Der Beitrag von HEMMA MARLENE PRAINSACK geht von einem der bekanntesten Filme Jean-Luc Godards aus, um mit Die Verachtung (F 1963) und im Blick auf Fritz Lang die Geschichte(n) des Kinos von Beginn an vor Augen zu führen. „… on the screen it’s pictures. Motion picture it’s called“.[1]
I. Einleitung
„Das Kino benennt, aber bildlich, die Dinge,
und als Zuschauer zweifle ich keine Sekunde, dass sie existieren.
Dieses ganze Drama und soviel Liebe sind nur Licht und Schatten.
Ein Rechteck weißen Tuchs, einzige Materie, genügt,
um die ganze photogene Substanz so heftig zurückzuwerfen.
Ich sehe, was nicht ist, und doch sehe ich es,
dieses Unwirkliche, ganz eigentümlich. (…)
Mehr noch als eine Idee bringt das Kino der Welt ein Gefühl.“
Jean Epstein (1921)
I. Einleitung
Knapp sieben Jahrzehnte nachdem die ersten Filme durch den Cinématographe von Auguste und Louis Lumière auf rechteckigen weißen Leinwänden projiziert werden, kommt 1963 der Kinofilm Le Mépris (Die Verachtung) nach dem gleichnamigen Roman Il disprezzo (1954) von Alberto Moravia in die Kinos. Sein Regisseur Jean-Luc Godard, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, zeigt uns schon in der ersten Szene, was Film ist, sein Wesen, seine Möglichkeiten und dass Film eine Geschichte hat, Geschichte ist.
Die Geschichte des Kinos ist für Godard die wesentlichste Geschichte, wie er in Histoire(s) du Cinéma zum Ausdruck bringt: „Pour moi que le grand histoire c’est l’histoire du cinema que l’est plus grand des autres, parceque se projete.“ (Godard Seul Le Cinema, TC 00:10:44). In Le Mépris findet ein Teil der Filmgeschichte seine Personifizierung. Godard holt mit Fritz Lang einen der Wegbereiter des Kinos vor die Kamera. Lang verkörpert sich selbst, er tritt als der Filmregisseur Fritz Lang in Erscheinung und verfilmt in der Cinecittà in Rom und auf Capri Homers Odyssee. Sich selbst stellt Godard als Hilfsregisseur in zwei Szenen an die Seite von Fritz Lang.
II. „Das Esperanto für die ganze Welt“
Fritz Lang ist älter als das Kino, er wird am 05.12.1890 in Wien geboren, also fünf Jahre vor der ersten Filmvorführung mit zahlendem Publikum. 1895 sind Filme knapp eine Minute lang und werden stumm, in grauen, schwarz-weißen Schattierungen von surrenden Kinematografenapparaten auf Leinwänden abgerollt. Mit der Erfindung der Kinematografie gelingt es der Menschheit, fortwährend ein bewegtes Abbild der Wirklichkeit mit „kondensiertem Leben“ (Lang/Beyfuss 1924: 28) zu schaffen. Über drei Jahrzehnte kommt Kino ohne gesprochene und hörbare Worte aus, es ist einer seiner Wesenszüge, stumm zu sein. Das Kino transformiert das Erzählen von Geschichte(n) nachhaltig, der Blick durch das Auge der Kamera beeinflusst die Wahrnehmung und eröffnet „der Menschheit einen irreversibel verändernden Blick auf die Welt und sich selbst“ (Prainsack 2023: 20–22).
Als Fritz Lang 1916 als Manuskriptautor zum Film kommt, hat das Kino bereits seinen ersten großen Umbruch erlebt: die wandernden Kinematografentheater werden in neu erbauten Lichtspieltheatern sesshaft, ab 1912 etabliert sich der abendfüllende Autorenfilm und die Unterhaltungsform Kino hat sich als eine „Massenkunst und Kassenkunst“ (Bloem 1922: 13) erwiesen. Lang verfasst Drehbücher für die damals sehr populären Detektivserien Stuart Webbs, Joe Deebs oder Die Herrin der Welt von Joe May, ehe er ab 1919 seine Karriere als Regisseur beginnt. Seine Stummfilme Der müde Tod (D 1921), Dr. Mabuse, Der Spieler I–III (D 1921/22), Die Nibelungen (2 Teile, D 1922-1924), Metropolis (D 1925/26) und Die Frau im Mond (D 1928/29) sind wegweisend für das Kino der Weimarer Republik und das internationale Filmschaffen. Im stummen Spielfilm sieht Lang „das Esperanto für die ganze Welt – und ein großes Kulturmittel. Man braucht, um seine Sprache zu begreifen, nichts anders als zwei offene Augen“ (Lang/ Beyfuss 1929: 33).
Die Tatsache, dass die Zuschauer*innen gelernt haben, die Sprache des Filmes mit ihren Augen zu lernen, ist für Godard besonders wichtig. Im Interview mit Alexander Kluge weist er auf den Umstand hin, dass seine Mutter vor seiner Geburt am 03.12.1930 nur Stummfilme gesehen haben kann (Kluge 2002: 00:20:25). Beim Betrachten der Filme der einflussreichen Regisseure David Wark Griffith, Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang oder Carl Theodor Dreyer gibt es für Godard – außer einen technischen – keinen Unterschied zwischen Stummfilm und Tonfilm. In Le Mépris macht Godard die (Film-)Sprache und ihr Verstehen zum Leitfaden und Fritz Lang zu deren unermüdlichen Lehrmeister.
III. Ouverture
Über seinen ersten Tonfilm, den Lang 1930 mit dem Arbeitstitel Mörder unter uns dreht, sagt er „daß mein Tonfilm in erster Linie ein Film sein wird. Dazu sind Sprengung der Einheit des Ortes, Bewegung und Handlung unerlässliche Vorbedingung“ (Lang 1930: 3). 1931 kommt der Film unter dem Titel M – Eine Stadt sucht einen Mörder mit Peter Lorre in der Hauptrolle in die Kinos und sichert dem Regisseur Weltruhm. Lang weist M als Regisseur in Le Mépris als seinen Lieblingsfilm aus (Le Mépris, 00:22:54).
Sieht man Godards Filme, merkt man ihnen an, dass er sich der Störung der Einheiten des Filmischen bedient und offenkundig zeigt, dass Film etwas Gemachtes ist, das aus Bild und aus Ton und auch aus Farben besteht. Während des gesamten Films trifft man auf Zitate aus der Welt der Literatur, der Filmgeschichte und der bildenden Kunst. Farben haben eine eigene Zuschreibung, begleiten die Protagonisten oder Motive ebenso wie die Musik. Es gibt nichts Zufälliges im Filmwerk von Jean-Luc Godard: „Er war Autor, er hat seine Filme mit der Kamera geschrieben“ (Müller 2008b: 572). In Godards Filmschaffen sieht der Dramatiker Heiner Müller „eine Anwendung von Brechts Ästhetik auf das Kino“, bei dem man „nicht einfach ein Abbild“ sieht, sondern auch, „wie Filme gemacht werden, daß Filme Arbeit sind und nicht Naturprodukte wie im traditionellen Kino“ (Müller 2005: 265).
Auch der Filmbeginn von Le Mépris zeugt von dieser Offenbarung. Die Eröffnungsszene von Le Mépris, dessen Titel in rot auf schwarzem Hintergrund mit dem Akkord der Ouvertüre eingeblendet wird, führt die Zuschauer*innen inmitten der Kulissen der heruntergekommen wirkenden Cinecittà, jener römischen Filmstadt, die 1937 von Mussolini eröffnet wird und in den 1950er-Jahren mit dem Italo-Western ihre Glanzzeit erreicht. Im Hintergrund außerhalb der Mauern der Cinecittà ragen moderne Apartmenthäuser in die Höhe, die eine Andeutung auf die nächste Szene sind, in der das französische Ehepaar Camille Javal (Brigitte Bardot) und der Autor Paul Javal (Michel Piccoli) im Schlafzimmer ihres neu bezogenen Appartements zu sehen ist.
In der Filmkulisse ist eine Kameraschiene aufgebaut, der Kameramann Raoul Coutard sitzt am Kamerawagen, der von einem Assistenten in die Blickrichtung des Publikums geschoben wird, dicht neben der Kamera befinden sich ein Kamera- und ein Tonassistent. Eine Frau (Giorgia Moll) bewegt sich langsam vor Coutards Kamera auf die Zuschauer*innen zu. Gleichzeitig hören wir Godards Stimme aus dem Off, der – anstelle des Vorspanns – während der gesamten Szene die handelnden Personen des Films, also die Schauspieler*innen und den Stab nennt. In der Originalfassung spricht Godard im Präsens, der Film passiert im Hier und Jetzt, er spricht über den im Bild bei der Arbeit zu sehenden Kameramann mit den Worten „Les prises de vue sont de Raoul Coutard“ (Die Aufnahmen stammen von Raoul Coutard) (Le Mépris 00:01:28). In der deutschen Synchronfassung wird Godards Text in der Vergangenheit wiedergegeben, so wird dieser Satz mit „Die Kamera führte Raoul Coutard“ übersetzt, was die multilingualen Schwierigkeiten der Synchronisation deutlich werden lässt.
Godard weist bewusst auf diesen Umstand hin, er lässt die Charaktere Camille und Paul Javal und den amerikanischen Produzenten Jerry Prokosch (Jack Palance) lediglich in der jeweiligen Muttersprache miteinander kommunizieren. Prokosch spricht und versteht nur Englisch und die Sprache seines Geldes, mit dem er alles und jeden kaufen zu können glaubt – eine Haltung, die ihm die ausgesprochene Verachtung von Fritz Lang einbringt „Ein Filmproduzent ist eine Sorte Mensch, ohne die ich sehr gut auskommen würde“ (Le Mépris, 01:12:00).
Um mit Camille, Paul Javal und Fritz Lang sprechen zu können, ist Prokosch auf die Dolmetscherin Francesca Vanini (Giorgia Moll), seine Assistentin und Freundin angewiesen. Sie übersetzt Gesagtes in die jeweilige Muttersprache und wiederholt somit jeden Satz. Nur Fritz Lang wechselt spielerisch zwischen Französisch und Englisch und zitiert Dante oder Hölderlin auf Deutsch. Paul Javal kann Lang folgen, er und der Regisseur verstehen sich, weil Literatur und Film ihnen verwandte Begriffe sind.
IV. B. B. et Hollywood
Während eines gemeinsamen Besuchs im Silver Cine antwortet Fritz Lang auf die Frage von Camille, ob er mit ihnen nach Capri kommen wird:
„Chaque matin, pour gagner mon pain./
Je vais au marché où l’on vend des mensonges./
Plein d’espoir. Je prends place parmi les vendeurs“
(Le Mépris, 01:13.20).
Camille, die in dieser Szene eine schwarze Perücke trägt, welche an den Haarschnitt von Anna Karina in Vivre sa vie (1962) erinnert, fragt Lang, was das sei. Lang antwortet: „Hollywood. Un extrait de la ballade du pauvre B. B.“. Während dieses Satzes geht Camille aus dem Bild, ihr Mann Paul erkennt B. B. – Bertolt Brecht. An dieser Stelle ist das B. B. in Anspielung auf Hollywood, das Starsystem und die verwandelte Schauspielerin Brigitte Bardot, bemerkenswert. Bertolt Brecht, der mit Lang am Film Hangmen also die! (1943) zusammengearbeitet hat, schreibt in seinen Hollywoodelegien:
„JEDEN MORGEN, MEIN BROT ZU VERDIENEN
Fahre ich zum Markt, wo Lügen gekauft werden –
Hoffnungsvoll
Reihe ich mich ein unter die Verkäufer.
DIE STADT HOLLYWOOD HAT MICH BELEHRT
Paradies und Hölle
Können eine Stadt sein: für die Mittellosen
Ist das Paradies die Hölle.
IN DEN HÜGELN WIRD GOLD GEFUNDEN
An der Küste findet man Öl.
Größere Vermögen bringen die Träume vom Glück
Die man hier auf Zelluloid schreibt.
ÜBER DEN VIER STÄDTEN KREISEN DIE JAGDFLIEGER.
Der Verteidigung. In großer Höhe
Damit der Gestank der Gier und des Elends
Nicht bis zu ihnen heraufdringt.“
(Brecht 1997: 376)
Godard legt hiermit auch seine Einflüsse offen. Brecht und dessen „Verfremdung“ finden in den Filmen und Verfahren Godards Anwendung. Godard zitiert durch Lang Brecht und die Zuschauer*innen können ihm folgen, es sich selbst erschließen, denn durch die Trennung, die Verfremdung, bekommt „jeder Zuschauer – und das ist das Demokratische daran – die Möglichkeit, den Zusammenhang mit Hilfe seiner eigenen Erfahrungen herzustellen. Das ist ein absolut anti-diktatorisches Theater“ (Müller 2008b: 564). In diesem Sinne kann das Werk von Godard uns als Einladung dienen, seine Filme in allen Wortbedeutungen zu schauen und dabei sehen zu lernen.
HEMMA MARLENE PRAINSACK
ist Film- und Theaterwissenschaftlerin. In ihrer Dissertation widmet sie sich dem Filmstar Harry Piel, dem Sensationsfilm und dem Motiv der Panik zwischen Kaiserzeit und Nationalsozialismus. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verein Institut für Kulturstudien. Davor arbeitete sie in der Generaldirektion des Österreichischen Rundfunks und bei zahlreichen Produktionen am Burgtheater Wien im Bereich Regie und Video.
Literatur
Beyfuss, Edgar/Kossowksy Arthur (1929): Das Kulturfilmbuch, Berlin: Carl P. Chryselius’scher Verlag.
Bloem, Walter d. J. (1922): Seele des Lichtspiels. Ein Bekenntnis zum Film, Leipzig: Grethlein & Co.
Diedrichs, Helmut H. (2004): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Mélièse bis Arnheim, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Kluge, Alexander (2002): 10 vor 11: Blinde Liebe/Éloge de l’amour, dcpt, 04.07.2002.
Müller, Heiner/Hörnik, Frank (Hg.) (2005): Krieg ohne Schlacht. Ein Leben in zwei Diktaturen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Müller, Heiner/Hörnik, Frank (Hg.) (2008a): Gespräche 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Müller, Heiner/Hörnik, Frank (Hg.) (2008b): Gespräche 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Prainsack, Hemma Marlene (2023, in Vorbereitung): Grober Unfug – Unmögliche Sensationen. Tollkühne Abenteuer. Panik. Harry Piel und der Sensationsfilm zwischen Kaiserzeit und Nationalsozialismus, Dissertation Universität Wien.
Tröhler, Margrit/Schweinitz, Jörg (Hg.) (2016): Die Zeit des Bildes ist angebrochen! Französische Intellektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino – Eine historische Anthologie 1906–1929. Berlin: Alexander Verlag, Darin: Jean Epstein, Bonjour Cinema, 1921.
Anmerkung
[1] Fritz Lang in Le Mépris (F 1963, TC: 00:18:35).