Wir müssen die Klassen immer wieder in Frage stellen …INTERVIEW MIT GERHARD SCHMID GEFÜHRT VON ALESSANDRO BARBERI UND HEMMA PRAINSACK

Die ZUKUNFT hat GERHARD SCHMID, den Bundesbildungsvorsitzenden der SPÖ, am 9. Juni 2021 zu einem Gespräch in der Wiener Bildungsakademie eingeladen. ALESSANDRO BARBERI und HEMMA PRAINSACK unterhalten sich mit ihm u. a. über die Zukunft der ZUKUNFT, soziale Ungleichheit im Bildungsbereich, die Probleme der Digitalisierung und die Aktualität von Bruno Kreiskys Klassenbegriff …

Alessandro Barberi: Lieber Gerhard, wir möchten heute mit Dir anlässlich des 75-Jahre-Jubiläums der ZUKUNFT über die Zukunft der österreichischen Bildungspolitik, Trends wie Digitalisierung, aber auch allgemein über die Zukunft der SPÖ und der österreichischen Linken sprechen. Wo siehst Du heute die Zukunft der SPÖ und wo sind die Probleme, die wir in der österreichischen Linken haben?

Gerhard Schmid: Ich würde von Beginn an in den internationalen Rahmen gehen, da wir die SPÖ mit vielen europäischen sozialdemokratischen Parteien vergleichen können. Ich war in meiner Zeit als Bundesgeschäftsführer bei der Generalsekretärin der schwedischen Arbeiterpartei in Stockholm zu Besuch und wir haben uns über sozialdemokratische Zielsetzungen unterhalten. Sie kam zu dem Schluss, was für Volvo und SAAB gut ist, ist auch für die schwedische Sozialdemokratie gut. Dabei ist es sicher eine wichtige Frage, was heute links ist. Ich bin nie ein Freund großer Dogmen gewesen und habe Linkssein immer als etwas sehr Dynamisches gesehen, weil man sich zeitlich anpassen muss. Mein Links-Begriff ist eher einer, der bei Bruno Kreisky beheimatet ist, weil Kreisky ein extrem moderner und zeitgemäßer Mensch war. Aber es fehlt uns heute sicherlich der rote Faden: Was ist links? Ist es links, wenn man umweltbewegt und ökologieorientiert ist? Ist es links, wenn man, was gut und richtig ist, Maßnahmen setzt, um die Armut zu bekämpfen? Ist es links, wenn man für eine gerechte Einkommensverteilung eintritt? Natürlich sind das alles wichtige Facetten, aber das eine Generalkonzept, das in Madrid, Wien, Berlin, Kopenhagen usw. als links gelten könnte, gibt es im Moment nicht.

A. B.: Wenn du deinen Links-Begriff als „bei Bruno Kreisky beheimatet“ siehst, ist eines der entscheidenden Kernthemen das der sozialen Ungleichheit, die sich seit der Ära Kreisky wieder sehr zugespitzt hat. Als Pädagoge stellt sich mir in diesem Zusammenhang die Frage, warum junge Menschen wie vor 40 Jahren immer noch zwischen Hauptschule und Gymnasium getrennt werden. Wäre hier nicht der neuralgische Punkt einer Bildungspolitik, die gute Chancen hätte, die Wähler*innen wieder zur SPÖ zurückzuholen?

G. S.: Die Sozialdemokratie hat – solange ich zurückdenken kann – für die Gesamtschule der 10- bis 14-Jährigen gekämpft, doch solche tiefgreifenden strukturellen Veränderungen benötigen eine Mehrheit in der Bevölkerung, die bisher nicht gegeben war. Im Verfassungsreformwerk von 1962 wurde beschlossen, dass Fragen der Schulorganisation in Österreich Zweidrittel-Materie sind. Das ist erst vor wenigen Jahren durch eine Änderung der Bundesverfassung gelockert worden. Wir haben also von den 1960er-Jahren weg eine bildungspolitische Lage, die strukturelle Veränderungen erschwert. Obwohl Du heute keine seriösen Erziehungswissenschaftler*innen oder Entwicklungspsycholog*innen mehr finden wirst, die sagen, dass die Trennung der Bildungswege mit dem zehnten Lebensjahr nicht viel zu früh ist. In Österreich ist das aber eine einzementierte Materie.

Es ist uns 1968 gelungen, erste Schulversuche durchzubringen, die aber mit zehn Prozent des Regelschulwesens limitiert sind. Aber die SPÖ hat es in Wirklichkeit nie geschafft, dafür eine Mehrheit zu gewinnen und das Gymnasium durch etwas anderes zu ersetzen. Wir haben aber versucht, die Dinge besser zu machen und da ist zum Beispiel unter Fred Sinowatz auch viel passiert. In den 1970er-Jahren gab es einen Aufholprozess. Die große politische Ansage von Kreisky und Sinowatz war: in jedem politischen Bezirk eine berufsbildende höhere Schule. Anfang der 1970er-Jahre war das noch eine Utopie, die dann aber tatsächlich realisiert wurde. In der Amtszeit von Sinowatz wurden in Österreich mehr höhere Schulen errichtet als in der Zeit von 1900 bis Anfang der 1970er-Jahre.

Außerdem hat man versucht auf der inhaltlichen Ebene, wo keine Zweidrittelmehrheit notwendig war, Veränderungen herbeizuführen. Ich denke an den Beginn der politischen Bildung in den 1970er-Jahren, als wir den Zeitgeschichte- und Sexualkunde-Koffer im Gepäck hatten. Im universitären Bereich war die Situation eine ähnliche: Dort hat man jenen Teil des Universitätssystems, der sich gerade in den 1960er-Jahren deutlich zu Wort gemeldet hat und der unterrepräsentiert war, nämlich den Mittelbau der Universitäten, gefördert und in die Strukturen hineinbefördert. Die Drittelparität wäre ein Beispiel dafür, die wurde aber leider wieder zurückgefahren – und es gab keine große Gegenbewegung.

A. B.: Was ist in diesem Zusammenhang Deine Erinnerung an die Rolle der ZUKUNFT in Bezug auf bildungspolitische Entwicklungen seit ihrem Bestehen 1946?

G. S.: An die ZUKUNFT gibt es viele gute Erinnerungen, weil sie ein unverzichtbarer und wesentlicher Teil des politischen Spektrums war. Die sozialdemokratische Partei war von ihrer ersten Stunde an eine Bildungsbewegung, und daher war der intellektuelle Diskurs ganz wichtig. Es gab drei wichtige Medien: die Arbeiter-Zeitung, die ZUKUNFTund die Frau als Zentralorgan der sozialdemokratischen Frauenbewegung. Natürlich war die Arbeiter-Zeitung eine Parteizeitung in einer Aufmachung, wie das heute schwer möglich wäre, aber sie war gleichzeitig auch ein Organ des intellektuellen Diskurses und das muss immer in Zusammenhang mit der ZUKUNFT gesehen werden. Für einen gebildeten Parteifunktionär war es in der Vergangenheit ein Muss, dass er die ZUKUNFT abonniert und auch gelesen hat. Es bot sich auch die große Chance für viele Funktionär*innen, dass, wenn sie einen entsprechend qualitativen Beitrag leisten konnten und wollten, den auch in der ZUKUNFT leisten durften. Diese Möglichkeit hat es natürlich auch gegeben. So gesehen war die ZUKUNFT immer ein unverzichtbares Diskussionsorgan, das wir wieder näher an die sozialdemokratischen Bildungsorganisationen und die Partei heranführen sollten.

Was mir an der ZUKUNFT immer imponiert hat, war, dass sie diesen umfassenden Bildungsbegriff vertreten hat. Das muss auch ins Bildungssystem transportiert werden, und wenn wir Verantwortung tragen, können wir das auch umsetzen: Ein humanistisches Bildungsideal realisieren, das heißt, Vernetzung von Bildungsprozessen mit Kunst und Kultur, den Dialog zwischen Natur-, Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften pflegen, keine Widersprüche dort dulden, wo es sie nicht gibt, sondern vor allem zu den einzelnen Disziplinen die Brücken bauen und Verständnis für viele Dinge in der Gesellschaft schaffen. Genauso gehören Sport und andere gesellschaftliche Bereiche dazu – so ein Bildungsorgan muss eine sehr breite Wirkung haben.

A. B.: Die ZUKUNFT und die SPÖ waren immer einer weltbürgerlichen Allgemeinbildung verbunden. Im 19. Jahrhundert spielten Arbeiter*innenbildungsvereine eine große Rolle, nur wurden inzwischen die Volkshochschulen ein wenig vergessen. Grundlegend war ursprünglich der Gedanke, eine Gegenkultur zu den Universitäten aufzubauen, aber mittlerweile ist auch in der SPÖ eine Top-Down-Mentalität eingekehrt, die uns eigentlich von dem, was man früher auch „proletarischen Instinkt“ genannt hat, weggebracht hat.

G. S.: Die Volkshochschulen haben in der Vorkriegszeit, oder in der vorfaschistischen Zeit, ganz großartige Dinge geleistet. Das hat zwar beispielsweise rechtsstehende und nationale Professor*innen in Wien damals nicht erreicht, aber die, die in der Mitte, fortschrittlich liberal oder sozialdemokratisch orientiert waren, sind am Abend in die Volkshochschulen am Stadtrand gegangen und haben dort populärwissenschaftlich verschiedenste Disziplinen vertreten. Allein wenn ich mir die Geschichte der Wiener Urania ansehe, wo Sigmund Freud gelehrt hat, wo es Vorträge mit Albert Einstein gegeben hat, das war damals eine Selbstverständlichkeit.

A. B.: Solange die sozialistische Partei tatsächlich Arbeitnehmer*inneninteressen vertreten hat, gab es diese Dialektik zwischen dem, was früher bürgerliches Wissen war, und dem Herzschlag der Arbeiter*innenbewegung. Könnten die Volkshochschulen sich nicht wieder als ein Ort zeigen, an dem hochstehende, weltbürgerliche und weltproletarische Bildung nicht nur populär präsentiert wird, sondern wo mit diesem Wissen auch wirklich gearbeitet und freie Forschung ermöglicht wird?

Hemma Prainsack: Ich denke, wir haben in der jetzigen Ausnahmesituation mit dieser schweren, tiefgreifenden Krise die Möglichkeit, den Menschen Bildung im Erwachsenenbereich wieder nahebringen zu können. Das Konsumverhalten hat sich jedoch im Vergleich zu früher komplett verändert: Die vielfältigen Angebote der Vergnügungskultur sind inflationär vorhanden, so dass Zeit und Motivation sich weiterzubilden, geringer geworden sind. Es muss bewusstgemacht werden, warum Bildung eigentlich so wichtig für jeden Einzelnen ist, was für einen wesentlichen Wert sie für jeden selbst hat. Dazu brauchen wir große Vorbilder und Anreize, sonst verbringen Menschen ihre Abende mit Netflix, im Internet oder sonst wo – und nicht in einer Diskussion miteinander. Der rasante technologische Wandel, den wir derzeit durchleben, hat auch für eine große Diskrepanz gesorgt: Digitalisierung, Automatisierung und Technologisierung schreiten mit derartiger Rasanz voran, dass wir Bürger*innen kaum nachkommen oder den Wandel verstehen. Es ist eine ganz wichtige europäische Herausforderung, hier den Menschen auch die Weiterbildung und die Instrumente zum Verstehen dieses Wandels zu verleihen.

A. B.: Von der Tradition her war die Arbeiter*innenbewegung seit dem Maschinensturm eigentlich nie technologiefeindlich. Es war immer eine neutrale Frage, bei der es darum ging, wem die Maschine gehört. Auch die aktuellen Debatten zum Digitalen Humanismus zeigen, dass es inzwischen wieder um den Menschen selbst geht …

G. S.: Eines ist sicher: Digitalisierung ist ein zentrales Zukunftsthema – kaum ein Wort wird derzeit so häufig benutzt, ständig heißt es, man muss Leader werden bei der Digitalisierung oder Digitalisierungshauptstadt – aber was ist das? Was versteht man darunter? Ich sehe zum Beispiel Leute, junge genauso wie alte, die hilflos in einem Bankfoyer stehen und nicht wissen, was sie dort mit den Maschinen machen sollen. Banken, aber auch die öffentliche Hand, lagern Arbeitsprozesse, zum Teil im Sinne von Ressourcenmanagement oder -einsparungen, auf die Endverbraucher*innen, die Kund*innen oder Bürger*innen aus. Früher ging man mit seiner Steuererklärung zum Finanzamt, hat sich angestellt, einen Eingangsstempel darauf bekommen und sie abgegeben. Heute geht man mit der Bürgerkartenfunktion über finanzonline und macht im Prinzip alles selbst. Das kann natürlich ein Vorteil sein. Man darf aber nicht vergessen: Es gibt da draußen viele Menschen, die das nicht können.

H. P.: Ich sehe da einen großen Auftrag für die Bildungspolitik, denn jede Bürger*in hat das Recht, die Digitalisierung zu verstehen. Man muss den Menschen in diesem Bereich Kenntnisse und Orientierung ermöglichen, damit sie auch teilhaben und sich ihrer politischen, bürgerlichen Verantwortung bewusstwerden können.

G. S.: Wir müssen auch sehen, dass wir diesen weltweiten, internationalen Trend der Digitalisierung nicht aufhalten können, so realistisch müssen wir sein. Aber man sollte darauf achten, dass gerade in den Bildungsprozessen viele analoge, soziale Phasen integriert werden. Nicht alles ist durch Videokonferenzen ersetzbar. Die Sozialdemokratie muss dabei fördern und unterstützen, nämlich in dem Sinne, dass jedem Kind, unabhängig von der Herkunft, der Zugang zu Hardware und Software ermöglicht wird. Außerdem müssen Fördermaßnahmen angeboten werden. Eine große Aufgabe der Volkshochschulen wäre analog dazu die Erwachsenenbildung in diesem Bereich. Hier brauchen wir Angebote, mithilfe derer sich auch Menschen im fortgeschrittenen Alter mit diesen Technologien vertraut machen und am Puls der Zeit bleiben können. Und – das wäre quasi der dritte Punkt – es muss parallel dazu durch Serviceeinrichtungen sichergestellt werden, dass sich auch das Segment der Menschen, das mit diesen Dingen nicht vertraut ist, einen Kontoauszug oder Ähnliches organisieren kann. Es muss eben ein großes Thema der Sozialdemokratie bleiben, für wen wir eigentlich da sind – und das nicht Top-Down, sondern auf Augenhöhe. Im Bereich Digitalisierung sehe ich viele Chancen, aber nicht alle Chancen müssen zwingend ergriffen werden. Es geht auch hier darum, unseren alten Auftrag der sozialen Gerechtigkeit hochzuhalten.

A. B.: Dabei stellt sich die Frage, wie wir zu den Menschen zurückkommen, für die wir da sein wollen. Um diese Menschen hat sich nämlich ab 1986, als der „Bärentaler“ [Anm.: Jörg Haider] die FPÖ übernommen hat, der Rechtspopulismus konstituiert. Und de facto fehlt uns, um das politische System Österreichs in der Mitte zu halten, so etwas wie ein Linkspopulismus in dem Sinne, dass man auf die „einfachen Leute“ zugeht und das Prinzip der Volkssouveränität wieder ausspielt. Hätte es nicht bessere Strategien geben müssen, die rechtspopulistisch/faschistische und austrofaschistische Allianz zu brechen?

G. S.: Das ist ein Thema für eine Habilitation, falls das überhaupt machbar wäre… [lacht] … Es gibt viele Erklärungsmuster für die jetzige Situation. Zurzeit sehe ich nicht nur in Österreich eine tiefe Spaltung der Gesellschaft. Wahlen zeigen uns in ganz Europa ein ähnliches Bild, und in parlamentarischen Demokratien sind diese Wahlen die Grundlage für den einzigen Faktor, der am Ende zählt: das Wahlergebnis. Der Souverän entscheidet darüber, welches Mandat Dir in der Politik zugewiesen wird, und was Du somit in der Politik machen kannst. Im Moment weist dieser Souverän der Sozialdemokratie eine eher bescheidene Rolle zu. Wo war aber der große Bruch?

Einen Erklärungsansatz dafür hat mir Martin Schulz geliefert. Er ist gelernter Buchhändler, der aus der Arbeiterschaft kommt; Buchhändler*innen und Buchdrucker*innen waren klassische Berufe innerhalb der alten Sozialdemokratie, quasi die Gebildeten der Arbeiter*innenbewegung oder kleinen Angestelltenschaft. Jedenfalls schilderte er Sektionsabende in deutschen Ortsorganisationen, wo er selbst Bürgermeister war, bei denen anfänglich die Bauarbeiter*innen neben den Spitalsmitarbeiter*innen und neben den Gärtner*innen saßen und es wurde diskutiert. Dann besuchten aber Intellektuelle mit höherer Bildung diese Sektionsabende, diskutierten über Adorno oder Habermas usw. – und plötzlich waren alle anderen aus dem Gespräch ausgeschlossen. Die Arbeiter*innen und Angestellten sind noch ein paar Mal gekommen und wurden nie wieder gesehen. Das ist eine vielleicht sehr einfache Erklärung.

Ein kurzer Sprung zurück zur österreichischen Situation in den 1960er-Jahren stützt diese Erklärung: Bruno Kreisky ist 1967 Parteivorsitzender geworden, interessanterweise gegen die große Mehrheit der Wiener SPÖ, die damals ein konservatives Geflecht war. Josef Hindels hat immer gesagt, es gibt auf der ganzen Welt vier konservative Zentren: den Vatikan, den Kreml, die ÖGB-Zentrale und die SPÖ Wien. Kreisky musste sich also mit Hilfe der Bundesländer durchsetzen. Er wusste genau, dass sich die Gesellschaft in den 1960er-Jahren international in einem Umbruch befand. Die Nachkriegsgeneration hat gesagt: Es ist zum Wiederaufbau genug getan worden, es geht jetzt nicht nur um Wirtschaftswachstum, wir wollen ausbrechen, wir wollen freie Kultur, freies Leben, freie Musik, nicht mehr reglementiert sein – die Gesellschaft stand im Einfluss der Hippie-Bewegung, Woodstock usw.

Das hat dazu geführt, dass Kreisky, um die Partei öffnen zu können, auch zunehmend Intellektuelle in die Partei geholt hat. Und dafür musste er die Fenster aufmachen und ordentlich durchlüften. Ich erinnere zum Beispiel nur an diese Situation: Einer der damals aufmüpfigsten Künstler war Friedensreich Hundertwasser, der splitternackt vor der damaligen Kulturstadträtin einen Kunstpreis als Zeichen des Protests zerrissen hat. Ganz Österreich war in Aufruhr – der Bundeskanzler geht aber her, kauft sich ein Bild von Hundertwasser und hängt es ein paar Tage später ins Bundeskanzleramt. Das war typisch. So hat Kreisky einen ganzen Schweif von Intellektuellen aus dem universitären Bereich und aus der 68er-Bewegung in die Partei geholt: Künstler*innen, Intellektuelle, Medienleute …

Auch innerparteilich führte das natürlich zu einem Widerhall. Es gab Gruppen, vor allem im VSStÖ, die plötzlich mit neuen Themen und Inhalten kamen. So hat etwa Michael Häupl als junger Mann das Ökologiethema in die SPÖ hineingetragen. Plötzlich waren da junge, gescheite, gebildete Menschen mit vielen neuen guten und weitreichenden Ideen. Und diese Menschen haben dann innerhalb der SPÖ in den 1970er- und 1980er-Jahren ihren Aufschwung erlebt und in den folgenden Jahrzehnten höchste Funktionen bekleidet. Ohne diesen intellektuellen Schub gäbe es keine Fristenlösung und in der Bildungspolitik wären viele Schritte nicht gesetzt worden. Und im Prinzip setzten sie auch diesen Weg der spannenden, modernen Themen fort. Aber dann kamen wir in den 1990er-Jahren an einen Punkt, an dem es der SPÖ nicht ausreichend gelungen ist, eine Brücke zwischen dieser intellektuellen Kraft der SPÖ und den Menschen zu bilden. Diese Brücke hätte immer der ÖGB bzw. die FSG sein sollen, doch gerade die Gewerkschaftsbewegung erlebte in dieser Zeit viele Krisen; es gab zahlreiche strukturelle Veränderungen, die verstaatlichte Industrie wurde teilweise privatisiert u. Ä. Die FSG in der VOEST war eine Macht im Staat – der Betriebsratschef dort war eigentlich mächtiger als der Kanzler. Das waren mächtige Arbeiter*innenführer in den verstaatlichten Industrien und Werken. Und das hat es nicht mehr gegeben.

Das heißt: Es gab eine soziologische Veränderung in der Struktur der Wähler*innen und es gab eine intellektuelle, wenn man so will, „Urbanisierung“ in der Partei. Und es ist uns nicht gelungen, die Brücke zu den Menschen zu schlagen. Kreisky hat z. B. klar erkannt, dass es Aufgabe der SPÖ sein muss, den Menschen ihre Ängste zu nehmen – wenn ihr das gelingt, ist sie erfolgreich, wenn nicht, dann nicht. Rund um den EU-Beitritt gab es eine bemerkenswerte Situation in diesem Zusammenhang: Die Partei, die historisch am stärksten für den Beitritt plädierte, die FPÖ, zog sich plötzlich zurück, wendete um 180 Grad und war aus rein populistischen Motiven plötzlich der schärfste Gegner eines EU-Beitritts. Ein Drittel der Österreicher*innen stand der EU skeptisch gegenüber und dieses Drittel sollte abgeholt werden. Dann begann die rechtspopulistische Zeit des Jörg Haider, der mit einfachen Antworten gekommen ist, mit ganz einfachen Botschaften. Außerdem griff er die Sozialdemokratie dort an, wo sie am stärksten war: im Gemeindebau.

Und nach einem zögerlichen Start waren sie dort auch schnell erfolgreich. Mein alter Freund, Rudi Gelbard, der im KZ war und im Leben furchtbares mitgemacht hat, einer der klügsten und belesensten Menschen, die ich kannte, hat mir dazu das Buch von Joseph Goebbels von 1926, Der Kampf um Berlin, nahegelegt – ein Buch aus einer Zeit, zu der die NSDAP in Deutschland noch Wahlen schlagen musste. Darin findet sich eine propagandistische Anleitung an die Sturmscharen und an alle Nazi-Aktivist*innen, wie sie im Wedding, dem großen Arbeiter*innenviertel in Berlin, vorzugehen haben, um dort Fuß fassen zu können. Das beinhaltet folgende Schritte: Man geht mit den modernsten Methoden dorthin, das war damals der Lautsprecherwagen. Man greift den politischen Gegner an, egal ob es stimmt oder nicht – angreifen muss man. Und zwar dort, wo er am stärksten ist: Nicht in Neubau oder Mariahilf, sondern in Floridsdorf, in Simmering, in Favoriten, in der Donaustadt – das ist der entscheidende Punkt. Und Haider hat im Wesentlichen dieses Konzept übernommen. Wir hatten keine entsprechenden Antworten. Das hat dazu geführt, wie Bernhard Heinzlmaier und andere Meinungsforscher*innen mit ihren Sinus-Milieustudien seit Jahren zeigen, dass die SPÖ eigentlich primär eine Partei der urbanen Oberschichten geworden ist, unter Berücksichtigung dessen, dass die traditionelle Gruppe der Wähler*innen noch existiert, sozialwissenschaftlich erkennbar, aber schrumpfend ist. Für Wien errechnete Heinzlmaier, dass die SPÖ am ehesten das oberste Drittel der Bevölkerung anspricht, bezogen auf Bildung und Einkommen. Natürlich gibt es „nach unten hin“ noch die Reste der alten Strukturen, aber wir haben die Brücke dorthin verloren.

Und jetzt komme ich zu dem Punkt, den Du angesprochen hast: Man muss selbstverständlich ganz offen für jene Menschen eintreten, die unsere Hilfe brauchen. Als ich Bundesgeschäftsführer war, bin ich auch viel in Österreich herumgekommen, und wenn ich in Hietzing, meinem politischen Heimatbezirk, mit den Menschen gesprochen habe, war das immer anders, als wenn ich mit jemandem in Simmering gesprochen habe. Weil mir bei der U3-Station im Zentrum Simmering die Leute schon gesagt haben, mir ist das wurscht, was ihr da redet, ich will im Kühlschrank etwas drinnen haben. Und das ist der entscheidende Punkt. Deshalb habe ich auch – was den sozialpolitischen Bereich im Burgenland betrifft – meinen Respekt. Das Burgenland geht da einen vorbildlichen Weg! Die Frage des Mindestlohns vertritt die Bundesparteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner auch, das ist sinnvoll, denn wir müssen in die Kaufkraft gehen. Auch den Corona-Tausender, den Rendi-Wagner vorgeschlagen hat, halte ich für eine gute Idee. Generell sollten punktuelle Zuwendungen, wo sie notwendig sind, auch gewährt werden. Wir müssen für die Menschen im Gemeindebau da sein, für alle. Und gerade für die, die uns am notwendigsten brauchen, für die müssen wir am stärksten da sein.

H. P.: Weil du den Mindestlohn angesprochen hast: Es ist auch eine Überlegung wert, ihn mit der Bildungspolitik zu verschränken: Menschen bekommen einen Mindestlohn, es gibt Arbeitszeitverkürzung und für die restliche Zeit soll es auch Weiterbildung für alle geben. Das wäre eine große Bereicherung im geistigen Bereich …

G. S.: In Österreich sind wir da ein wenig restriktiver, aber in Schweden gibt es z. B. keine Grenzen bei der Förderung von Erwachsenenbildung. Man kann dort auch noch mit 60 eine Förderung für eine Umschulung und Ähnliches bekommen. Aber in unserer Denkwelt hat die Bildungslandschaft oft mit dem Ende der Universität aufgehört. Es geht um Volksbildung, dort können die Omas noch irgendeinen Spanisch-Kurs machen, für die Opas ein Funkkurs, damit sie mit der Karibik oder Asien in Verbindung sind … Das ist zwar alles in Ordnung, aber wir leben heute in einer Zeit, wo ein junger Mensch, wenn er ins Bildungssystem oder vor allem ins Berufsleben einsteigt, wissen muss, dass er im Laufe seines Lebens seinen Beruf drei, vier, fünf Mal grundlegend verändern wird müssen. Und das nicht nur in ähnlichen Berufen.

A. B.: Wir haben einen schönen Bogen von prinzipiell bildungspolitischen Fragen über die Geschichte der ZUKUNFT hin zur politischen Geschichte der letzten 30 Jahre und dem damit verbundenen Problem der „einfachen Leute“ gezogen. Wenden wir nun unseren Blick in die Zukunft: Was ist für Dich die Zukunft der ZUKUNFT, welche Rolle oder unterstützende Möglichkeit würdest Du Dir von unserer progressiven Diskussionszeitschrift wünschen?

G. S.: Ich würde mir für die Zukunft der Zeitschrift ZUKUNFT wünschen, dass alle Bildungsfunktionär*innen in Österreich (und derer gibt es viele) diese Zeitung in Händen halten und dass jede Bezirksparteiorganisation mehrere Abonnements abschließt. Das sollte eigentlich zu einer Selbstverständlichkeit werden. Abgesehen davon, dass ihr jetzt wieder eine tolle Zeitung macht, ist es auch wunderbar, dass die ZUKUNFT Diskussionsveranstaltungen organisiert, bei denen ein Programm geboten wird, das über den üblichen Tellerrand der Partei hinausreicht.

A. B.: Abschließend würde ich gerne wissen: Wo siehst Du jetzt die Zukunft unserer Bewegung, wo siehst du die Zukunft der SPÖ?

G. S.: Das ist eine sehr schöne Frage, die aber fast die Parteivorsitzende im Rahmen ihres Referats am Parteitag lösen müsste. Ich bin ein Kind der Kreisky-Zeit und nicht nur das, ich habe über Kreisky dissertiert. Und es gelten dieselben Grundsätze, die Kreisky in seinem politischen Testament formuliert hat, auch wenn heute einiges moderner, angepasster ist, die Kultur sich verändert hat oder methodische Adaptionen notwendig sind: Wir leben in einer Zeit, in der die sozialen Ungleichheiten unverhältnismäßig größer werden. Wenn man das Volksvermögen als Torte betrachtet, ist eine deutliche Zunahme des Finanzkapitals sichtbar, das schon jetzt bei 70 % Anteil am gesamten Volksvermögen liegt. Nur wenige Prozentpunkte gehen an die privaten Haushalte. Und wenn man die obersten Zehntausend abzieht, bleiben dann nur mehr die Bröseln der Torte übrig. Erfahrungsgemäß müssen diese Brösel aber die Torte finanzieren! Und das ist ein Spiel, das die Sozialdemokratie nicht akzeptieren kann. Was ich jetzt sage, ist im Moment in der Sozialdemokratie überhaupt nicht populär. Kreisky hat gesagt, und da gebe ich ihm zu tausend Prozent recht: Wenn es der Sozialdemokratie nicht gelingt, die Klassen in Frage zu stellen, dann wird sie scheitern. Und heute ist es schon verpönt, das Wort „Klasse“ in den Mund zu nehmen. Natürlich verändern sich die Klassen, tragen immer ein anderes „Gewand“, sind immer unterschiedlich – Kreisky sagt auch, dass man das erkennen muss. Dennoch müssen wir die Klassen immer wieder in Frage stellen und bekämpfen …

H. P. und A. B.: Lieber Gerhard, wir danken Dir für dieses Gespräch.

Der ehemalige SPÖ-Bundesgeschäftsführer GERHARD SCHMID ist aktuell u. a. Bezirksparteivorsitzender in Hietzing, Bundesbildungsvorsitzender der SPÖ sowie Mitglied des Wiener Gemeinderates und Landtags. Schmid ist Autor zahlreicher Publikationen und unterrichtet regelmäßig an der Universität Wien.

HEMMA PRAINSACK ist Redakteurin der ZUKUNFT, war im Produktionsbetrieb beim Österreichischen Rundfunk sowie am Theater im Bereich Regie sowie Videogestaltung tätig und arbeitete in der Generaldirektion des ORF. Der Forschungsschwerpunkt ihres Doktorstudiums auf dem Gebiet der Filmgeschichte liegt im Umbruch zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus.

ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der ZUKUNFT, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/