VERGLEICHEN, GLEICHSETZEN, VERKENNEN – ZUR KOLONIALEN UMDEUTUNG DES HOLOCAUST IM HISTORIKERSTREIT 2.0 VON STEFFEN KLÄVERS

In seinem Beitrag geht STEFFEN KLÄVERS der Frage nach, mit welchen Argumenten der Holocaust in aktuellen wissenschaftlichen und publizistischen Beiträgen in ein imperial-koloniales Framework eingereiht wird – und aus welchen Gründen das problematisch ist

I. Einleitung

Die fast zwei Jahre andauernde Debatte, die oftmals Historikerstreit 2.0 genannt wird, ist, auch wenn der Name anderes vermuten lässt, keine akademische Auseinandersetzung um geschichtswissenschaftliche Fragen. Vielmehr handelt es sich, wie auch bereits beim namensgebenden Historikerstreit 1.0 der 1980er-Jahre, um eine größtenteils geschichtspolitische Auseinandersetzung über die erinnerungskulturelle Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust.

Die Ausgangslage ist heute grob die folgende: Bereits seit vielen Jahren mehren sich in Deutschland Stimmen, die eine stärkere Auseinandersetzung mit der Geschichte des europäischen und speziell deutschen Kolonialismus einfordern. Zu lange sei diese ignoriert, trivialisiert und relativiert, als legitime Praxis verteidigt und verklärt worden. Dafür werden verschiedene Gründe ausgemacht: Die Kontinuität kolonialrassistischer Denkweisen beispielsweise, die sich im Bewusstsein vieler Menschen bewusst oder unbewusst dahingehend verwirklichen, dass das historische Unrecht des Kolonialismus nicht als solches erkannt werde. Oder ein eurozentrisches Denken, das alles, was sich außerhalb des Raums Europa befindet oder geschieht, nicht als relevanten Teil der Weltgeschichte anerkenne.

II. Von der Singularität des Holocaust

Zunächst ist dem kritischen Vorwurf, dass die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte in der öffentlichen Wahrnehmung und der Wissenschaft nur schleppend voranging und erst mit großem zeitlichem Abstand erfolgte, zuzustimmen. Auch die oben skizzierten zwei Gründe spielen sicherlich eine große Rolle für diesen Umstand. Jedoch wird auch häufig noch ein weiteres Argument genannt, das hier zu beanstanden sei: Die so genannte Singularität des Holocaust. Diese nämlich versperre den Blick darauf, dass es auch noch durchaus Verbrechen in der Menschheitsgeschichte gegeben habe, die mit derselben Aufmerksamkeit und Empörung wissenschaftlich und politisch aufgearbeitet und verurteilt gehörten.

Der Vorwurf an die Singularitätsthese, exkludierend gegenüber anderen Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu sein, wird verschiedentlich begründet: Zum einen sei die Kategorie der Singularität analytisch irreführend, zum anderen moralisch problematisch. Kein Ereignis könne genuin singulär sein – erstens, weil alle Ereignisse der Weltgeschichte auf ihre Weise singulär seien und zweitens, weil kein Ereignis so dermaßen aus der Weltgeschichte losgelöst sei, als dass man wirklich von einer Singularität sprechen könne. Drittens sei die Kategorie der Singularität zu verwerfen, weil sie automatisch eine Hierarchisierung vornehme: Es gebe also Ereignisse, die „singulär“ seien, und „alle anderen Ereignisse“, denen man dieses Prädikat nicht verleihen möchte und die daher in bestimmter Hinsicht „weniger relevant“ seien.

Viertens wird immer wieder moniert, dass die Behauptung, der Holocaust sei singulär, gleichzeitig bedeute, er sei nicht mit anderen Ereignissen vergleichbar. So wird konstatiert, dass einem Ereignis das Prädikat des Singulären zu verleihen, automatisch den Vergleich mit anderen Ereignissen „verbiete“ oder „tabuisiere“. Hier böte also die Kategorie der Singularität auch eine gewisse Komfortzone für die politische Debatte: Andere Ereignisse müssten als relevante Vergleichsgrößen gar nicht erst konsultiert werden, da ein singuläres Ereignis von vornherein den Vergleich obsolet mache.

Die Implikationen der Singularitätsthese des Holocaust in Bezug auf die Aufarbeitung des Kolonialismus wären also die Folgenden: Die politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf das Leid des Kolonialismus und seiner Kontinuitäten würden durch die Singularitätsthese des Holocaust eingeschränkt, denn die Singularitätsthese nehme eine moralische Hierarchisierung verschiedener Gewaltgeschichten vor. Dies führe in der Konsequenz dazu, dass begrenzte materielle und immaterielle Erinnerungs- und Aufarbeitungsressourcen der Politik und der Wissenschaft ungleichmäßig und ungerecht verteilt würden. Dabei gebe es kaum einen Grund, dem Holocaust das Prädikat des Singulären zuzusprechen, denn bei Betrachtung bspw. kolonialer Genozide zeige sich, dass es hier frappierende Ähnlichkeiten gebe und die Feindbildkonstruktion der „Juden“ im Nationalsozialismus sich nicht von der kolonial unterdrückter Völker unterscheide. Außerdem seien doch alle Ereignisse der Menschheitsgeschichte singulär in dem Sinne, dass sie bestimmte Besonderheiten aufwiesen und für sich genommen historisch einzigartig seien. Von einer wie auch immer gearteten Spezifik des Antisemitismus zu sprechen sei daher auch irreführend, denn der Antisemitismus sei auch ein Rassismus, nur eben gegen jüdische Menschen (weswegen man eigentlich von „antijüdischem Rassismus“ sprechen müsse). Auch wenn es in Teilen zutreffen möge, dass es singuläre Elemente im Holocaust gebe, sei er in die europäische Kolonialgeschichte einzuordnen. Und letztendlich gehe es in Bezug auf die Singularität des Holocaust doch vor allem auch darum, jedwede Kritik an der Politik des Staates Israel zu unterdrücken. Nicht umsonst würde jede Kritik an der Politik Israels automatisch mit dem Vorwurf des Antisemitismus sanktioniert. Dabei sei es doch gerade in Bezug auf die Kritik des Kolonialismus notwendig, ja geboten, Israel und den Zionismus als das zu erkennen, was sie seien: Eine Kontinuität des europäischen imperialen und rassistischen Siedlungskolonialismus, der die binäre Logik von weißen, westlichen Unterdrückern und nicht-weißen, nicht-westlichen Kolonisierten fortschreibe.

III. Dirk Moses und der „Katechismus der Deutschen“

Eine solche antirassistische, antiimperiale und antikoloniale Kritik an der Singularitätsthese des Holocaust hat kürzlich exemplarisch der Historiker Anthony Dirk Moses im Mai 2021 in seinem Aufsatz Der Katechismus der Deutschen formuliert (Moses 2021b). Dieser steht im Zentrum des so genannten Historikerstreits 2.0, ähnliche Fragen wurden bereits in der Diskussion um die Schriften des Politikwissenschaftlers und Philosophen Achille Mbembe im Jahr 2020 und anlässlich der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Michael Rothbergs Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization Anfang 2021 verhandelt. Retrospektiv kann Moses’ Beitrag aber als eigentlicher Schlüsseltext des Historikerstreits 2.0 verstanden werden, da er sämtliche zuvor debattierten Fragen anschaulich aufführt. In fünf Punkten illustriert er das, was er „fünf Überzeugungen“ des deutschen Katechismus nennt:

  1. Der Holocaust ist einzigartig, da er die uneingeschränkte „Vernichtung von Juden um deren Vernichtung willen“ [sic]. Im Unterschied zu den pragmatischen und begrenzten Zielen, um derentwillen andere Genozide unternommen wurden, versuchte hier ein Staat zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk ausschließlich aus ideologischen Gründen auszulöschen.
  2. Da er die zwischenmenschliche Solidarität beispiellos zerstörte, bildet die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch das moralische Fundament der deutschen Nation, oft gar der Europäischen Zivilisation.
  3. Deutschland trägt für die Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung und ist Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet: Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson unseres Landes.“
  4. Der Antisemitismus ist ein Vorurteil und Ideologem sui generis und er war ein spezifisch deutsches Phänomen. Er sollte nicht mit Rassismus verwechselt werden.
  5. Antizionismus ist Antisemitismus.

Dieser Katechismus werde von „Hohepriestern“ gepredigt, die Verstöße umgehend sanktionierten. Den Holocaust mit anderen Genoziden zu vergleichen, schreibt Moses gleich im zweiten Satz seines Textes, gelte Vielen als „Häresie, als Abfall vom rechten Glauben“. Es sei zu wünschen, dass der Katechismus abgeschafft würde, da er Ausdruck eines nicht mehr zeitgemäßen Provinzialismus sei.

Vieles an Moses’ Text erscheint mir problematisch und kritikwürdig, gleichwohl bestimmte seiner Diagnosen durchaus einen richtigen Kern treffen. Zum Beispiel ist Moses allererstem Satz, „Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch ist für viele das moralische Fundament der Bundesrepublik“, analytisch zuzustimmen. Man denke an das oftmals zitierte Schlagwort des „Erinnerungsweltmeisters“ Deutschland, dessen vorbildliche Aufarbeitung des Holocaust auch als Exportmodell durchaus zu überzeugen wisse. Ebenso häufig wird in diesem Kontext daran erinnert, dass der Historiker Eberhard Jäckel anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin am 10. Mai 2010 in seiner Rolle als Festredner sagte: „In anderen Ländern beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal. Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig waren. Das ist der Sinn des Denkmals, und das feiern wir“ (zit. nach Breuer 2014: 46). Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder erhoffte sich von dem Bau des Denkmals gar einen „Ort, an den man gerne geht“. Wer für Eike Geisels Diktum einer deutschen „Wiedergutwerdung“ ein Beispiel sucht, findet es hier eindrücklich (Geisel 1984).

Moses’ Kritik ist in dieser Hinsicht also durchaus zuzustimmen: Wo die Erinnerung an den Holocaust zur nationalen Selbstvergewisserung als moralisch geläuterter Nation dient, die mit diesem Modell auch anderen Nationen als Vorbild taugt, ist Kritik angebracht. Pauschale moralische Lehren aus Auschwitz zu ziehen, die unter einem allgemeinen „Nie wieder!“ allerlei Ungerechtigkeiten subsumiert, aber sich keinen Begriff vom Antisemitismus macht, trägt nicht unbedingt zum besseren Verständnis von Auschwitz und Antisemitismus bei. Ein zu weiter Fokus kann eben auch zur Unschärfe führen. Wo das Auschwitzgedenken zum staatstragenden und normativen Integrationsmerkmal wird, kann es darüber hinaus auch durchaus exkludierend wirken.

Erschwerend kommt hinzu, dass das Narrativ der weltmeisterlichen Wiedergutwerdung auch zu einer Ignoranz der Kolonialgeschichte beitragen kann. Warum sollte man, so könnte man dieses Narrativ dahingehend wiedergeben, denn noch der Kolonialgeschichte gedenken, wenn man doch bereits so vorbildlich an den Nationalsozialismus gedacht habe? Ein auf Auschwitz gegründetes moralisches Fundament braucht zumindest theoretisch kein zweites. Allerdings gibt es keinen vernünftigen Grund, warum das Gedenken an die Kolonialverbrechen der Deutschen – oder auch weitere Ereignisse – nicht auch Teil einer deutschen Staatsräson werden sollten. Freilich ist damit noch nichts darüber gesagt, ob Gedenkpolitik und Staatsräson überhaupt zusammengedacht werden sollten. Da Erinnerungspolitik aber nicht nur eine symbolische, sondern immer auch eine materielle Seite hat, könnten zumindest Reparationszahlungen durch derartige symbolische Akte möglicherweise beschleunigt werden. Moses weist in seinem Katechismus-Text daher zurecht mit Empörung darauf hin, dass diese in der Vergangenheit bereits bspw. von Ruprecht Polenz mit dem Argument abgewiesen wurden, dass die Kolonialgeschichte nicht mit dem Holocaust zu vergleichen sei.

IV. Vom Vergleichen und Gleichsetzen

Das Vergleichstabu, das von Polenz insinuiert wird, bedeutet hier eigentlich „Gleichsetzungstabu“. Es ist müßig, immer wieder darauf hinzuweisen, aber niemand hat jemals ein wissenschaftliches oder politisches Vergleichstabu aufgestellt, niemand würde jemals einen Vergleich als solchen sanktionieren. Mittlerweile kann man nach zwei Jahren intensivem Historikerstreit 2.0 fast von einer Binsenweisheit sprechen: Ein Vergleich ist natürlich keine Gleichsetzung, sondern eine notwendige wissenschaftliche Operation und alltägliche Praxis. Ein Vergleichstabu, das bspw. Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg in ihrem ZEIT-Essay Enttabuisiert den Vergleich im Jahr 2021 in Bezug auf den Vergleich von Holocaust und Kolonialgenozid behaupteten, erscheint dahingehend als Immunisierungsstrategie, die einer nüchternen Überprüfung der Sachlage nicht standhält (Zimmerer und Rothberg 2021). „Das Verbot jedes Vergleichs und In-Beziehung-Setzens führt zu einer Herauslösung der Shoah aus der Geschichte und hat weitreichende Folgen“, schreiben sie in dem Text, und darin ist ihnen nur zuzustimmen. Sie spielen damit auf den Umstand an, dass die Behauptung einer Holocaustsingularität den Vergleich verbiete – was bereits ein Missverständnis ist. Singularität im Sinne einer qualitativen Beispiellosigkeit oder Präzedenzlosigkeit kann selbstverständlich nur durch einen vorherigen Vergleich festgestellt werden – auch das sollte eigentlich mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden. Möglicherweise ist der Begriff der Singularität auch nicht besonders geeignet, um mit ihm den Holocaust zu beschreiben – zu sehr klingt er nach Unerklärbarkeit und Unwiederholbarkeit. Dabei ist der Holocaust weder unerklärbar noch unwiederholbar, sondern in diesem Sinne tatsächlich ein Ereignis wie jedes andere.

Dennoch: Es gibt das qualitativ Beispiellose, und es liegt, anders als Moses das postuliert, tatsächlich in der Spezifik der Ideologie des Antisemitismus. Auch wenn Moses die erste „Überzeugung“ des Katechismus als provinziell und abzuschaffen beschreibt, trifft sie in der Beschreibung genau den Kern dieser Beispiellosigkeit:

„Im Unterschied zu den pragmatischen und begrenzten Zielen, um derentwillen andere Genozide unternommen wurden, versuchte hier ein Staat zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk ausschließlich aus ideologischen Gründen auszulöschen.“

Moses lehnt diese Interpretation allerdings ab – und in seinem aktuellen Buch The Problems of Genocide, das auch im Katechismus-Text erwähnt wird, erklärt er ausführlich warum. Dort schreibt er, dass es zwei „Paradigmen“ gebe, um den Holocaust zu erklären: Einerseits das „Paradigma des Antisemitismus“, andererseits das „Paradigma des Imperialismus und des Kolonialismus“ (Moses 2021a: 279). Wenig überraschend ist Moses selbsterklärter Vertreter des imperial-kolonialen Paradigmas und lehnt das Antisemitismus-Paradigma zur Erklärung des Holocaust ab. Moses argumentiert, dass der Holocaust weniger aus der Tradition des Antisemitismus als vielmehr aus der Tradition von Imperialismus und Kolonialismus zu erklären sei – eine beeindruckende Betrachtungsweise, die er folgendermaßen erklärt:

„The Holocaust was less the ineluctable consequence of scientific racism or even a millennia [sic] of antisemitism than of frustrated and paranoid imperial elites lashing out at a perceived enemy that it thought was intent on destroying it – however outlandish that belief.“ (Moses 2021a: 379)

Dieser Abschnitt wirkt skurril, da „frustrated and paranoid […] lashing out against a perceived enemy that it thought was intent on destroying it“ eigentlich eine durchaus brauchbare Definition von Antisemitismus darstellt. Dennoch: Die Nazis verfolgten laut Moses insgesamt weniger einen „Erlösungsantisemitismus“ („redemptive antisemitism“, Saul Friedländer) als vielmehr einen „Erlösungsimperialismus“ („redemptive imperialism“, Dirk Moses), bei dem der Holocaust eine von mehreren Maßnahmen darstellte, aber nicht Kernunterfangen gewesen sei. Wie es bereits Jürgen Zimmerer in seinen Schriften dargestellt hat, greift auch Dirk Moses hier erneut auf den Ansatz zurück, dass der Antisemitismus der Nazis sich antiimperial und antikolonial deuten lasse: In Moses Interpretation sahen sich die Nazis als durch das Judentum kolonisiert und stellten damit qua zugeschriebener Selbstwahrnehmung ein kolonial unterdrücktes Volk dar. Diese Analogie begründet Moses damit, dass einige Juden Bolschewisten waren und die Nazis daher davon ausgehen mussten, dass alle in Deutschland lebenden Juden jeden Moment zum Bolschewismus überlaufen könnten und damit eine konkrete Gefahr darstellten (vgl. Moses 2021a: 321).

Moses will hier mit Positionen kontern, die das Besondere und Beispiellose des Holocaust auch darin begründet sehen, dass hier eine Menschengruppe bekämpft und vernichtet werden sollte, von der keine konkrete Gefahr ausging und von deren Bekämpfung man sich auch primär keine militärischen, territorialen, ökonomischen oder materiellen Vorteile erhoffte. Vom Judentum, so das von ihm kritisierte Antisemitismus-Paradigma, sah man sich deswegen bedroht, weil es einen gleichermaßen inneren und äußeren Feind darstellte, als dämonisch-übermächtig und parasitär-leidbringend gefürchtet würde und Deutschland finanziell und politisch knechte und ins Verderben stürze.

V. Eine „asiatische Tat“?

DECOLONIZING AUSWITZ?
KOMPARATIV-POSTKOLONIALE ANSÄTZE
IN DER HOLOCAUSTFORSCHUNG
VON STEFFEN KLÄVERS
Oldenbourg: De Gruyter
257 Seiten | € 20,50
ISBN: 978-3110763812
Erscheinungstermin: September 2021

Doch da es im „bolschewistischen Juden“ eine konkrete Gefahr gebe, die von den Nazis nur generalisiert wurde, könne man nicht mehr von einer derart abstrakten Gefahr sprechen – und deswegen überzeuge das Antisemitismus-Paradigma nicht. Das Judentum würde zum kolonialen Unterdrücker, dem es sich mittels eines antikolonialen Aufstands zu entledigen gegolten habe. „For the Nazi elite“, schreibt Moses, „the Jews were the latest ruling class of the enduring, external, Asiatic threat to Europe“ (Moses 2021a: 298). Die Ähnlichkeit dieses Arguments zu Ernst Nolte im ersten Historikerstreit ist verblüffend, schließlich deutete auch Nolte den Holocaust als Reaktion auf eine von Hitler so wahrgenommene bolschewistische Bedrohung, sprach gar von einer „asiatischen Tat“. Der Holocaust wird daher bei Moses mit der Sprache des antikolonialen Genozids beschrieben, den die Nazis angeblich glaubten, zu vollziehen.

Dass die antisemitische Ideologie in diesem Bild nicht aufgeht, ist evident: Kolonial Unterdrückte fürchten sich vor ihren Unterdrücker*innen nicht in derselben Art und Weise, wie Antisemit*innen sich vor Jüdinnen und Juden fürchten. Doch nur mittels dieser Analogie gelingt es Moses, den Antisemitismus der Nazis aus ihrer zugeschriebenen Wahrnehmung als antiimperial und antikolonial zu deuten. So werden falsche Vorstellungen einer jüdischen Übermacht analytisch gleichgesetzt mit realen kolonialen Machtsituationen. Die Folge: Der Antisemitismus verliert als Paradigma zur Erklärung des Holocaust an Bedeutung.

VI. Conclusio

Wem das sonderbar und überraschend erscheint, sollte sich vor Augen führen, auf welche Art und Weise in antikolonialen postkolonialen Kontexten meist über Israel debattiert und nachgedacht wird. Zwei prominente Beispiele: Achille Mbembe unterstellte dem jüdischen Staat in seinem Buch Politik der Feindschaft eine Vernichtungsintention gegenüber den Palästinenser*innen, gar eine „fanatische Zerstörungsdynamik“, die darauf abzielte, „das Leben der Palästinenser in einen Trümmerhaufen und einen zur Entsorgung bestimmten Berg aus Müll zu verwandeln“ (Mbembe 2017: 86). Und Edward Said schrieb in einem Text mit dem Titel Low Point of Powerlessness aus dem Jahr 2002: „I do not want to press the analogy too far, but it is true to say that Palestinians under Israeli occupation today are as powerless as Jews were in the 1940s“ (Said 2004: 206). In beiden dieser Beispiele wird entweder die Dynamik des Antisemitismus nicht verstanden und/oder wird eine Vernichtungsintention falsch auf den Staat Israel projiziert. In beiden Fällen werden Antisemitismus und der Holocaust relativiert. Für eine sachlichere Debattenkultur, die im Verlauf des Historikerstreits 2.0 immer wieder eingefordert wurde, wäre also zunächst ein besseres Verständnis des Antisemitismus in all seinen Manifestationen, also auch dem auf Israel bezogenen, eine wünschenswerte Minimalforderung.

STEFFEN KLÄVERS

ist Literaturwissenschaftler und Antisemitismusforscher. Seine Dissertationsschrift Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung ist im Jahr 2019 im Verlag De Gruyter Oldenbourg erschienen.

Literatur

Breuer, Lars (2014): Kommunikative Erinnerung in Deutschland und Polen: Täter- und Opferbilder in Gesprächen über den Zweiten Weltkrieg, 1. Aufl., in: Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen. Memory Studies, Berlin: Springer VS.

Geisel, Eike (1984): Lastenausgleich, Umschuldung. Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays, Polemiken, Stichworte, Berlin: Edition Tiamat.

Mbembe, Achille (2017): Politik der Feindschaft, Erste Auflage, Berlin: Suhrkamp.

Moses, A. Dirk (2021a): The Problems of Genocide: Permanent Security and the Language of Transgression, 1. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press.

Mbembe, Achille (2021b): „Der Katechismus der Deutschen – Geschichte der Gegenwart“, 23. Mai 2021, online unter: https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/ (letzter Zugriff: 15.01.2022).

Said, Edward W. (2004): From Oslo to Iraq and the road map, 1. Aufl., New York, NY: Pantheon Books.

Zimmerer, Jürgen/Rothberg, Michael (2021): „Erinnerungskultur: Enttabuisiert den Vergleich!“, in: Die Zeit, 4. April 2021, Abschnitt Kultur, online unter: https://www.zeit.de/2021/14/erinnerungskultur-gedenken-pluralisieren-holocaust-vergleich-globalisierung-geschichte (letzter Zugriff: 15.01.2022).