Lotterie der Geografie VON MARIE-THERES STAMPF

Die Literaturwissenschaftlerin Marie-Theres Stampf analysiert in ihrem Reviewessay die einflussreiche Studie Prisoners of Geography. Ten Maps That Tell You Everyhing You Need to Know About Global Politics (2015)des britischen Journalisten und Außenpolitik-Experten Tim Marshall. In diesem anregenden Buch lassen sich auch für aktuelle neoimperialistische Entwicklungen relevante Informationen und Denkanstöße finden.

I. Vorbemerkung

In dem auch für Laien verständlichen Sachbuch über Geopolitik erläutert Marshall territoriale Strategien und geografische Grundbedingungen, die nicht nur Licht auf Ereignisse der Vergangenheit werfen. Aktuelle globale Entwicklungen und Streitpunkte werden häufig als Fortsetzungen jahrhundertealter Fehden enttarnt, die der Journalist und Experte für Außenpolitik auf die Folgen verantwortungsloser Kolonialpolitik, aber auch auf die unveränderlichen Gegebenheiten der Geografie zurückführt. Ihre ewiggleichen Gesetze werden von Gebirgen, Flüssen, Ozeanen und dem Klima geschaffen und eröffnen neben einem tieferen Verständnis aktueller Brennpunkte und irrationaler Machtdemonstrationen auch einen – leider wenig optimistischen – Blick in die Zukunft.

PRISONERS OF GEOGRAPHY
TEN MAPS THAT TELL YOU
EVERYTHING YOU NEED
TO KNOW ABOUT
GLOBAL POLITICS
TIM MARSHALL
London: ‎ Elliott & Thompson
256 Seiten | € 20,55
ISBN: 978-1783961412
Erscheinungstermin: Juli 2015

II. Zurück zu Russland

„Vladimir Putin says he is a religious man, a great supporter of the Russian Orthodox Church. If so, he may well go to bed each night, say his prayers, and ask God: ‚Why didn’t you put some mountains in Ukraine?‘“ Die einleitenden Zeilen des 2015 erschienenen Prisoners of Geography bringen prägnant die Relevanz und den beinahe prophetischen Anspruch von Marshalls Werk auf den Punkt. Im Licht der aktuellen Invasion der Ukraine fesselt die Lesenden vor allem das vielleicht nicht ganz zufällig zu Beginn angesiedelte Kapitel über Russland. Wenngleich ideologische Konflikte häufig den Hintergrund für Geschehnisse auf der Weltbühne bilden – das Drehbuch beruht für den Autor stets auf der Sicherheitspolitik eines Staates. Das Denken in Bedrohungsszenarien wiederum hängt stark von den unveränderlichen, materiellen Grundlagen der Geografie ab. So würden Staaten nach wie vor in denselben Verteidigungsmodi operieren wie in den letzten Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Im Folgeschluss bietet sich ein trauriges Bild zu den Hoffnungen auf ein friedliches und empathisches Zusammenwachsen im Zuge der Globalisierung.

Die Bedeutung Russlands fußt nicht nur in seiner historischen Rivalität mit den Vereinigten Staaten, der Etablierung eines alternativen Gesellschaftssystems oder der historischen Kontinuität, sondern auch in der schier unfassbaren Ausdehnung des größten Staates. Grenzen, die gerade in Pandemiezeiten wieder an Bedeutung gewannen, bilden den jeweiligen Ausgangspunkt eines jeden von Marshalls Kapiteln. Im Inneren werden Ressourcen, Klima und Geografie näher betrachtet. Dabei liegt im Falle Russlands der sprichwörtliche Hund im fehlenden Warmwasserhafen und dem Nordeuropäischen Tiefland begraben. Hier fokussieren sich die Ängste und gleichzeitig Hoffnungen des eurasischen Reiches. Die Annäherung der Ukraine an die EU kann folglich nicht nur aus ideologischen Gründen nicht geduldet werden, sondern aus rein strategischen Überlegungen zur Angreifbarkeit. Denn das Nordeuropäische Tiefland bildet einen Korridor, der Truppen den Marsch bis vor die Haustür in Moskau ermöglicht. Zurecht darf im Licht dieses Prismas aus Ängsten und imperialistischen Besitzansprüchen kein territoriales Zugeständnis an Russland abgegeben werden – so neutral doch Marshall in seinem Urteil bleibt, wird im nüchternen Rundumblick klar, dass die Ukraine nur der Anfang sein könnte. Denn auch Moldawien, Georgien und Polen als Verengungspunkt Tieflands hielten strategische Gewinne und Ressourcen für Russland bereit. Das Ewig-Wiederkehrende liegt für Marshall in der Geografie begründet, die alle Staatsoberhäupter – egal ob Zar, Generalsekretär oder Präsident – vor dieselben Entscheidungen und Probleme stellt.

III. Rennen um die Vorherrschaft

Als nächster geografischer Monolith wird China unter die Lupe genommen. Auf die historische Konsolidierung des Reiches und kollektive Invasionserinnerungen baut Marshall seine Erläuterungen zu Grenzverläufen und potenziellen Kriegsszenarios auf. In Chinas Innerem dämpft die ethnische Dominanz der Han-Chinesen potenziellen Widerstand – und auch durch die Durchlässigkeit der Grenzen nach außen hin wird ein Teil der Bevölkerung für Sicherheitszwecke instrumentalisiert. Wie der Autor auch am Beispiel Russlands zeigt, stellen die eigenen ethnischen Minderheiten im Ausland eine Investition in die Zukunft dar – als politisches Druckmittel. Auch in monetären Investitionen gerechnet, die bei beinahe allen nachfolgend dargelegten Karten (Afrika, Südamerika, der Nahe Osten) immer wieder aus Richtung China fließen, liegt der Staat vorne. Hinter Vereinnahmungen wie jener Tibets stehen wieder geopolitische Interessen, wie die Sicherung der Wasserversorgung (Chinas größte Flüsse entspringen in Tibet). Zudem dient die Kontrolle über das strategisch wichtige Hochland der Sicherheit, da ein Einfall ins Landesinnere für das misstrauisch beäugte Indien von dort relativ einfach wäre.

Neben militärischen Interessen verfolgen Staaten auch wirtschaftliche – und für Marshall ist das eine meist Mittel zum Zweck für das andere: Meerengen und Landwege schützen, heißt Handelsrouten aufrechterhalten. Geografische Landmarken sind für ökonomische Interessen von höchster Bedeutung. Im Falle Chinas sind das vor allem die Seewege für den Import von Energie und den Export billiger Massengüter, vorbei an der Neun-Striche-Linie im Südchinesischen Meer. Diese erklärt auch die Besitzansprüche an Taiwan. Für den Autor stellt sich nicht die Frage, ob das immer mächtiger werdende China die USA als führende Weltmacht ablösen wird, sondern wann. Trotz dieser Prognose schließt Marshall jedoch andere Szenarien nicht vollkommen aus. Sollte der Wirtschaftsmotor Chinas ins Stottern geraten, droht dem Staat soziale Instabilität. Der Einsatz des Individuums zugunsten des Kollektivs könnte gemeinsam mit den Hoffnungen auf ein besseres Leben verloren gehen.

IV. Verfall einer Supermacht?

Die Gründe für die langewährende Vormachtstellung der Vereinigten Staaten sind nicht nur in der kulturellen und sprachlichen Einheit zu suchen. Diese ist Basis für eine gemeinsame Identität, die laut Marshall für die EU unerreichbar bleiben muss. Über weite Teile konzentriert sich der Autor auf die territoriale Konsolidierung der Vereinigten Staaten, die zum einen rasch und zum anderen ungewöhnlich glücklich ausgefallen ist. Im historischen Rückblick verhalfen geschickte Diplomatie und gute Deals dem jungen Staat zu entscheidenden Gebietsgewinnen. Die schier unendliche Ausdehnung der Landmasse hält nicht nur Ressourcen aller Art bereit, wodurch unter anderem Energieautarkie geschaffen werden kann – sie ermöglicht gleichzeitig den Zugang zu den beiden großen Weltmeeren. Die klimatische Milde, wohlgesinnte Nachbarstaaten und eine geteilte Sprache und Kultur sind beinahe nur mehr Draufgaben, mit denen der reich beschenkte Staatenverbund auftrumpfen kann.

Obwohl die USA ihre globalen Interventionen über die letzten Jahrzehnte deutlich verringerte und dies zu einem schon dreißig Jahre währenden, modischen Totgesang auf die Supermacht geführt hat, ist für Marshall der Erfolg beinahe ungebrochen: Die USA sind nach wie vor ein begehrtes Ziel für Auswanderer weltweit, reich an Ressourcen, beherbergen zahlreiche renommierte Universitäten und keine – wie etwa in Europa oder Asien – alternde Bevölkerung. Auch wenn China inzwischen wirtschaftlich aufgeholt haben sollte, militärisch und strategisch liegt der Tonangeber der westlichen Hemisphäre vorne. Ob Chinas Aufholen zwingend zum Rückfall der USA führen muss, lässt Marshall offen.

V. Eine Union für den Frieden

Europa als Wiege der Aufklärung und Industrialisierung – auch diese Rolle führt der Autor konsequenterweise auf die geografische Lage des Kontinents zurück. Die organisch gewachsene Teilung in zahlreiche Kleinstaaten, die auf Flüsse, Gebirge und Täler zurückgeht, verhinderte nicht die gewinnbringende Vernetzung ebendieser. Das ökonomische Nord-Süd-Gefälle ist Folge besserer Handelsrouten zwischen den und innerhalb der Länder Zentral- und Nordeuropas, aber auch schlechterer Agrarbedingungen im Süden. Auf diese Ungleichheit und daraus resultierende historische Entwicklungen sind aktuelle Konflikte innerhalb der EU zurückzuführen, wie etwa die Streitigkeiten um Rettungszahlungen zwischen Deutschland und Griechenland in Folge der Eurokrise. Von außerhalb sieht Marshall vor allem aus Richtung Osten Gewitterwolken aufziehen. Durch die NATO-Beitritte von Staaten wie Albanien oder Bulgarien, aber auch entsprechende Überlegungen in Skandinavien, ergibt sich eine zunehmende Alarmiertheit aufseiten Russlands. Der Blick nach Westen am Balkan, aber auch in Polen und natürlich der Ukraine, werden als Gründe für zukünftige Auseinandersetzungen genannt. Ein wenig überraschend wirkt Marshalls These, dass sich Berlin in konfliktreichen Zeiten auch wieder dem Osten zuwenden könnte.

Die beiden Weltkriege waren ebenso das Ergebnis der „Deutschen Frage“, wie das für Marshall erstaunliche Experiment der Europäischen Union. Denn anstatt weiterhin (im Falle Deutschlands vor allem) in ständiger Angst vor den mächtigen Nachbarn im Osten und Westen zu leben, wurde nun auf gegenseitiges Vertrauen gesetzt. Die europäische Kernbeziehung ist für Marshall die zwischen Deutschland und Frankreich, dessen geografische Bedingungen die vorteilhaftesten innerhalb Europas sind. Bewegungen wie der Brexit in Großbritannien sieht der Autor unter anderem in wirtschaftlicher Rezession begründet, die häufig Skepsis gegenüber Migration und Abschottung nach sich zieht – eine Entwicklung zugunsten rechtspopulistischer Parteien, die den Pan-Nationalismus bedroht. Doch trotz zahlreicher imminenter und potenzieller Konflikte, die als Bedrohung für die Einigkeit der Europäischen Union identifiziert werden können, führt Marshalls stets auch historisch umfassende Perspektive zum Schluss: Der nun siebzig Jahre andauernde Friede auf dem zuvor von Kriegen heimgesuchten Kontinent ist seinen Preis wert – einen Preis, den man hoffentlich auch in Zukunft bereit ist, zu zahlen.

VI. Gefangene der Geografie

Afrikas Größe wird durch die bei gängigen Karten übliche Mercator-Projektion stark unterrepräsentiert. Dass der Kontinent mit „Entwicklungsvorsprung“ (Wiege der Menschheit) diesen nicht aufrechterhalten konnte, liegt am für Krankheiten günstigen und Landwirtschaft ungünstigen Klima, dem Fehlen von für den Transport geeigneten Flüssen und Häfen und auch der Abkapselung von Eurasien durch die Sahara, die eine Verbreitung von Ideen und Technologien in den Süden verhinderte. Auch innerhalb von Afrika wurde so die Vernetzung erschwert.

Die Fremdherrschaft und Ausbeutung durch das Osmanische Reich und Europa hinterließen ihre Spuren, die deutlichsten und nachhaltig schädlichsten sind unter anderem in den willkürlichen Grenzziehungen zu sehen, die das Empfinden der Menschen innerhalb dieser Grenzen weitestgehend ignorierten. Marshall sieht darin den Ursprung zahlreicher heutiger Konflikte zwischen und innerhalb der instabilen Staaten, die weder auf historischer Kontinuität noch auf ethnischer Zusammengehörigkeit oder gemeinsamer Kultur beruhen – ihre Bewohner*innen sind die titelgebenden „prisoners of geography“. Der Wettstreit um Ressourcen von außerhalb und die ungerechte Verteilung von Wohlstand innerhalb verstärken diese Konflikte häufig noch – vor allem in Staaten wie der Demokratischen Republik Kongo, die Marshall als „größtes Versagen europäischer Grenzziehung“ sieht.

Der Ausblick ist dennoch vorsichtig optimistisch: Auch Afrika werde von globalen Entwicklungen profitieren, und Investitionen in Wasserkraft, der vermehrte Ressourcenabbau und ein besseres Transportnetz können dabei helfen. Das Potenzial von Technologie wird häufig von Marshall gewürdigt, weil es die durch Geografie gesetzten Grenzen überwinden kann. Dadurch und durch ein besseres Bildungs- und Gesundheitssystem soll endlich gelingen, was seit Jahrzehnten immer wieder prophezeit wird: Dass Afrika die von Natur und Geschichte gegebenen Nachteile überwindet und aufblüht.

Der Nahe Osten ist ein weiteres Beispiel der willkürlichen Grenzziehung durch imperiale Mächte. Nicht nur diese Grenzen, sondern auch das Konzept von Nationalstaaten wird von Marshall als europäischer Import entlarvt. Berühmtestes Symptom dieser Staatenaufteilung ist die Sykes-Picot-Linie, Resultat einer Vereinbarung zwischen Großbritannien und Frankreich während des Ersten Weltkrieges. Obwohl Extremismus und Unruhen schon vorher in dieser Region existierten, half der erzwungene Zusammenschluss von verschiedenen „Stämmen“ und Religionen nicht unbedingt dabei, Frieden zu schaffen. Den IS sieht Marshall nicht nur als Resultat kolonialer Unterdrückung, sondern auch der daraufhin geschaffenen gescheiterten, künstlichen Nationalstaaten.

Häufig wird aus eurozentristischer Perspektive die Heterogenität des Nahen Ostens unterschätzt – wie auch schon in der Vergangenheit. Beachtung finden Minderheiten wie die Kurd*innen, die Marshall zufolge verstärkt nach Unabhängigkeit streben und dadurch die Form von Staaten, wahrscheinlich zumindest des Iraks, verändern werden. An dessen prinzipiellem Fortbestand hegt der Autor Zweifel. Auch demografische Entwicklungen rütteln an aktuellen Staatsgrenzen: Die Hegemonie von Christ*innen im Libanon dürfte seit den 1950er-Jahren durch höhere Geburtenraten der muslimischen Bevölkerung und Zuwanderung aus dem palästinensischen Raum gebrochen sein. Da das politische System aber darauf beruht, wurde seit den 1930er-Jahren von einer Volkszählung abgesehen. Weitere Brennherde wie der Nahostkonflikt, der Bürgerkrieg in Syrien und die Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und dem Iran lassen nicht darauf hoffen, dass in die gebeutelte Region bald Frieden einkehrt. Den Arabischen Frühling sieht Marshall als naive Fehlinterpretation durch den Westen, der die demokratischen Bestrebungen als mehrheitlichen Konsens fehlinterpretierte. Die fehlende historische Grundlage und die Herrschaft von Gewalt verhindern eine Entwicklung in diese Richtung.

VII. Feindschaft am Subkontinent

Das Unterkapitel zum indischen Subkontinent konzentriert sich auf die Rivalität zwischen den Staaten Indien und Pakistan und behandelt umliegende Nachbarländer eher marginal. Die Gefahr eines atomaren Konflikts scheint bei Marshall beinahe imminent; der historische Rundumblick lädt die Schuld auf die Fremdherrschaft durch Großbritannien, aber auch ihr überstürztes Ende 1947. Im Chaos der Teilung nach religiöser Zugehörigkeit in muslimische (Pakistan) und hinduistische Bevölkerung (Indien) starben Schätzungen zufolge mindestens eine Million Menschen. Die Teilung kam Indien zugute, das einen Großteil der Industrie und die Metropolen erhielt. Pakistan hingegen fielen die problematische Grenze zu Afghanistan, wenig finanzielle Reserven und eine gespaltene Identität zu. Kaschmir dient dabei als Schauplatz von Stellvertreterkriegen und nimmt zusätzlich eine strategisch wichtige Position ein, was die Angreifbarkeit Pakistans, aber auch seine Verbindung zu China betrifft. Indien wendet den Blick ebenfalls nach Osten, knüpft jedoch Beziehungen zu den Nachbarn Chinas, das das strategisch bedeutsame Tibet kontrolliert. Häufig gilt: Die Feinde meines Feindes sind meine Freunde. Ein weiteres Streitthema werde die Herrschaft über Ozeane sein, die nicht nur die Kontrolle über Handelsrouten, sondern auch über Ressourcen mit sich bringt.

Zusätzlich zu diesen politischen Beziehungen wird Pakistans Einfluss auf die Entwicklungen in Afghanistan seit dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 ausführlich thematisiert – eine Einmischung mit fatalen Folgen. Die Unterstützung der Taliban führte zu einer Infiltrierung vor allem des westlichen Pakistans mit der islamistischen Bewegung, die Terroranschläge und eine internationale Verwaisung für Pakistan nach sich zog. Marshall führt mögliche Szenarien für die weitere Entwicklung an und konstatiert, dass das wahrscheinlichste ein Abzug der Amerikaner*innen aus Afghanistan sei – und ein Sichselbstüberlassen der Region. 2021 bewahrheitete sich diese Prognose.

VIII. Pulverfass Nordkorea

Eingeklemmt zwischen die zwei einflussreichen Staaten China und Japan befindet sich das geteilte Korea. Historisch betrachtet, wie Marshall es gerne tut, lässt sich die Abschottung des Nordteils unter anderem als Reaktion auf eine jahrhundertelange Abfolge von Invasionen, Besetzungen und Fremdherrschaft sehen. Die Teilung entlang des 38. Breitengrades erfolgte entlang einer imaginären Linie, willkürlich gezogen von zwei Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg, den USA und der Sowjetunion. Ein Muster lässt sich hier erkennen: Gefährliche oder gar gescheiterte Staaten offenbaren sich häufig als Erbe eines verantwortungslosen Imperialismus und fremdbestimmter Grenzen, wie schon im Falle Zentralafrikas oder Pakistans ersichtlich war.

Die Folgen im Falle Nordkoreas sind besonders verheerend: Es gibt nach Ansicht des Autors kein Vor und Zurück. Provokation wird von allen Seiten vermieden, nicht nur weil die global gut angebundene Metropole Seoul nur etwa 50 Kilometer von Nordkorea entfernt liegt. Auch Nordkoreas nukleare Schlagkraft hat der am wenigsten demokratische Staat der Erde (Marshall) in der Vergangenheit wiederholt demonstriert, mit Reichweiten bis nach Japan. Das ist einer der Gründe, warum sich das Land der aufgehenden Sonne trotz Ressentiments auf allen Seiten mit Südkorea und den USA zusammentat. Es verlangt nach einem Gegengewicht zur Sprengkraft Nordkoreas und seinem subtilen Unterstützer China. Selbst im Falle eines selbstverschuldeten Zusammenbruchs Nordkoreas sieht Marshall große wirtschaftliche und politische Umwälzungen auf die Region zukommen – auch deshalb findet der Status Quo Akzeptanz. Eine Wiedervereinigung wäre kaum mit der in Deutschland zu vergleichen, da Norden und Süden bezüglich Bildung, Industrie und allgemeiner Entwicklung wesentlich weiter auseinanderklaffen.

IX. Überzogene Hoffnungen

Marshall stellt den südamerikanischen Kontinent den Vereinigten Staaten gegenüber und erläutert anhand dessen, warum dieser bezüglich Wirtschaftskraft und politischer Indizes hinterherhinkt: Zum einen ist Lateinamerika geografisch im selben Maß gestraft, wie die USA gesegnet; zum anderen ist das Feudalsystem der spanischen Kolonialherren dafür verantwortlich, dass Besiedlung und Bewirtschaftung weniger glücklich verliefen. Die Landmasse erstreckt sich über eine Ausdehnung von etwa 7.500 Kilometern von Zentralamerika im Norden zur Tierra del Fuego im Süden und ist innerlich zerteilt durch Wüsten, Gebirge, Täler und Dschungel. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten stellt für den Autor die Sprache dar, über weite Teile wird auf Spanisch oder Portugiesisch kommuniziert. Konsequenterweise sind für den geografiefixierten Marshall die Prognosen zum Aufschwung des Kontinents ebenso unrealistisch wie die zum Abstieg der USA. Die Stellvertreterkriege im Kalten Krieg, die Diktaturen und Misswirtschaft nach sich zogen, sind dabei nur einer von mehreren Aspekten des belastenden historischen Vermächtnisses.

Die Besiedlung fokussierte sich von Beginn an auf Küstenregionen, was in fehlenden Verbindungen auf dem Landweg und unvorteilhaften Handelsrouten resultierte. Selbst Brasilien, eine der drei reichsten Nationen Südamerikas neben Argentinien und Chile und Teil der BRIC-Staatengruppe, leidet unter der schwierigen Geografie. Etwa dem Atlantischen Schild, der für einen Mangel an gut zugänglichen Häfen sorgt und den Bau von Transportwegen erschwert. Kartellkriege in Mexiko und die hohe Kriminalität in Zentralamerika durch den Drogenhandel hinauf in die USA bremsen in Teilen des Kontinents bessere Lebensbedingungen aus, bringen aber im Gegenzug Devisen ins Land. Diese fließen auch massig aus China heran, etwa durch den Bau eines „zweiten“ Panamakanals durch Nicaragua. Trotz alledem ist für Marshall das Konfliktpotenzial in Lateinamerika wesentlich geringer als etwa im Nahen Osten oder am indischen Subkontinent. Einzelne Brennherde wie der Kampf um fossile Brennstoffe unter den Falklandinseln zwischen Argentinien und Großbritannien, Grenzstreitigkeiten zwischen Belize und Guatemala oder Brasilien und Uruguay sieht Marshall nicht als potenzielle Kriegsauslöser – wenn also auch der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung ausbleibt, dürfte sich der Kontinent abgesehen von Drogenkriegen eines relativen Friedens erfreuen.

DIE MACHT DER GEOGRAPHIE
TIM MARSHALL
München: dtv
352 Seiten | € 14,39 (Taschenbuch)
ISBN: 978-88-99444-17-4
Erscheinungstermin: Juni 2017

X. Top of the World

Vor allem das letzte Kapitel zur Arktis bietet Überlegungen abseits tagesaktueller Berichterstattung. Während in früheren Zeiten nur die Durchquerung und das symbolische Platzieren einer Fahne am Nordpol zum Wettrennen zwischen den Nationen führte, gibt es inzwischen mehr Gründe für ernsthafte Streitigkeiten: Öl, Gas und andere Ressourcen. Die Arktis bietet damit zukünftiges Konfliktpotenzial, das durch die Klimaerwärmung noch verstärkt wird. Mehrere Wochen im Jahr ist die Nordwestpassage inzwischen ohne Eisbrecher durchfahrbar. Dieser immer einfachere Zugang holt gemeinsam mit der Weiterentwicklung von Technologien den Abbau der Bodenschätze ins Reich des Möglichen. Und damit schon jetzt die Diskussionen um das größte Stück vom Kuchen zwischen den Staaten mit territorialen Ansprüchen: Kanada, Dänemark (Grönland), Finnland, Island, Norwegen, Russland, Schweden und die Vereinigten Staaten.

XI. Resümee

Obwohl Marshalls Werk bisweilen eine apologetische Haltung gegenüber der Sicherheitspolitik (oder Machtbestrebungen?) bestimmter Staaten einnimmt, stellt der Autor doch zu Ende klar: Die Menschheit muss im Angesicht der Herausforderungen der Zukunft enger zusammenrücken, um diese zu meistern. Seine Analyse folgt dabei einem Grundschema, das als Reise durch wissenschaftliche Disziplinen und durch die Zeit gesehen werden kann: Von der Geografie über die Geschichte und Politik eines Landes hantelt er sich weiter zu gegenwärtigen und zukünftigen Szenarien. Dabei muten seine Prognosen oft fatalistisch an: Wir sind, so scheint es, nur Spielbälle der unveränderlichen Landmassen, ihrer Klimata und ihrer Ressourcen. Vor allem kleinen Staaten wird wenig Handlungsraum beigemessen, sind sie doch häufig nur das Beiwerk oder strategische Investitionsmöglichkeit für die großen.

Das Aufdrängen nicht nur von Grenzen, sondern auch des Konzepts Nationalstaat entpuppt sich als Ursache einer Vielzahl aktueller Konfliktherde. Fremdherrschaft und das Überstülpen von Staatsformen auf andere kulturelle Sphären ergeben meist instabile, gescheiterte oder verarmte Nationen. Als ideologisch geleitet können aus Marshalls Sicht die wenigsten Handlungen bezeichnet werden: Sicherheit, Strategie, materielle Grundlagen sind die Treiber. Ein solidarisches Zusammenwachsen findet oft nur im Licht nationaler Interessen statt, mögen sie wirtschaftlich oder strategisch sein. Wenn diese Sicht auch keine allumfassende Gültigkeit besitzt, sind dies doch Aspekte, die im Gegensatz zu kulturellen und ideologischen Betrachtungen oft zu kurz kommen und im medialen Diskurs unterrepräsentiert scheinen. Die Lektüre lohnt sich jedenfalls – denn, sollten auch einige Ansätze nicht der eigenen Perspektive entsprechen, die eine oder andere von Marshalls nun inzwischen sieben Jahre alten Prophezeiungen wurden inzwischen erfüllt.

MARIE-THERES STAMPF
ist Literaturwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Literaturgeschichte, Literatur und Nationalismus sowie Phantastik. Ihre Masterarbeit befasste sich mit dem Motivkomplex der Dystopie in sozio-historischen Kontexten. Aktuell ist sie als Redakteurin beim Österreichischen Integrationsfonds tätig.