FALSCHE KAPITALISMUSKRITIK UND STRUKTURELLER ANTISEMITISMUS – ZUR KRITIK DER PERSONALISIERUNG ABSTRAKTER HERRSCHAFTSVERHÄLTNISSE VON SEBASTIAN SCHNEIDER & ISOLDE VOGEL

I. Einleitung

Der Kapitalismus verursacht weltweites Elend: Ausbeutung, Konkurrenzdruck, Armut. Dass dieses System vielfach in der Kritik steht, ist nur logisch. Doch dabei fällt auf: Die Aufhebung jener Verhältnisse, die das Elend hervorbringen, wird nur selten gefordert.

Während eine Analyse der Vorgänge dieses Systems kaum stattfindet, kommt solch eine zu kurz greifende Kritik am Kapitalismus wohl auch selten zu dem Schluss, dass es die Verhältnisse sind, die das Elend verursachen. Stattdessen werden einzelne Schuldige für die gesellschaftlichen Zumutungen verantwortlich gemacht. Man kann solche Kritik als verkürzt oder falsch oder in den Worten Moishe Postones (1979) als „rückwärts gewandt“ bezeichnen, denn sie schießt am Eigentlichen vorbei und drängt auf die Aufteilung der Welt in Gut und Böse. Wenn Finanzkapitalist*innen, Bankiers oder reiche und mächtige Einzelpersonen im Fokus der Kritik stehen, deutet sich an: Hier werden die unverstandenen strukturellen Phänomene als gezielte Handlungen einiger Weniger missverstanden. Fallen Stichworte wie „Ostküste“ oder „Wallstreet“, die als Codes für verdeckten Antisemitismus zu deuten (und nicht selten auch so gemeint) sind, wird noch klarer, wohin solch falsche Kritik schnell führen kann. Um falsche Kritik, die sich auch noch in antisemitische Argumentationsmuster verstrickt, erkennen und zurückweisen zu können, ist es notwendig die Struktur und grundlegenden Elemente des antisemitischen Weltbildes zu verstehen.

II. Antisemitismus als allumfassende Welterklärung

Im 19. Jahrhundert entstand der moderne Antisemitismus als eine antimoderne und antiaufklärerische Bewegung, fußend auf jahrhundertealten traditionellen und oft religiös motivierten antijüdischen Ressentiments und Mythen. Mit dem Umbruch zur Moderne, der Entwicklung des industriellen Kapitalismus und damit aufkommenden gesellschaftspolitischen Veränderungen und Unsicherheiten, wandelt sich die Judenfeindschaft zu einer allesumfassenden Ideologie mit Welterklärungsanspruch. Jüdinnen und Juden werden darin als Sinnbild alles Schlechten identifiziert und für moderne Entwicklungen und allen damit einhergehenden Problemen schuldig gesprochen.

Die Kontinuität der alten Stereotype, negativen Zuschreibungen und Vorwürfe zeigt die historische Vorbedingung der Entwicklung des modernen Antisemitismus. Beispielsweise führte der „Wuchervorwurf“, vor dem Hintergrund des Ausschlusses aus Handwerk und Agrarwirtschaft infolge der Christianisierung Europas, zur Abdrängung vieler Jüdinnen und Juden in die (kirchlich verpönte) Geldwirtschaft und den Handel. Damit verbunden entstanden heute noch reaktivierte Bilder und Vorurteile über die angebliche Wesensart und Charakteristik von Jüdinnen und Juden, wie auch das Vorurteil, diese seien alle in Handel und Geldgeschäften aktiv und hätten besondere Raffinesse und Geschick in diesen Bereichen. Die Verbindung von Jüdinnen und Juden mit Geld, Zins und Reichtum und mit Charaktereigenschaften wie Gier, Hinterlist und Intellekt sind also historisch gewachsene Stereotype, auf denen der moderne Antisemitismus aufbaut.

Porträt-Postkarte von Karl Marx mit jiddischer Beschriftung,
Warschau, um 1920
© Jüdisches Museum Wien Slg. IKG, Inv. Nr. 4863.

Besonders der Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“ ist im modernen Antisemitismus zentral. Verschwörungserzählungen, die auch oft Bezug auf alte Mythen nehmen (beispielsweise aus dem christlichen Antijudaismus, wie in der „Christusmordlegende“ oder dem „Brunnenvergiftungsmythos“), erklären Phänomene als durch eine im Geheimen agierende und bösartige elitäre Gruppe gelenkt. Im Antisemitismus verkörpern Jüdinnen und Juden diese als „Verschwörer“ ausgemachte Elite. Auch die Jüdinnen und Juden vorgeworfene „Wurzellosigkeit“ hat seither Tradition. Jüdinnen und Juden gelten im antisemitischen Weltbild nicht als Teil der Gemeinschaft, sondern werden als außerhalb der nationalen Ordnung stehend gesehen, als „wurzellos“. Daran schließt die Verkörperung von übernationalen Phänomenen wie dem Kapitalismus in ihnen an.

Jüdinnen und Juden werden als vermeintliche „Drahtzieher*innen“ ausgemacht und in ihnen alle negativen Seiten der modernen Welt personalisiert. Antisemitismus dient der Erklärung aller möglichen ungeliebten Phänomene und Krisen (Globalisierung, Finanz- oder Gesundheitskrisen, Migrationsbewegungen, etc.) und eben auch des Kapitalismus und seiner negativen Implikationen. Die Personalisierung abstrakter oder unverstandener Phänomene, auch als Teil von Verschwörungserzählungen, ist ein zentrales Element der antisemitischen Ideologie. Ein zentrales strukturelles Element der antisemitischen Weltanschauung ist neben dieser Personalisierung auch eine dualistische (also gegenüberstellende) Sichtweise auf alle Weltgeschehnisse, ein Einteilen in Gut und Böse.

Mit pseudowissenschaftlichen „Rassentheorien“ begründet, richtet sich der moderne Antisemitismus – im Gegensatz zu der religiös motivierten Judenfeindschaft – nicht nur gegen Jüdinnen und Juden, sondern auch gegen als „jüdisch“ imaginierte angebliche Wesensarten: gegen Intellektualität, Abstraktheit, Modernität, Verschwörung und Macht und ihre vermeintliche Personalisierung. Da der Hass nicht mehr grundsätzlich religiös motiviert ist, müssen die antisemitisch Angegriffenen nicht jüdisch sein – vielmehr werden sie von Antisemit*innen zu Jüdinnen und Juden gemacht. Dem Antisemitismus liegt also eine Struktur zugrunde, die sich auch ohne die konkrete Beschuldigung von Jüdinnen und Juden bzw. Feindmarkierung als jüdisch, nachweisen lässt.

Damit ist Antisemitismus als verabsolutierende Weltanschauung zu begreifen, die faktenresistent und in sich verschwörungsmythisch, personalisierend und von dualistischem Denken geprägt ist.

III. Kapitalismus und falsche Kapitalismuskritik

Herrschaftskritik ist angesichts ungelöster globaler Probleme, sozialer, humanitärer und ökologischer Krisen mehr als angebracht. Doch verstrickt man sich hier leicht in Fallstricke, denn Herrschaft im Kapitalismus ist im Gegensatz zu ihren historischen Vorläufern oft abstrakt und subjektlos. Anders als im Feudalismus, welcher auf klar erkennbaren, personalen Herrschaftsstrukturen und direkter Gewalt aufbaute, ist sie im Kapitalismus vorwiegend über den Tausch von Waren vermittelt. Wie Karl Marx im Kapital (MEW 23) analysiert, treten sich Lohnarbeiter*innen und Kapitalist*innen am freien Markt als Personifikationen ökonomischer Kategorien gegenüber. Arbeiter*innen sind gezwungen ihre Arbeitskraft als Ware am Markt zu verkaufen, um ihre Existenz zu sichern. Kapitalist*innen sind gezwungen Arbeitskraft zu kaufen und auszubeuten und ihre Waren gewinnbringend am Markt zu verkaufen, um unter den Bedingungen der Konkurrenz bestehen zu bleiben. Nicht böse Absichten oder ihre Gier sind hier auschlaggebend, sondern die ihrer Rolle als Kapitalist*innen entsprechenden Sachzwänge. Die Menschen bringen also, unabhängig von ihrem persönlichen Willen, durch ihr „rationales“ Verhalten jene irrationalen Verhältnisse hervor, die ihnen bereits als gegeben erscheinen.

Kapitalist*innen sind zwar nicht von jeder Verantwortung freizusprechen, die Kritik greift aber zu kurz, wenn sie moralisch und personalisierend argumentiert und strukturelle Faktoren völlig ausblendet. Der Kapitalismus bleibt dabei oft unverstanden. So werden in dualistischer Manier nur die Erscheinungen des Abstrakten (Zirkulationssphäre, Geld, Zins) kritisiert und als „künstlich“ bezeichnet, während das vermeintlich Konkrete (Produktionssphäre, Arbeit) als nicht-kapitalistisch und „natürlich“ verstanden und zugleich positiv besetzt wird, wie Moishe Postone (1979) in seinem ökonomie- und antisemitismuskritischen Text Nationalsozialismus und Antisemitismus herausarbeitet. Am deutlichsten wurde ein solcher „Antikapitalismus“ im Nationalsozialismus in der einseitigen Ablehnung des „raffenden“/„jüdischen“ (Finanz-)Kapitals und der Hochhaltung der „schaffenden“/„arischen“ Arbeit. Dass (abstrakte) Arbeit im Kapitalismus die Grundlage von Geld und Kapital ist und die Produktion von Gebrauchswerten (konkrete Arbeit) lediglich als notwendiges Nebenprodukt der Kapitalakkumulation fungiert, bleibt unbemerkt. Die Vorstellungen, dass mit der Ablehnung der einen (vermeintlich abstrakten) Seite des Kapitalismus das System verändert oder kritisiert würde, bauen auf einem falschen Verständnis des Kapitalismus auf. Eine solche Kapitalismuskritik, die sich lediglich gegen die unverstandenen Aspekte richtet und nicht das System als Ganzes im Blick hat, weist Überschneidungen zum antisemitischen Weltbild auf. In diesem Weltbild werden aus der abstrakten Herrschaft eine konkrete Schuld und Verantwortung – im Antisemitismus wird diese dann in Jüdinnen und Juden personifiziert.

Die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen resultierenden Unsicherheiten, Ängste und verdrängten Wünsche werden mit der einseitigen Beschuldigung von Einzelpersonen – zum Teil auch in verschwörungsmythischen Erklärungen – beantwortet. Da sich die Herrschenden nicht mehr so eindeutig identifizieren lassen, führt dies nicht selten zu der Vermutung, die Herrschenden würden versteckt, in Geheimbünden organisiert und im Hintergrund die Fäden ziehen.

IV. Strukturantisemitische Denkmuster und neue Feindbilder

Einige Ansätze der auf den beschriebenen falschen Annahmen basierenden Kapitalismuskritik funktionieren auf eine ähnliche Weise wie der moderne Antisemitismus. Sind die Schuldzuweisungen nun neben der strukturellen und ideologischen Verwandtschaft auch in den genutzten Zuschreibungen, Bildern und Mythen ähnlich, wird der zugrundeliegende strukturantisemitische Charakter besonders deutlich. Von der Verteufelung über die Bedienung antijüdischer Brunnenvergiftungsmythen und Weltverschwörungsideen bis zur Markierung des neuen Feindes mit altbekannten antisemitischen Motiven, wie der Darstellung des Blutsaugers, werden (unbewusst) antisemitische Muster bedient.

Dabei werden dieselben Stereotype wie im modernen Antisemitismus auf „neue“ vermeintlich Schuldige angewandt: (Finanz-)Kapitalist*innen, Bankiers, Manager*innen, aber auch beispielsweise zentrale Figuren von Gesundheitsorganisationen werden als geldgierig, hinterlistig und böswillig bezeichnet und mit übernatürlicher Macht versehen. Diese Art und Weise, wie hier (durchaus auch mächtige und verantwortliche) Einzelpersonen angegriffen werden sowie der Glaube mit dem Angriff auf Einzelne systemische Probleme beheben zu können und ihre Ursachen ausgemacht zu haben ist zu problematisieren – auch wenn die Angegriffenen, im Gegensatz zur offen antisemitischen Anschuldigung, nicht völlig willkürlich im Fokus stehen müssen. Angegriffen werden können dabei auch alle Reichen, denen eine absichtliche Verursachung von Ausbeutungsverhältnissen als eine ihnen eingeschriebene Wesensart unterstellt wird.

M. G. Rawitzki: Antisemitisches Plakat auf Leo Trotzki aus der Zeit des Bürgerkriegs,
„Frieden und Freiheit in Sowjetrussland“, 1919
© Ne Boltai! Collection, Object ID: 9851.

Hinter komplexen Macht- und den systembedingt abstrakten Herrschaftsverhältnissen wird die Verschwörung einer allmächtigen elitären Gruppe vermutet. Der Systemcharakter wird verkannt. So ist die einseitige Kritik am „Finanzkapitalismus“ auch deswegen falsch, weil Investitionen auf Kapital- und Finanzmärkten aufgrund der Konkurrenz Zwangscharakter haben. Ein Kapitalismus ohne Finanzmärkte ist undenkbar. Der strukturelle Antisemitismus einer solchen Finanzmarktkritik lässt sich wohl am deutlichsten mit einem Blick auf den „Antikapitalismus“ des Nationalsozialismus verdeutlichen. Die auch in aktueller Finanzmarktkritik oft vorgenommene moralisierende Trennung von Industrie- und Finanzkapital zeigte sich dort – in extremer Steigerung – in der bereits erwähnten dualistischen Gegenüberstellung vom „schaffenden, natürlichen, arischen“ und „raffenden, künstlichen, jüdischen“ Kapital. Dass im Nationalsozialismus Jüdinnen und Juden für die Übel des Kapitalismus und zugleich die Verkörperung des Kommunismus verantwortlich gemacht wurden, zeigt die Absurdität und Widersprüchlichkeit und gleichzeitig den Welterklärungsanspruch des Antisemitismus als Verschwörungsideologie, die in ihrer extremsten Form, dem nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus, durch die industrielle Ermordung von sechs Million Jüdinnen und Juden ihren negativen Höhepunkt erreichte.

Wenn als Schuldige nicht Jüdinnen und Juden, sondern andere Personengruppen ausgemacht werden, wird zwar kein offener Antisemitismus ausgesprochen, jedoch ein strukturell ähnliches Argumentationsmuster – ideologisch auf der gleichen verschwörungsmythischen, personalisierenden und dualistischen Weltsicht fußend – bedient.

Zu bedenken ist auch, dass gerade in einem der Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus und trotz öffentlicher Sanktionierung der Sagbarkeit von offenem Antisemitismus nach 1945 antisemitische Welterklärungen nicht aus den Köpfen verschwunden sind. Die latente Äußerung von Antisemitismus kann auch unbewusst und mit neuem Angriffsziel auf nichtjüdische Feinde erfolgen, so dass auch strukturantisemitisches Denken, tatsächlich abseits des Ziels Jüdinnen und Juden anzugreifen, als in einer historischen Kontinuität stehend, begriffen werden muss.

Neben altbekannten Bildern, die dem Antisemitismus entlehnt sind, sind nach 1945 auch diverse Chiffren und Codes entstanden, die zur (unbewusst oder bewusst antisemitischen) Anschuldigung führen. Das ist bei der Umschreibung der „Mächtigen von der Wall Street“ oder der „Ostküste“ oder den „1 %“, die die Welt beherrschen würden, der Fall – und hier ist auch der Weg zu offen antisemitischen Äußerungen nicht weit. Ideologisch und strukturell auf ähnliche Weise kann sich dies auch komplett vom jüdisch markierten Angriffsziel lösen und auf andere Personen/Personengruppen Anwendung finden. Tauscht man die Namen der als Feinde ausgemachten gegen „die Juden“ aus, wird die antisemitische Veranlagung der Welterklärung offensichtlich. Auch ohne offen antisemitisch aufzutreten, werden hier gleiche Bilder und Denkweisen transportiert. Denkweisen, die einer solchen Kapitalismuskritik zugrunde liegen, bleiben nicht harmlos, solange ihr Gegenstand nicht in Jüdinnen und Juden personalisiert wird. In jedem Fall wird eine Feindschaft artikuliert, die jeder rationalen Grundlage entbehrt und sich früher oder später gewaltförmig zu entladen droht. Sie muss in all ihren Ausdrucksformen als solche entlarvt und entschieden zurückgewiesen werden.

Literatur

Marx, Karl (1867): Das Kapital. Erster Band, MEW 23. Berlin, Dietz.

Postone, Moishe (1979): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Krisis. Kritik der Warengesellschaft, online unter: http://www.krisis.org/1979/nationalsozialismus-und-antisemitismus (letzter Zugriff: 15.01.2022).

Der Text basiert in abgeänderter Form auf einem 2016 in der GEZEIT, der Zeitschrift der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaft (GEWI) der Österreichischen Hochschüler:innenschaft (ÖH) an der Universität Wien, erschienenen Artikel und findet sich in dieser älteren Version online unter: https://www.fv-gewi.at/gezeit/archiv/2016/falsche-kapitalismuskritik-und-struktureller-antisemitismus/ (letzter Zugriff: 15.01.2022).

SEBASTIAN SCHNEIDER studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien und verfasst derzeit seine Masterarbeit im Bereich rechtsextreme Verschwörungsideologien und Antisemitismus.

ISOLDE VOGEL ist Historikerin in Wien mit Schwerpunkt in den Bereichen der Shoah-Forschung, (Visuellen) Antisemitismusforschung sowie Geschichte und Ideologie des Nationalsozialismus und Erinnerungspolitik. Sie engagiert sich außerdem seit Jahren gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Antifeminismus.