber nur, wenn es eine gemeinsame Basis gibt.
Ein konstitutives Element dieser Freundschaft bestand weiterhin darin, dass Scholems intellektuelle Arbeit in Jerusalem ab 1923 zu einer Kontinuität führte, die Benjamin in seiner rastlosen Ortssuche nicht fand und Scholem nolens volens zum Sachwalter ihres intellektuellen Austauschs wurde. Etwa, wenn Scholem ihn um eine Textabschrift bittet oder Benjamin ihm einen Text übersendet, mit der Bitte um Aufbewahrung oder einer Auseinandersetzung mit den vorgestellten Ideen. Der für die damalige Zeit durchaus normale zeitliche Abstand der Korrespondenz von mehreren Tagen bis zu Wochen ist für die heutige Zeit nur noch schwer nachvollziehbar. Manches dauerte einfach länger. Unmittelbare mobile Kommunikation mit Bild und Sprache verändert die Tiefe des Austausches, ebenso die Erwartung eines sofortigen Antwortens. Sich nicht sehen zu können und seinem Hoffen Ausdruck zu verleihen, gibt dem Briefaustausch eine persönliche Note, die heute technisch die Metaebene der Digitalkommunikation als Pixel- und Empfangsqualitätsfrage bestimmt. Das stets aufrecht gehaltene Bemühen, sich in den Briefen gegenseitig verstehen zu wollen, ist geprägt von einem schriftsprachlichen respektvollen Ausdruck, dem ein gewachsenes Vertrauen in der Begegnung vorausging. Dieses Ringen um Worte kommt in den Briefen zum Ausdruck und wird zugleich Reflexionsinstanz des wechselseitigen Verstehens. Das ist keineswegs immer und keineswegs immer gleich gegeben.
IV. Von Frauen, Passagen und Jerusalem
Geben wir dem folgenden Gedanken einmal den notwendigen Raum und lassen ihn zumindest im Konjunktiv oszillieren: Im Frühjahr 1929 lernt Benjamin Bertolt Brecht kennen, er wendet sich dem Kommunismus zu, was Scholem nachhaltig verstimmt. Benjamin will sich von Dora trennen und streitet mit ihr um Geld, er ist Asja Lacis verfallen, die er bereits 1924 kennenlernt, er trägt sich mit dem Gedanken, ein Magazin zu gründen und beginnt zugleich mit den Vorarbeiten für das spätere Passagenwerk, schließlich arbeitet er journalistisch unter anderem für den Rundfunk. Sein rastloser Weg führt ihn im Sommer, getragen von der Sorge um seine noch in Berlin befindliche Bibliothek, nach Paris. Dort trifft er sich eines Abends nach vorheriger Absprache mit Gershom Scholem und Judah Leon Magnes, dem Kanzler der Hebräischen Universität Jerusalem. Walter Benjamin erklärt – zur Überraschung und Freude seines Freundes – dass er seine produktive Arbeit nun dem Jüdischen widmen wolle und er es sich vorstellen könne, in Jerusalem hebräisch zu lernen.
Magnes ist angetan und stellt ein Stipendium in Aussicht, die Planungen für dieses Projekt werden zwischen Scholem und Benjamin in den folgenden Briefen konkreter. Doch Magnes weist etwas später, ohne Absprache mit Scholem, das zugesagte Stipendium an Walter Benjamin in einem Betrag nach Berlin an. Das verändert alle gemachten Pläne, denn Scholem kennt seinen Freund. Benjamin beginnt zwar, in Berlin Hebräisch zu lernen, allerdings nur für zwei Monate, aus dem geplanten Jerusalem-Aufenthalt wird schließlich nichts, das Geld ist alle.
V. Eine Frage?
Nun die Frage: Hätte sich Walter Benjamin bei Nichtüberweisung seinem Freund soweit verpflichtet gefühlt, die Reise anzutreten, den Hebräischunterricht und die avisierten Studien vor Ort durchzuführen? Es wäre eine denkbare Weichenstellung gewesen, Asja Lacis hätte vielleicht nicht den Einfluss auf ihn gehabt, die Auseinandersetzung mit Kommunismus und Materialismus wäre eine andere geworden. Der gedankliche Faden ließe sich weiterspinnen, wie sich die Freundschaft zwischen Walter Benjamin und Gershom Scholem nach dieser ersten langen räumlichen Trennungsphase entwickelt und ob es dann die Flucht 1940 sowie dieses Ende gegeben hätte. So ist es aber nicht gekommen, es bleibt ein spekulativ gedankliches Konstrukt im Möglichkeitsraum.
THOMAS WILKE
ist Medienwissenschaftler und Historiker. Er ist Professor für Kulturelle Bildung an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg und leitet dort den gleichnamigen Masterstudiengang. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Geschichte, Theorie und Analyse von Medien sowie auditive Medienkulturen (HipHop, DJing, Mashups) und ihre Bildungskontexte.
One comment
Comments are closed.