Zwischen Zoom und Elend! – von Benjamin Enzmann

Auch der Beitrag von BENJAMIN ENZMANN untersucht rückblickend die einschneidenden Ereignisse des Jahres 2020 und betont, dass die österreichische Linke nur dann eine Chance hat, wenn sie sich im Blick auf die ZUKUNFT organisiert.

1. Einleitung

2020 – Ein Jahr der „neuen Normalität“. Zurückblickend scheint die Welt, welche noch frei von der Pandemie war, sehr fern … eine für viele Menschen entrückte Vergangenheit, ein Ort, der nur zu gut seine Abgründe verbergen konnte. Als ab März 2020 unser gewohntes Leben unterbrochen und angehalten wurde, begannen bereits Diskussionen über die politischen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie. Ein nationaler Schulterschluss? Das Ende unserer Art Politik zu gestalten? Der endgültige Zusammenbruch des neoliberalen Wirtschaftssystems? Diese Liste ließe sich ins Endlose weiterführen.

Die anfängliche Hoffnung auf eine sich neuformierende Solidargemeinschaft scheint angesichts der derzeitigen Situation geradezu absurd, auch eine Abkehr von reinem Profitdenken oder gar einem lauten Ruf nach einer wirtschaftlichen Neuordnung sind nur noch weiter in die Ferne gerückt. Dabei wäre gerade ein kollektives Erinnerungsgeschehen und das Sichtbarwerden der sozialen und wirtschaftlich weit auseinandergehenden Schere doch Nährboden für einen gemeinsamen, progressiven Veränderungswillen.

2. Die Sehepunkte des Chladenius und das Jahr 2020

Eine Antwort auf das Nichtentstehen einer neuen Gesellschaftsbewegung, die solidarisch, sozialistisch und kulturell geprägt ist, könnte die Geschichtstheorie von Johann Martin Chladenius (1710–1759) bieten. In seinem Werk Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften postuliert er die Idee der „Sehepunkte“. Ein geschichtliches Ereignis wird durch die Rezipient*innen immer aus einem subjektiven Sehepunkt wahrgenommen. Dieser darf aber nicht als rein topografischer Punkt verstanden werden, sondern vielmehr als eine Darstellung seines aktuellen sozialen „Seins“. Das Ideal stellt dabei die „unparteiische“ bzw. „wahre Erzählung“ dar, eine Darstellung „der Sache“, die auf vorsätzliche Verdrehung bzw. Verdunkelung verzichtet. Für eine solche Erzählung müssen alle Quellen berücksichtigt werden und diese „auch so geordnet und verbunden sein, dass nicht durch die Zusammenfügung irrige Vorstellungen veranlasst werden“.

Mit diesem Ansatz blicken wir nun auf die Welt und Österreich im vergangen Jahr 2020 zurück. Dehnen wir hierfür die Sehepunkte auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und politischen Gruppierungen aus. Wir alle mögen zwar von der Pandemie betroffen sein, doch die Rezeption der Ereignisse ist eine komplett andere.

3. Sehepunkt: Wahl(en) und Black Lives Matters

Den ersten Sehepunkt bietet das weltweite Superwahljahr 2020. Neben der für uns so wichtigen Wien-Wahl, tobt(e) ein verbissener Kampf um das Weiße Haus. Gleichzeitig bildeten sich enorme gesellschaftliche Dynamiken, der von den USA ausgehenden, mittlerweile weltweiten Black-Lives-Matters-Bewegung (BLM) stehen die rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Bewegungen gegen die Pandemie-Politik gegenüber.

Welche Wichtigkeit die BLM-Bewegung als Kampfansage an den institutionalisierten Rassismus gegenüber People of Colour auch in Österreich hat, zeigte die große BLM-Demonstration in Wien im Juni 2020. Eine der Hauptorganisatorinnen war Mireille Ngosso, der im Herbst der sensationelle Einzug in den Wiener Landtag und Gemeinderat gelingen sollte. Diese Demonstration trotz Pandemie, wurde vor allem auch von jungen Leuten unterstützt und brachte mehr als 50.000 Menschen auf die Straße. Doch nach dem zivilgesellschaftlichen, solidarischen Aufschrei und Aufzeigen der Lebensrealitäten von People of Colour entstand der Eindruck – der Sehepunkt – der politischen Linken, dass die Arbeit getan und die moralische Pflicht erfüllt sei. Eine Momentaufnahme ersetzt leider kein permanentes, geschlossenes Auftreten gegen Polizeigewalt und staatliche Willkür.

4. Sehepunkt: Die Bürgerlichen und die Rechtsextremen

Auf der anderen Seite zeigen sich wiederum erschreckende Tendenzen im bürgerlichen Lager: Die Pandemie und ihre Folgen dienen als neues Zugpferd für rechtsextreme Gruppierungen, Parteien und Regierungen. Gerade in Österreich erleben wir, wie die FPÖ sich als „impfkritische“ und „meinungsschützende“ Bürger*innenbewegung eine neue Daseinsberechtigung schafft. Dem gegenüber findet sich eine türkise Kurz-Partei, welche ihren brutalen neoliberalen Kurs mit grünem Antlitz fortsetzt, damit weiterhin bewusst die Gesellschaft spaltet und einzig auf die eigene Klientel konzentriert ist. Die Umfragen bestätigen bedauerlicherweise diesen Kurs noch.

Nach der Theorie der Sehepunkte wirkt dies nicht unlogisch: Viele, die dem Kurz-Zug seit 2017 folgen, fühlen sich noch abgeholt von den PR-Strateg*innen der Volkspartei und sehen in ihrem momentanen Habitus auch keine Alternative. Noch wandern nur wenige wieder in das rechtsesoterische Lager der FPÖ ab. Doch die Zeit wird hier dem Sehepunkt der FPÖ in die Hände spielen. Die enttäuschten Wähler*innen bekommen eine neuaufgesetzte Sündenpolitik, wo neben antisemitischen Soros-Parolen und Xenophobie nun auch rechtsesoterisches Gedankengut prominent präsentiert wird. Dieser gefährliche Mix, es fällt schwer all diese Verirrungen als einheitliche Ideologie zu fassen, ist momentan der gordische Knoten der Linken in Österreich.

5. Sehepunkt: Die Sozialdemokratie, die Linke und der Sozialismus

Denn aus dem sozialdemokratischen Sehepunkt heraus ist wenig Erfreuliches passiert. Zwar konnte die Wien-Wahl mit einem grandiosen Ergebnis gewonnen werden, doch täuscht dieser Sieg über den momentanen Zustand der Partei hinweg. Wie die Rechten sich wieder zu sammeln beginnen, so uneins steht die Linke da. Einerseits erwacht die Sozialdemokratie nicht aus Ihrem Schlaf und andererseits gelingt es nicht, die zersplitterte Linke zu einen. Die Pandemie ist/wäre auch die Möglichkeit für einen Neubeginn der sozialistischen Bewegung im Land. Durch Lockdowns und dem vorläufigen Ende unseres bekannten Konsumlebens wäre die Zeit überreif für eine Diskussion zu alternativen Wirtschaftssystemen und Ihrer Umsetzung.

Doch weder die Sozialdemokratie noch die Linke schaffen es, eine notwendige Systemkritik nachhaltig in die Gesellschaft zu tragen. Der sozialdemokratische Sehepunkt wird dadurch von immer weniger Menschen in diesem Land geteilt. Beispielhaft hierfür sind die Kampagnen der Bundes-SPÖ zu den Corona-Hilfen, welche in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurden. Obwohl mit Pamela Rendi-Wagner eine fundierte Fachmedizinerin an der Spitze steht, konnte die Partei im Diskurs zur Pandemie-Politik kaum Akzente setzen. Es wird eine der entscheidenden Fragen des Jahres 2021 werden: Quo vadis, SPÖ?

6. Sehepunkt: There is an alternative … (after the crisis)

Der nun beginnende Verteilungskampf wird nicht nur Österreich erschüttern, sondern auch weltweit das Elend und die Ungerechtigkeit manifestieren. Dagegen aufzutreten und deutliche politische Alternativen zu formulieren, wird die essenzielle Aufgabe der Linken sein. Dabei wird Vieles darauf ankommen, ob eine gesellschaftspolitische Alternative zu unserem Konsumdasein entworfen werden kann.

Ist die Zeit der gesundheitlichen Krise erst vorbei, wird die der wirtschaftlichen und sozialen erst wirklich beginnen. Die Impfung wird uns nicht die Welt von früher zurückbringen, sondern wir werden in der harten Realität des „neuen“ Neoliberalismus und/als Neofeudalismus landen. Und es wird angesichts lokaler und globaler Macht- und Ressourcenkämpfe notwendiger denn je sein, gemeinsam für eine „neue Zeit“ kämpfen.

7. Conclusio

Die hier in den Raum gestellten Sehepunkte nach Chladenius können uns hier als Werkzeug zum Verständnis von rechten Wähler*innen dienen und helfen, damit ein neues linkes Gesellschaftsnarrativ zu schaffen. Die anfangs erwähnte „wahre Erzählung“ lässt sich nur transportieren, wenn sie verständlich die Widersprüche der breit gestreuten verdrehenden, aus Herrscherperspektive gelieferten Erzählungen aufzeigt und die verwirrenden rechtsesoterischen Erzählungen als solche entlarvt. Die verschwörungstheoretischen Fragen finden in den sozialen Medien nur Antworten in Form von wirren meist rechtsextremen Narrativen. Dem müssen die wirklichen Fragen und Antworten unserer Zeit entschieden entgegengehalten werden. Dieser Text stellt insofern eine Einladung dar, sich mit Chladenius’ Konzept der Sehepunkte näher auseinanderzusetzen, um andere Lebensrealitäten besser verstehen zu können. Denn es muss endlich ein Schlüssel gefunden werden, der einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs im Rahmen einer demokratischen Öffentlichkeit ermöglicht.

In diesem Sinne ein Vorsatz für 2021: Organisiert Euch!

BENJAMIN ENZMANN ist Student der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, Funktionär der SPÖ Wien und in der SPÖ Döbling aktiv.

Literatur

Chladenius, Johann Martin (1969): Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer, Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen.

Griesebner, Andrea (2019): Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien: Löcker.