Gerechtigkeit durch Medienkompetenz – von Christian Swertz

Angesichts des Themas dieser Ausgabe der ZUKUNFT untersucht der Medienpädagoge Christian Swertz Rolle und Funktion der Medienkompetenzvermittlung sowie der Digitalen Grundbildung, blickt dabei auf den Bereich der Sozialpartnerschaft und wirft ethische Fragen nach der Gerechtigkeit auf.

1. Einleitung

Von Fake News ist die Rede, von Hasspostings oder von Grooming. Was nicht viel besser ist als Computerviren, mit denen wir schon bedroht werden, bevor wir den ersten Shitstorm gesehen und die neuesten Phishing Mails gelöscht haben. Und denen gleich die Datenkraken folgen, die uns ungebeten in einer Filterblase versenken.

Man kann sich schon fragen, warum man etwas so Gefährliches wie Computer überhaupt aufdrehen sollte. Überwiegt nicht der zu erwartende Schaden den möglichen Nutzen? In vielen Fällen sieht das so aus. Und wenn das so ist, ist es wohl besser, bei Radio und Fernsehen zu bleiben. Oder, wenn man sich daran erinnert, als wie gefährlich Radio und Fernsehen noch vor wenigen Jahren galten (Manipulation!), gleich bei den Zeitungen.

2. Die Internetapokalypse

Aber leider waren und sind auch Zeitungen nicht unproblematisch. Gibt es doch in Österreich fast nur kommerzielle Zeitungen, denen man zwar glauben kann, dass alles für die Maximierung des Gewinns durch eine Steigerung der Auflage getan wird – sonst aber nicht viel. Dass in Zeitungen viel über die Gefahren des Internets zu lesen ist und wenig über die Gefahren von Zeitungen, ist jedenfalls wenig überraschend, denn schlecht für das Geschäft von Zeitungen sind die Angebote im Internet allemal. Und schlecht ist das Internet auch für das Geschäft von Fernsehsendern, was neben der „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“-Logik, mit der Auflage und Einschaltquote gesteigert werden, eine entsprechende Berichterstattung über das Internet motiviert.

Interessanterweise wird der Internetapokalypse in Zeitungen, Radio und Fernsehen eine glänzende Zukunft gegenübergestellt: Roboter, die lästige Arbeiten übernehmen, Computer, die in schwierigen Situationen zuverlässig logisch richtige Entscheidungen treffen, und intelligente Systeme, die unseren Wünschen entsprechen, kaum dass wir sie empfunden haben. Eine wundervolle Welt ist es, auf die wir da zusteuern, eine Welt, in der es nur glückliche und zufriedene Menschen gibt, in der wir alle von Leid und Neid erlöst sind. Das passt nicht zusammen. Apokalypse und Erlösung gleichzeitig klingt zwar nach interessanter Fantasy, aber Sinn macht das nicht.

3. Die Vermittlung von Medienkompetenz

An dieser Stelle wird Medienkompetenz relevant. Denn dass Menschen Erzählungen von Apokalypse und Erlösung als Erzählungen erkennen, Sinn und Absicht der Erzählungen verstehen und die dabei gewonnene Erkenntnis in kreativer Gestaltung weiter entwickeln können – das ist ein Ziel der Medienkompetenzvermittlung.

Der erste Teil, das Vermögen, über solche Erzählungen nachdenken zu können, steht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung. Denn jeder Mensch, der sprechen kann (was etwa Gebärdensprache einschließt), kann sagen, dass er sprechen kann. Wer über das Sprechen spricht, denkt schon über Sprache nach. Dass alle Menschen nicht nur in dieser Hinsicht gleich sind, motiviert nicht nur die politische Forderung nach Gerechtigkeit, sondern ist auch eine wissenschaftliche Grundlage der Vermittlung von Medienkompetenz. In der Medienkompetenzvermittlung lernen Menschen Werkzeuge zum Nachdenken über Medien kennen, und sie lernen, mit den Werkzeugen umzugehen.

Wenn man mit Werkzeugen umgehen kann, dann kann man damit auch etwas produzieren, etwas bauen, und das entweder nach Plan oder kreativ und frei, indem man sich selbst etwas ausdenkt. Etwas produzieren zu können ist ein zweiter Teil der Medienkompetenzvermittlung. Es geht darum, Medien als Werkzeuge produktiv und kreativ zu benutzen, um Werte zu schaffen. Aus pädagogischer Sicht geht es dabei vor allem darum, dass Menschen sich selbst als wertvoll erschaffen und erleben. Über diese Werte, über dieses Vermögen zu verfügen, das zeichnet Menschen aus, die Medienbildung haben.

Nun braucht es nicht unbedingt neue Werkzeuge, um über etwas Neues nachzudenken und es zu analysieren. Auch Bewährtes kann seinen Zweck erfüllen. Wenn etwa das Internet ein Werk des Teufels ist und durch Computer zugleich die Erlösung im Himmelsreich versprochen wird, dann werden seit vielen Jahrhunderten bewährte Werkzeuge verwendet: Die Drohung mit dem Teufel und das Versprechen zukünftiger Erlösung ist keine Erfindung der Wissensgesellschaft, sondern ein gut etabliertes Werkzeug, mit dem Macht ausgeübt werden kann.

4. Macht, Gehorsam und Solidarität

Um also mit diesem Werkzeug Macht auszuüben, braucht es noch einen Teil der Erzählung (die einem 3-Akt-Modell folgt, das zu kennen ebenfalls Teil der Medienkompetenz ist): Der zweite Akt besteht aus Gehorsam und Fleiß. Vorhang auf:

  1. Akt: Die Welt ist bedrohlich.
  2. Akt: Du bist gehorsam, fleißig und folgst dem Wort deines Herren.
  3. Akt: Du wirst erlöst werden.

Digitaler gesprochen: Das Internet ist gefährlich, aber nütze fleißig Virenscanner und Firewalls und verwende das Internet gehorsamst für nützliche Dinge – und Du wirst eine glänzende Zukunft erleben. Dass zu den nützlichen Dingen gehört, fleißig online zu arbeiten, versteht sich dabei von selbst. Darüber weiter nachzudenken und es zu analysieren, ist mit einem anderen bewährten Werkzeug möglich. Denn wenn Menschen fleißig online arbeiten, schaffen sie Werte. Zu verhindern, dass Menschen Werte, die sie schaffen, für sich selbst nutzen, und diese Werte abzugreifen, um Gewinne zu erzielen, ist kein ganz neues Mittel der Machtausübung. Um Gewinne zu erzielen, muss bekannterweise der Mehrwert, der bei der Arbeit erzeugt wird, abgeschöpft werden.

Darauf beruht nicht nur das Geschäftsmodell von Industrieunternehmen, sondern auch das von Techkonzernen. Facebook ist ein wunderbares Beispiel dafür: Menschen, die Facebook benutzen, produzieren Inhalte und Daten. Daraus wird dann personalisierte Werbung als ein Produkt, das sich ausgezeichnet verkaufen lässt. Die arbeitenden Menschen erhalten dafür allenfalls einen minimalen Lohn in Form von weitgehend wertlosen Sachleistungen und unentgeltlich produzierten Inhalten. Das solche Ausbeutung hohe Gewinne ermöglicht, ist nicht überraschend.

Damit solche Ausbeutung nicht zu Widerstand führt, muss, um noch ein drittes Werkzeug ins Spiel zu bringen, eine Solidarisierung der ausgebeuteten Menschen verhindert werden. Solidarität setzt voraus, dass ich weiß, dass es viele andere Menschen gibt, die genauso ungerecht behandelt werden wie ich – und zwar über Berufe und Nationen hinweg. Genau das wird mit Filterblasen verhindert. Denn die sorgen dafür, dass ich nur einen kleinen Teil der Menschen wahrnehmen kann, und das auch noch in eng begrenzten Gruppen. Wenn es dann gelingt, dafür zu sorgen, dass diese Gruppen gegeneinander kämpfen, dann ist die Vermutung, dass hier das Werkzeug „Teile und Herrsche“ seitens des Kapitals als Mittel im Klassenkampf verwendet wird, durchaus naheliegend.

Das Beispiel veranschaulicht, was mit der Analyse problematischer gesellschaftlicher Prozesse im Medienkompetenzbegriff gemeint ist. Die Analyse problematischer gesellschaftlicher Prozesse ist der erste Teil der Medienkritik. Eine solche Analyse kann natürlich auch anders durchgeführt werden – Ausbeutung und Klassenkampf waren nur zwei Beispiele für Analysewerkzeuge. Fortschritt, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Ökologie oder Solidarität wären weitere Werkzeuge, mit denen digitale Medien analysiert werden können. Diese Werkzeuge, die wie ein Rollgabelschlüssel oftmals recht gut, aber nie genau passen, müssen in der Medienkompetenzvermittlung um präziser auf Medien bezogene Werkzeuge wie Genre, Ensemble, parasoziale Interaktion oder Raum- und Zeitmedien ergänzt werden.

5. Digitale Grundbildung und Sozialpartnerschaft

Nun geht es in der Medienkompetenzvermittlung nicht nur um die Analyse. Die Analyse ist, wie das bei Analysen in der Regel der Fall ist, nur Mittel zum Zweck. Das Ziel der Medienkompetenzvermittlung ist der selbst gestaltete Umgang mit Medien, und zwar zunächst für sich selbst, aber auch im Blick auf die Öffentlichkeit. Ein Beispiel dafür ist ein Ziel, das im derzeit in Österreich gültigen Lehrplan der verbindlichen Übung Digitale Grundbildung genannt wird. Dort heißt es: Schülerinnen und Schüler können die gesellschaftliche Entwicklung durch die Teilnahme am öffentlichen Diskurs mitgestalten. Das sollte nicht nur für Schülerinnen und Schüler gelten, sondern für alle Menschen, die in einem demokratischen Staat leben.

Erinnert man sich daran, dass es mit digitalen Medien auch um die politische Diskussionskultur geht, ist schnell klar, dass mit den Digitalen Kompetenzen, die vom Joint Research Center der Europäischen Kommission entwickelt worden sind und die derzeit in Österreich vom Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsförderung forciert werden, eine andere Absicht verfolgt wird. Denn das Stichwort Demokratie findet sich dort ebenso wenig wie der Ausdruck Öffentlichkeit. Und auch die kreative Gestaltung von Medien ist auf Problemlösen bezogen, nicht aber auf die kreative Gestaltung über das bestehende Mediensystem hinaus, um die es mit dem Medienkompetenzbegriff geht. Ob ich aber nur Probleme lösen darf, die andere mir vorgegeben haben, oder mitentscheiden kann, ob ich diese Probleme lösen will, macht genau den Unterschied zwischen bloßer Gewinnmaximierung und kollegialer Mitbestimmung aus.

Beides ist allerdings kein Widerspruch; nicht zuletzt in Österreich, wo Sozialpartnerschaft kein Fremdwort ist. Daher besteht kein Anlass dazu, im Bildungsbereich einseitig zu werden. Wie das geht, zeigt wieder der Lehrplan Digitale Grundbildung, in dem Bedienkompetenzen im Umgang mit digitalen Medien neben Nutzungskompetenzen stehen, ohne dass deswegen die Analyse von Medien und die kreative Gestaltung ausgeschlossen würden. Und genau genommen sind kreative Ideen und ungewöhnliche, überraschende Vorschläge, die auf genauen Analysen und fundiertem Wissen und Können basieren, oftmals Grundlage für Gewinne, die allen zugutekommen. Die können aber nicht geplant, erzwungen oder vorhergesagt werden.

6. Schluss

Schwierig wird es daher, wenn durch die Einengung in den Digitalen Kompetenzen die Kreativität zu kurz kommt und die Demokratie gar nicht erst ignoriert wird. Denn damit wird der bestehende Kompromiss, der in der Sozialpartnerschaft zum Ausdruck kommt, aufgekündigt. Das macht es dann in der Tat nötig, bewährte Analysewerkzeuge zu aktualisieren. Das Ziel sollte allerdings nicht sein, in den Kampf zu ziehen, sondern gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Denn so schlecht, dass eine einseitige Instrumentalisierung eh schon wurscht wäre, ist das Bildungssystem in der Tat nicht.

CHRISTIAN SWERTZ ist Professor für Medienpädagogik am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien.