„Gutes Aussehen macht dich nicht zur Persönlichkeit“ – VON MICHAEL LIEBERT UND HEMMA PRAINSACK

Die Vielseitigkeit in der Fotografie hat einen Namen: MICHAEL LIEBERT wurde bekannt durch seine unverkennbaren Landschafts- und Portraitfotografien, zahlreichen Ausstellungen und Auszeichnungen. Der geborene Wiener lebt und arbeitet seit Jahrzehnten in Niederösterreich, wo er die Ruhe und die Natur schätzen gelernt hat. Im Interview mit ZUKUNFT-Redakteurin HEMMA PRAINSACK erzählt er über seine Projekte, Aufgabenbereiche und seine Arbeit mit dem Zufall.

Hemma Prainsack: Du arbeitest seit vielen Jahren als selbstständiger Fotograf und widmest Dich neben Porträt- und Naturfotografie auch Projekten, die Du in Gemeinschaft mit Künstler*innen konzipierst und als Bildkompositionen umsetzt. Ebenso arbeitest Du als Werbefotograf und hast eine lange Liste namhafter Kund*innen. Wie wichtig ist das Bild in der Werbung und in der Folge die allgegenwärtige Bildsprache für die fotografische Kunst?

Michael Liebert: Ich als Fotograf bin ein sehr visueller Mensch, deshalb ist mir persönlich das Bild wichtiger als das Wort. Der Spruch „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ trifft bei mir sehr stark zu. Die Idee zum Bild hat bei mir Priorität, weil je besser das Konzept ist, desto besser wird das Foto und schlussendlich ist es dann wieder ein Zusammenspiel zwischen Bild und Text. In kommerziellen Produktionen ist es auch gar nicht anders möglich. Man spricht bei der Werbefotografie von der „Königsdisziplin“, weil es eine Interaktion von verschiedenen Personen darstellt. Meistens besteht hier ein Team z. B. aus Creativ Direktor*innen, Art Direktor*innen, Fotoassistent*innen oder Visagist*innen, die gemeinsam ein Ziel verfolgen – nämlich die Idee gut umzusetzen. Aus diesem Grund fühle ich mich in der Werbung so zu Hause, weil sie mir viele Möglichkeiten verschafft, kreative Konzepte mit den unterschiedlichsten Menschen zu erarbeiten. Ich persönlich möchte keinen Unterschied zwischen der Fotografie in der Werbung oder in der Kunst machen. Das Team und das damit verbundene Ergebnis stehen hier im Vordergrund. Für meine Kund*innen macht sich meine Arbeit durchaus bezahlt, weil man im Gegensatz zu Stockbildern außergewöhnliche und individuelle Fotos erhält, die auf das Unternehmen zugeschnitten sind, Emotionen erschaffen und das Know-how oder die Produkte meiner Kund*innen unterstreichen. Durch eine Auftragsfotografie in der Unternehmensdarstellung hat man durchaus die Möglichkeit, sich von Mitbewerber*innen abzuheben.

Cover Michael Liebert (2022)
© Tina M. Zoechling

H. P.: Gerade wurdest Du für Deine Serie open your eyes – Was siehst Du? mit dem creative club Austria und dem A‘ Design Award in der Kategorie Fotografie ausgezeichnet. In den Darstellungen der Serie arbeitest Du mit einer Kunststoff-Folie, die Du im Freien durch den Wind bewegen lässt und deren Formbewegungen Du festhältst. Dabei entstehen fantastische Formationen, deren Interpretation den Betrachter*innen überlassen ist. Welche Überraschungen hast Du hier selbst erlebt – während der Arbeit mit Wind und Widerstand und durch Reaktionen der Betrachter*innen? Und welche Rolle spielt dabei die Vollendung des Bildes durch die Rezipient*innen?

M.L.: Das Projekt open your eyes hat sich für mich durch einen Zufall entwickelt. Bei unseren Renovierungsarbeiten im Haus ist einiges an Kunststoff-Folie übriggeblieben und genau diese ist mir an einem stürmischen, kalten und unangenehmen Jännertag im Keller wieder in die Hände gefallen. In mir kam dann die Frage auf, was passieren würde, wenn man diese Folie im Wind spielen lässt. Somit war die Grundidee für open your eyes geboren und der Startschuss für das Projekt gesetzt. Das Schöne an solchen Ideen ist die Freiheit, die man hat bzw. zulassen soll und was daraus entsteht. Open your eyes ist das beste Beispiel dafür, denn alles was ich dazu benötigte, war eine Idee, diese Kunststoff-Folie und das passende Wetter. Und wie man sieht, ist etwas Wunderbares daraus entstanden. Zuerst habe ich herumprobiert, habe mir angesehen, was passiert, wenn der Wind in die Folie bläst. Als nächsten Schritt habe ich festgestellt, dass es besser ist, wenn die Folie an etwas hängenbleibt, weil der Widerstand größer wird und der Wind mehr Möglichkeit bekommt, in die Folie hineinzufahren. Durch diesen Widerstand und den Wind sind dann diese Formen entstanden, auf die ich keinen Einfluss gehabt habe. Meine Aufgabe als Fotograf war dann „nur mehr“ den richtigen Moment zu erwischen und zum passenden Zeitpunkt den Auslöser zu drücken. Natürlich wollte ich auch auf Bildausschnitt, Hintergrund, Vordergrund und Bildunschärfe achten und ich denke, dass mir das auch gelungen ist, weil schlussendlich sehr spannende und überraschende Motive entstanden sind. Ein wesentlicher und wichtiger Faktor fehlt aber in meinem Projekt jetzt schlussendlich noch: die Betrachter*innen. Ich sehe durch die Kamera mein Motiv – aber was sieht mein Kollege, meine Nachbarin oder meine Kundin? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, genieße ich den persönlichen Kontakt mit Menschen und den Austausch über meine Arbeit. In Zeiten der Pandemie war dies leider unmöglich, umso mehr freue ich mich auf meine kommende Ausstellung in Palais Niederösterreich in Wien am 21. November 2022 zum passenden Thema SYNERGIEN.

H. P.: Mit der Zeit hast Du die Porträtfotografie für Dich entdeckt. Das Fotografieren des menschlichen Gesichtes ist ein intimer Vorgang, die Kamera holt mit dem bloßen Auge nicht erkennbares hervor. Was siehst Du im Gesicht Deines Gegenübers durch den Sucher, was erzählt es Dir?

M. L.: Das Schöne an der Porträtfotografie ist, dass man nie weiß, was einen erwartet, wenn man mit Menschen zusammenarbeitet. Hier liegt die Herausforderung bzw. ist die Kunst der Fotografie gefordert, einen Rahmen zu schaffen, dass sich die Person wohlfühlt, um ein gutes Foto zu erhalten. Das ist meine Aufgabe als Fotograf und nur so schafft man es die Natürlichkeit und Authentizität im Bild festzuhalten. Ich habe schon zahlreiche Persönlichkeiten wie Klaus Maria Brandauer, Nino aus Wien oder Herman Nitsch vor der Linse gehabt und die Reaktionen auf diese Porträts sind immer unterschiedlich. Was ich in einem Foto sehe, muss nicht zwingend das Gleiche sein, was die Person selbst im Foto sieht. Ein weiterer sehr positiver Nebeneffekt der Porträtfotografie ist, dass man viele Menschen kennenlernt und sich durch diesen intimen Vorgang gute Bekanntschaften oder sogar Freundschaften entwickeln können. Ein gutes Beispiel dafür ist Erwin Wagenhofer, den ich im Zuge seines Filmprojekts But Beautiful fotografieren durfte und er uns in weiterer Folge bei einem Gemeinschaftsprojekt Heimat x Mensch unterstützte. So entstehen immer wieder neue Projekte und Synergien und das finde ich wunderbar.

Hermann Nitsch – Faces (2013) © Michael Liebert

H. P.: Bei Deiner Reihe upsidedown lässt Du die Menschen kopfüber hängen und hältst Gesichtsausdrücke fest, in denen die Menschen die Kamera vergessen und so ganz neue Perspektiven entstehen. Warum ist das Vergessen der Kamera so wichtig (geworden)?

M. L.: Das Stichwort ist hier: Inszenierung. Wir leben in einer Zeit, wo alles perfekt sein muss. Schöne Bilder, schöne Menschen, perfekte Gesichter. Ich finde es nach wie vor wichtiger, dass man die Person hinter der Fassade zeigt, als diese oberflächliche Darstellung wie es gerade der Trend in den sozialen Medien ist. Mir missfällt diese sogenannte „Selfiekultur“, wo das Hauptaugenmerk auf dem Aussehen liegt, was für mich aber nicht wirklich zur Persönlichkeit eines Menschen zählt. Die Persönlichkeit ist viel mehr als Aussehen und das möchte ich als Fotograf zeigen und das gelingt nur, wenn man die zu porträtierende Person ablenkt bzw. die Person gar nicht merkt, dass sie fotografiert wird. Nur so erhalte ich ehrliche, authentische und schöne Bilder.

H. P.: Das Titelbild oder wie bei der aktuellen Ausgabe das Coverfoto ist oft ein Blickfang, mit dem man Aufmerksamkeit erzielen möchte. Du hast für diese Ausgabe ein Selbstporträt von Dir ausgesucht. Als Fotograf bist Du eigentlich immer auf der spiegelverkehrten Seite hinter der Kamera – gewährst Du den Betrachter*innen mit Deinem Selbstporträt einen Blick hinter Deine Fassade und würdest Du es als perfektes Foto bezeichnen?

M. L.: Ich versuche authentisch zu sein und keine Fassade, im negativen Sinne gesehen, aufzubauen. In dem Moment, wo ich mir überlege, was ich anziehe, wie ich gehe oder spreche, befinde ich mich schon in einem Prozess der Inszenierung. Wenn es um ein Coverbild geht, wie aktuell in dieser Zeitschrift, sollte man von einer gewissen Inszenierung ausgehen, weil man ein bestimmtes Thema transportieren möchte. Dies ist mir hier besonders wichtig, weil ich Humor und Ironie zum Thema Selbstdarstellung und Inszenierung in den Vordergrund rücken möchte. Vor allem Humor erleichtert den Zugang zu einem Thema und findet sich in der Fotografie immer wieder. Ob es ein perfektes Foto ist oder nicht hängt immer von den Betrachter*innen ab, wobei ich selbst als Fotograf ja auch ein Betrachter bin. Ich arbeite so lange an einem Foto, bis es mir gefällt und dann ist es abgeschlossen. Dieser Prozess kann aber Stunden bis zu Tage dauern. Es ist wichtig, einen gewissen Abstand vom Motiv zu haben, um wieder einen neutralen Blick auf das Bild zu bekommen, um zu beurteilen, ob das Foto gut ist oder nicht. Dieses Coverbild ist passend zu dem Thema, aber kein perfektes Foto. Das perfekte Foto gibt es nicht. Ein zu hoher Perfektionismus kann sehr schnell sehr langweilig werden, deshalb suche ich für meine Bilder das Außergewöhnliche, nicht das Perfekte.

Beauty (2018) © Michael Liebert.tif

H. P.: In den vergangenen Jahren hast Du viele Landschaften und Natur fotografiert. In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schreibt Walter Benjamin: „Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt.“ Welche Erfahrungen machst Du beim Fotografieren der Natur?

M. L.: Die Landschaftsfotos, die ich schon seit einigen Jahren für das Land Niederösterreich fotografiere, schaffen einen schönen Kontrast zu meinen anderen Fotobereichen, die oft sehr schnell gehen müssen, hektisch oder stressig sind. Hektik oder Stress sind in der Landschaftsfotografie kontraproduktiv. Bei dieser Art der Fotografie muss man sich wirklich Zeit nehmen und es ist entscheidend an welchem Ort man verweilt. Hier ist das Wichtigste, dass man Geduld hat – und das passende Wetter. Es kann schon mal vorkommen, dass ich für ein gutes Foto Stunden oder sogar Tage brauche und ich am ausgesuchten Platz warte und beobachte, was passiert. Und es passiert sehr viel. Abgesehen davon, dass sich ständig das Licht ändert, können interessante Wolkenformationen, Vogelschwärme in der Luft oder Schiffe auf der Donau vorbeiziehen. Diese Sammlung von Gegebenheiten nutze ich, um das beste Foto zu schießen.

H. P.: #nomorewordsneeded nennst Du eine Reihe von Fotos, die selbstredend sind. Was passiert mit diesen Momenten, sobald Du sie benennst, ihnen Worte zuschreibst?

M. L.: #nomorewordsneeded ist eine Fotoserie, die sich aus einem Zufall heraus entwickelt hat, nämlich aus dem Umstand, dass ich mir ein neues Handy gekauft habe, mit dem man technisch sehr gute Fotos machen kann. Ich finde es gut, dass man mittlerweile auch mit einem Handy schon wirklich gute Fotos machen kann und der Vorteil des Handys ist, dass man es ständig dabeihaben kann. Bei dieser Serie gefällt mir auch der humorvolle und manchmal etwas sarkastische Ansatz und genau solche Motive suche ich dann auch. Egal, ob ich in der Stadt unterwegs bin, in einer Ausstellung oder im Kino, wenn sich schöne Momente ergeben, wie es in der Street Photography gang und gäbe ist, dann halte ich diese fest. Wenn sich daraus dann noch ein schönes Wortspiel dazu ergibt, ergänze ich es, ist aber nicht zwingend notwendig. Auch hier steht das Bild für mich im Vordergrund.

H. P.: Welche Zukunft glaubst Du hat die Fotografie und welche Herausforderungen siehst Du hinsichtlich der Einmaligkeit des entstandenen Fotos, das unzählige Male digital reproduzierbar ist und so den Charakter eines Unikats einbüßt?

M. L.: Für mich zählt das Bild, egal auf welcher Kamera es aufgenommen, welche Technik, welches Material oder welches Medium verwendet wurde. Ein gutes Bild muss immer und überall funktionieren, sei es ein 16-Bogen-Plakat oder ein 500 Pixelbild auf einer Webseite. Das Wort „Unikat“ hat deshalb für mich wenig Bedeutung, denn mittlerweile gibt es keine Unikate mehr. Alles ist manipulierbar und vieles entspricht nicht mehr der Wahrheit. Jedes Bild kann immer wieder bearbeitet und verändert werden. Genau das wollen wir sehen.

Donauschleife (2007) © Michael Liebert

MICHAEL LIEBERT
verspürte schon im Kindheitsalter eine tiefe Verbundenheit zur Fotografie. Zu Beginn waren es Kinofilme und Musikvideos, von denen er sich gerne inspirieren ließ. Auf der Grafischen Versuchs- und Lehranstalt in Wien wurde sein Hang zur Kreativität weiter gefördert. Mit der Jahrtausendwende und der digitalen Revolution nutzte er dann endgültig die Chance, in die Fotografie einzusteigen. In der digitalen Fotografie hat man die Möglichkeit Welten zu erschaffen, denen keine visuellen Grenzen gesetzt sind. Seine Begeisterung für visuelles Schaffen geht weit über seine beruflichen Aufgaben hinaus. Bestätigung findet dies durch zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen sowie Ausstellungen im In- und Ausland. Vgl. online: https://michaelliebert.com/.

HEMMA M. PRAINSACK
ist Film- und Theaterwissenschaftlerin. In ihrer Dissertation widmet sie sich dem Filmstar Harry Piel, dem Sensationsfilm und dem Motiv der Panik im Wandel zwischen Kaiserzeit, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verein Institut für Kulturstudien. Davor arbeitete sie in der Generaldirektion des Österreichischen Rundfunks und bei zahlreichen Produktionen am Burgtheater Wien im Bereich Regie und Video.