ISRAEL-KRITIK – ANTISEMITISMUS: VERSUCH EINER ABGRENZUNG (2003) VON WOLFGANG NEUGEBAUER

(Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag zum Thema >Israel und Antisemitismus< erschien in der Ausgabe 11/2003 der ZUKUNFT von Seite 12 bis 17 und ist fast 20 Jahre nach seinem Entstehen und Erscheinen von bemerkenswerter Aktualität und Dringlichkeit. Wir danken Wolfgang Neugebauer für die Zusammenarbeit im Rahmen dieser nur leicht überarbeiteten Online-Publikation, mit der wir auch im digitalen Raum die Diskussion zu unserer nächsten Ausgabe 02_03/2022 mit dem Schwerpunkt >Israel und Antisemitismus< eröffnen wollen.)

I. Einleitung

Meine Stellungnahme wurde durch den Kommentar von Chefredakteur Albrecht Karl Konecny „Eine Gesellschaft der Gewalt“ (Zukunft, 3/2003) und die Nichtveröffentlichung eines darauf bezogenen Leserbriefes von Karl Pfeifer ausgelöst. AKK hat in diesem Artikel die Meinung vertreten, dass die israelische Gesellschaft eine der „Gewalt“ sei, die ihr moralisches Kapital „fast schon verspielt“ habe. Für diese schwerwiegende Aussage, die mir als ein undifferenziertes Pauschalurteil erscheint, wurde als Beleg im Wesentlichen die – ausführlich geschilderte – diskriminierende Behandlung eines Palästinensers durch eine israelische Polizistin anlässlich einer Kontrolle angeführt. Auf meine Beschwerde teilte mir AKK mit, dass die Schilderung dieses Vorfalls aus der israelischen Zeitung Yediot Acharonot stammt und der Ausspruch vom Verspielen des moralischen Kapitals durch Ariel Sharon von Daniel Barenboim. Tatsächlich schließt AKK an das Barenboim-Zitat über Sharon seine viel weitreichendere, mir überzogen erscheinende Aussage an: „Mir scheint nicht nur Ariel Sharon verspielt es, die israelische Gesellschaft hat es schon fast verspielt.“ Im Übrigen ist dazu zu bemerken: Wenn ich jemanden zustimmend zitiere bzw. in meine Argumentationskette einbaue, hafte ich für das als Zitat Übernommene mit. (Ich bin auch schon von Jörg Haider geklagt worden, weil ich ein Zitat von Hans Henning Scharsach zustimmend gebracht habe.)

Was den von AKK anhand des israelischen Zeitungsberichts dargestellten Vorfall betrifft, ist eine solche Demütigung eines Menschen zu Recht zu kritisieren, kann sich jedoch in dieser Form durchaus auch in einer europäischen oder nordamerikanischen Demokratie abspielen. Z. B. wird im Jahresbericht 2002 von Amnesty International der Fall eines 25-jährigen Kongolesen angeführt, der bei einer Personenkontrolle in Wien von Polizisten zu Boden geworfen, getreten und als „dummer Nigger“ bezeichnet worden sein soll (Kurier, 29.05.2003). Trotzdem erklärte der österreichische ai-Vertreter Heinz Patzelt – zu Recht –, Österreich sei immer noch „ein einwandfrei demokratisches Land“. Niemand käme auf die Idee, wegen solcher Skandale und krimineller Handlungen von Angehörigen der Exekutive die gesamte österreichische Gesellschaft als eine der Gewalt zu qualifizieren. Auch die SPÖ hat den für den – ungleich schwerwiegenderen – Fall Marcus Omofuma letztverantwortlichen Innenminister aus ihren Reihen, Karl Schlögl, nicht desavouiert. AKK hätte sich vermutlich gewehrt, wenn eine israelische Zeitung aus dem Fall Omofuma eine Brutalisierung der gesamten österreichischen Gesellschaft abgeleitet hätte. Solche Übergriffe in einem demokratischen Rechtsstaat sind jedenfalls mit menschenrechtsverletzenden Praktiken in einer Diktatur in keiner Weise gleichzustellen. Auf diese Weise wird aber der Unterschied zwischen der Demokratie Israel und den arabischen Diktaturen und autoritären Regimes relativiert. Dass die von AKK zitierten kritischen Stimmen von einer israelischen Zeitung bzw. von einem bekannten jüdischen Künstler stammen, weist im Übrigen auf das Maß der Meinungsfreiheit, die Gegensätzlichkeit und den Pluralismus in der israelischen bzw. innerjüdischen Diskussion hin.

II. Von besonderen Verpflichtungen

Da ich kein Experte für Israel oder Nahost bin, kann ich keine Analyse der israelischen Politik und Gesellschaft liefern; vielmehr geht es mir um die Problematik von Israelkritik und Antisemitismus. Mein Zugang zur Thematik resultiert aus meiner Beschäftigung mit europäischer und österreichischer Zeitgeschichte, mit Antisemitismus, Nationalsozialismus und Rechtsextremismus. Für mich sind der Zionismus und die Gründung Israels Ergebnis weit in die Geschichte zurückreichender Diskriminierungen und Verfolgungen der Jüdinnen und Juden und im Besonderen der Shoa; für mich ist Israel der Staat, der den Flüchtlingen vor Antisemitismus und Judenverfolgung in Europa und im arabischen Raum eine sichere Heimat geboten hat, nicht zuletzt ist es auch das Land von aus Österreich Vertriebenen und Überlebenden des Holocaust, zu denen wir vielfältige Verbindungen haben. Daher ist Israel nicht ein x-beliebiger Staat, sondern ein Staat, dem gegenüber die Deutschen und ÖsterreicherInnen aufgrund historischer Implikationen besondere Verpflichtungen haben.

„Der Holocaust verbindet uns unauflöslich mit Israel“, stellte der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 im Bundestag fest. Die Mittäterschaft vieler Österreicher an den NS-Verbrechen, die Nutznießerschaft von noch mehr ÖsterreicherInnen an Vertreibung und „Arisierung“, die Ignoranz und Passivität der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber dem Leid der Verfolgten, denen nur wenige halfen, bedingen bis heute eine politisch-moralische Verpflichtung für Österreich – nicht in Form einer Erbschuld eines jeden Einzelnen, sondern in dem Sinne, dass wir uns den Belastungen unserer Geschichte stellen, uns der Opfer und deren Leides erinnern, den Ursachen und Rahmenbedingungen dieser in der Geschichte beispiellosen Verbrechen nachgehen und im Übrigen alles tun, um Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Dass materielle Schäden der Opfer zumindest symbolisch „wiedergutzumachen“ sind, gehört gleichfalls zu dieser Verpflichtung. Es war ein langwieriger Prozess, bis sich Österreich durchgerungen hat, diese Sichtweise anzuerkennen; Franz Vranitzky hat 1991 die angemessenen Worte gefunden und mit dem Nationalfonds 1995 und dem Abkommen von Washington 2001 sind entsprechende Handlungen Österreichs gefolgt. Diese neue Politik Österreichs fand – wie sich bei den Staatsbesuchen von Bundeskanzler Vranitzky und Bundespräsident Klestil zeigte – auch in Israel Anerkennung, wenngleich die Regierungsbeteiligung der Haider-FPÖ vieles wieder zunichte machte.

Antisemitismus und Feindschaft gegen die Überlebenden des Holocaust bzw. deren Duldung und verschleierte Formen dürfen bei uns keinen Platz haben. Für mich persönlich ist daher – neben der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Nationalsozialismus, Widerstand und Verfolgung – auch die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Antisemitismus und „Revisionismus“, der Leugnung oder Relativierung des Holocaust, zu einem unverzichtbaren Teil meiner Arbeit geworden; die Mitwirkung in der Aktion gegen den Antisemitismus, zu der mich Erika Weinzierl veranlasst hat, und die Solidarität mit dem in seiner Existenz von Anfang an bedrohten und ständig angefeindeten Israel sind mir wichtige Anliegen. Zu dieser Solidarität gehört auch das Verständnis dafür, dass Israel aus der historischen Erfahrung der Judenverfolgung und des Holocaust seine Sicherheit nicht dem guten Willen der internationalen Gemeinschaft anvertraut, sondern auf seine eigene Kraft, auf die Stärke seiner Streitkräfte baut.

Solidarität heißt nicht, alles, was in Israel geschieht, was israelische Politiker und Parteien machen oder wollen, automatisch gutzuheißen; Kritik an menschenrechtswidrigen Praktiken in den besetzten Gebieten oder an verfehlter Politik, wie z. B. dem Ausbau der Siedlungen, muss zulässig sein und ist – nicht zuletzt im Interesse einer demokratischen Entwicklung in Israel selbst – notwendig. Auch das Eintreten für einen palästinensischen Staat halte ich für legitim, wenn damit nicht das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird.

III. Weil Worten Taten folgen

Leider hat der Antisemitismus – ungeachtet der geringen Zahl der österreichischen Jüdinnen und Juden – keineswegs seinen hohen Stellenwert verloren; er ist weiterhin nicht nur in der Bevölkerung verbreitet, sondern auch wesentlicher Bestandteil rechtsextremer Ideologie und Propaganda. Es ist kein Zufall, dass ich in Folge meines antifaschistischen Auftretens in der Öffentlichkeit ständig anonyme Zuschriften antisemitischen Charakters erhalte: „Du Judenschwein wir werden dich T..schlagen“ (E-Mail von „Reichssturm3″) oder „na sie alter dreckjud, warum fahren sie nicht nach auschwitz und bleiben für immer dort“ (E-Mail von „foxylady“). Die Israelitische Kultusgemeinde und Simon Wiesenthal haben gleichfalls zahlreiche Ordner voll mit antisemitischen Briefen. Dass solche Bekundungen nicht nur verbal erfolgen, sondern dass den Worten auch Taten folgen, ist eine Erfahrungstatsache; erst vor kurzem wurde ein orthodoxer Rabbiner in Wien-Leopoldstadt aufgrund seines Äußeren von Skinheads attackiert und verletzt.

Der Antisemitismus ist daher eine reale Gefahr sowohl für ein tolerantes demokratisches Klima als auch für die Sicherheit von Menschen in unserem Land. Dazu kommen neue Bedrohungen, die sich aus dem Auftreten militanter arabischer und fundamental-islamischer Gruppen in Österreich und deren Zusammenwirken mit rechts- und linksextremen Kräften ergeben. Diese neue arabisch-islamische Israelfeindlichkeit richtet sich nicht nur gegen die israelische Politik und den Staat Israel, sie arbeitet auch mit eindeutig antisemitischen Stereotypen und bedroht alle Jüdinnen und Juden – ob in Israel oder sonst wo auf der Welt. Insbesondere in Europa ist es zu einer beängstigenden Zunahme antisemitischer Übergriffe gekommen.

IV. Der Antiimperialismus als Antisemitismus

Ein Musterbeispiel für diese neue Aktionseinheit rechts- und linksextremer Israelfeinde und militanter arabischer Kräfte unter dem Banner des „Antizionismus“ ist die Antiimperialistische Koordination (AIK) und die mit dieser personell und inhaltlich eng verbundene Revolutionär Kommunistische Liga (RKL), auf deren Aktivitäten in einem auf der Homepage des DÖW veröffentlichten Beitrag der Aktion gegen den Antisemitismus ausführlich eingegangen wird. Die RKL fordert immer wieder ein „arabisches Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer“, in dem die „Besiedlung in den Diensten des Imperialismus […] nicht geduldet“ werde und „rückgängig gemacht werden“ müsse. Dies ist auch das vorrangige Ziel der AIK. So nahm ein AIK-Führungskader im palästinensischen Flüchtlingslager Baka bei Amman gegen die „Zweistaatenlösung“ Stellung und meinte weiter: „Die Zerstörung des Zionismus und eines so genannten Staates Israel ist der einzige Weg zur Gerechtigkeit.“ Israel nannte er bei dieser Gelegenheit „die schlimmste Diktatur der Welt, mit einem Apartheidregime schlimmer als in Südafrika“. Was die AIK demgegenüber vom irakischen Regime und Saddam Hussein hielt, zeigt sich in der Tatsache, dass sie – offenbar auf den Spuren von Jörg Haider – zweimal „Solidaritätsdelegationen“ in den Irak sandte. Die AIK wirkt u. a. mit dem Internationalen Palästinakomitee zusammen, bei dessen Demonstration im Dezember 2001 eine Broschüre verteilt wurde, in der offen der Holocaust relativiert und Sympathie gegenüber neonazistischen Geschichtsfälschern gezeigt wurde.

Wie die Neonazis glauben auch die Islamisten aus dem Palästinakomitee, dass die Juden oder „Zionisten“ die „Schlüsselstellungen der US-Administration […] zu weit mehr als die Hälfte (einige Quellen behaupten bis zu 90 Prozent)“ einnehmen. Auch die alte Nazi-Legende von der „Beherrschung der Medien“ durch die Juden wird dort aufgewärmt. Abgerundet wird das Machwerk mit Parolen wie „Recht auf Heimat für alle Völker: Palästina den Palästinensern wie Österreich den Österreichern!“. Zu diesem Artikel zur AIK erhielt ich zwei Stellungnahmen, von John Bunzl und von 66, zum Großteil sich selbst der KPÖ zurechnenden Personen. Darin wurde dem DÖW und mir unterstellt, jede Israel-Kritik als Antisemitismus zu qualifizieren. Mit keinem Wort wurde darin auf die konkreten Vorwürfe gegen die AIK und deren Bundesgenossen, die sich auf Veranstaltungen, Reden, Transparente und Publikationen bezogen, eingegangen. John Bunzl, akademischer Nahostexperte, verwendet folgende „Argumente“: „Schwachsinn“ (zweimal), „erstaunliche Ahnungslosigkeit“, „Profilierungsneurosen und Identitätsakrobatik verkorkster deutscher (und österreichischer) Linker, die (in maßloser Selbstüberschätzung) endlich einmal auf der ,richtigen‘ Seite gegen den NS kämpfen und mehr noch den psychologischen Effekt genießen wollen, andere Linke des Antisemitismus zu zeihen“. Weder von Bunzl noch von den KPÖ-SympathisantInnen erfolgte eine eindeutige Distanzierung von den antisemitischen Aussagen im AIK-Umfeld.

Wenn auch jeder Linke mit Entrüstung den Antisemitismusvorwurf von sich weist, so sind eine linke Position, eine sozialdemokratische, kommunistische oder antifaschistische Einstellung oder eine Vergangenheit als Widerstandskämpfer oder Verfolgter noch keine Garantie für Freisein von Antisemitismus. In mehreren seriösen Publikationen (u. a. von Margit Reiter, Thomas Haury, Martin W. Kloke, Micha Brumlik) wird das Thema Antisemitismus von links behandelt, und es gibt unzählige historische Beispiele für antisemitische Aussagen und Haltungen von einzelnen Repräsentanten der Linken bzw. war die Politik der so genannten realsozialistischen Staaten immer wieder durch antisemitische Propaganda und Handlungen, kaschiert als „Antizionismus“, bis hin zu repressiven Exzessen („Ärzteverschwörung“ unter Stalin, Slanskyprozess in CSR 1952, Vertreibung von 20 000 jüdischen Polen unter Innenminister Moczar 1968) charakterisiert. In unserer Zeit sind einst linke Galionsfiguren wie Roger Garaudy, Theoretiker des Eurokommunismus, und Horst Mahler, Protagonist der APO und Anwalt der RAF, offen ins Lager des Rechtsextremismus und Antisemitismus übergegangen.

Der Antisemitismus hat über die traditionellen Vorurteile und Stereotypen hinaus neue Formen entwickelt, bei denen eine Verquickung von Feindbildern stattfindet: Juden im eigenen Land, Juden in Israel, Juden in den USA („Ostküste“) werden zum „Weltjudentum“, zur „jüdischen Lobby“, zur „Holocaust-Industrie“ hochstilisiert. Eine gängige These des „Revisionismus“, also der Holocaust-Leugnung und -Verharmlosung, lautet: die „6-Millionen-Lüge“ dient dazu, dass die Juden/Israel Deutschland (und Österreich) auf ewig erpressen können.

Eine Erweiterung des Feindbildes Israel ergab sich im Zuge der Zuspitzung des Irakkonfliktes, indem die US-Juden/Israel für die Politik des US-Präsidenten Bush verantwortlich gemacht werden. So sprach der FPÖ-Europaabgeordnete Hans Kronberger von der „Umwandlung des gesamten Vorderen und Mittleren Orient in ein amerikanisch-israelisches Protektorat“ (Zur Zeit, 7-8/2003) und berief sich dabei auf den so genannten „Wolfowitz-Plan“, war aber nicht in der Lage, in seiner Gegendarstellung an das DÖW den Beweis für diese Behauptung aufzustellen und diesen angeblichen Plan des stellvertretenden US-Verteidigungsministers vorzulegen.

Die Eskalation der Gewalt in Israel / Palästina durch Terror und militärische Aktionen hat in der europäischen Öffentlichkeit vielfach zu einseitiger Parteinahme geführt. Radikale Israel-Feindschaft ist heute nicht nur bei rechten und linken Extremisten zu finden, sondern auch bei demokratischen Linken, die sich mit den Schwächeren in diesem Konflikt, den Palästinensern, solidarisieren. Eine gnadenlose Ablehnung des Zionismus und des jüdischen Staates findet sich etwa bei Andrea Komlosy (Die Presse, 27.07.2002): Israel sei ein von den Großmächten instrumentalisierter „Brückenkopf“, „ein geopolitisches Instrument für die politische, wirtschaftliche und militärische Kontrolle von Westasien, Nordostafrika und der Golfregion“, ein Fremdkörper, der auch durch den Holocaust keine Daseinsberechtigung bekomme. Allen Ernstes wird der Plan des deutschen Philosophen Wolfgang Harich von 1970, die Juden „beiderseits der ohnehin entvölkerten Zonengrenze“ (zwischen BRD und DDR) anzusiedeln, aus der Versenkung geholt und Israel in die Nähe von Nazimethoden gerückt („Hitlers ethnische Neuordnungspläne nahmen posthum Gestalt an.“)

V. Und die Sozialdemokratie?

Für mich ist es besonders schmerzlich, dass europäische und österreichische Sozialdemokraten heute an der Spitze der Israel-Kritik stehen. Diese Kritik richtet sich primär gegen Politik und Person von Ministerpräsidenten Sharon, der aus sozialdemokratischer Sicht natürlich viele Angriffsflächen bietet und als rechtsextrem abqualifiziert wird. Letztlich richtet sich aber eine einseitige, den Terror und die Gewalt der anderen Seite vernachlässigende oder relativierende Kritik gegen die fundamentalen Interessen Israels. Das Kalkül der palästinensischen Seite besteht ja darin – und deswegen wurden die Friedensbemühungen des US-Präsidenten Clinton und des israelischen Ministerpräsidenten Barak zunichte gemacht –, Israel durch Terror zu immer härteren Gegenmaßnahmen zu provozieren, um die Weltöffentlichkeit gegen Israel aufzubringen, Israel zu isolieren und zu ächten, um sodann Sanktionen und ein militärisches Eingreifen der UNO zu bewirken. Diese Politik ist zwar angesichts der Dominanz der USA im Nahen Osten illusionär, doch wirken politische Kräfte in Europa durch einseitige Unterstützung der Palästinenser in diese Richtung.

So haben Sozialdemokraten, unter ihnen der von mir durchaus geschätzte Hannes Swoboda, im Europäischen Parlament (mit)verhindert, dass der schwere Vorwurf (u. a. in „Die Zeit“, Dossier, 06.06.2002), dass Hilfsmittel der EU an die palästinensische Autonomiebehörde von Arafat zu Terrorzwecken weitergeleitet worden seien, in einem Untersuchungsausschuss geklärt wird. In seiner Rede in Strassburg zur Irakkrise am 12.02.2003 hat Hannes Swoboda u. a. Israels Nichterfüllung der UN-Resolution aus dem Jahr 1947 angeführt. Offenbar war der Teilungsplan der UNO gemeint, der allerdings nicht von Israel, sondern von sämtlichen arabischen Staaten nicht anerkannt worden ist und zu deren Angriff auf den neuen Staat Israel führte. Dieser Teilungsplan und diese UNO-Resolution sind längst nicht mehr Gegenstand der internationalen Politik, zumal sich auch die arabische Seite auf die Grenzen von 1967 bezieht.

VI. Conclusio

Meine Anführung von rechts- und linksextremen, militant arabischen, freiheitlichen und sozialdemokratischen Israel-Kritikern dient nicht dem Zweck, alle als Antisemiten in einen Topf zu werfen. Im Gegenteil, mir geht es um Differenzierung und Klarstellung. Im Interesse einer präzisen und fairen Diskussion scheint es mir sinnvoll zu sein, die Grenze zwischen berechtigter oder zulässiger Kritik an Israel und Antisemitismus und dessen Spielformen im Gewand des Antizionismus zu ziehen zu versuchen. Ich möchte – unabhängig von AKK, den ich seit 38 Jahren als Demokraten und Antifaschisten kenne und nicht in die Nähe von Antisemitismus rücken möchte – einen solchen Versuch unternehmen und einige Kriterien für eine solche Unterscheidung angeben:

– Antisemitismus liegt dann vor, wenn traditionelle antisemitische Stereotypen und Vorurteile zum Tragen kommen, wie z. B. Weltherrschafts- und Weltverschwörungstheorien im Sinne der (gefälschten) „Protokolle der Weisen von Zion“. Die im Zuge des Irak-Krieges stark zugenommene Antiimperialismus- und Antizionismus-Agitation arbeitet mit dem Klischee einer von der „jüdischen Lobby“ beherrschten USA, die in Wirklichkeit nur ein Werkzeug Israels und der US-Juden sei. ZIOG („Zionist occupied government“) lautet der Ausdruck amerikanischer Rechtsextremisten für ihre Regierung.

– Dass Terror und Gewalt gegen Menschen in Israel (und Jüdinnen und Juden anderswo) bzw. deren Gutheißen und Umdeuten zum „Befreiungskampf“ als Antisemitismus zu qualifizieren sind, muss wohl nicht weiter argumentiert werden. Aber auch die bewusste Ignoranz, das Schweigen zu Terroranschlägen, das fehlende Mitgefühl für diese Opfer, die Nichterwähnung von vorangegangenen Terroranschlägen im Falle der Stellungnahmen gegen (nachfolgende) israelische Militäraktionen, die breite Darstellung verwundeter oder getöteter arabischer Kinder und die Ausblendung israelischer Opfer in Medienberichten sind – wenn diese Einseitigkeit zur Methode wird – als Indizien für eine antisemitische Grundeinstellung anzusehen. In diese Richtung weisen auch Medien-Kommentare, in denen ständig die israelische Politik für Terroranschläge von Fundamentalisten (von Pakistan über Saudi-Arabien bis Algerien) verantwortlich gemacht wird und „Druck“ auf Israel verlangt wird, um den Terror zu bekämpfen.

– Stellungnahmen, in denen Israel das Existenzrecht bzw. sein Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen wird bzw. der „Zionismus“, also die Idee und Bewegung, einen nationalen Staat der Juden in Palästina zu errichten, verteufelt wird. Wer auf Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen mit Kräften kooperiert, die einen „arabischen Staat Palästina“ vom „Fluss bis zum Meer“ fordern, und sich von solchen extremistischen Losungen nicht distanziert, muss den Antisemitismusvorwurf in Kauf nehmen. Der Wunsch zur Vernichtung Israels wird auch dadurch nicht legitim, wenn er mit linker antikolonialistischer und antiimperialistischer Phraseologie verkleidet wird.

– Ständig einseitige Kritik an Israel, an Handlungen, Vorfällen und Zuständen und gleichzeitiges Schweigen zu weitaus ärgeren Verhältnissen in arabischen und islamischen Staaten, die sogar im Falle von Diktaturen oder Terrorförderern wie Irak, Libyen und Iran hofiert und international salonfähig gemacht werden. Hier kann allenfalls eingewendet werden, dass nicht ideologische Voreingenommenheit, sondern wirtschaftliche Nützlichkeitserwägungen (Öl!) maßgeblich sind. Einseitige Maßstäbe, die nur gegen Israel gerichtet sind, sollen den jüdischen Staat negativ aussondern und delegitimieren. Diesem Ziel dienen auch an den Haaren herbeigezogene Vergleiche Israels mit NS-Deutschland oder mit dem Apartheidregime in Südafrika.

Abschließend ist zu bemerken, dass die Zeiten, in denen Österreich als neutrales Land zwischen den Blöcken eine spezielle Rolle in der Weltpolitik und im Besonderen im Nahen Osten spielen konnte, durch die geänderte weltpolitische Lage nach 1989 und durch die Integration Österreichs in die Europäische Union ohnehin vorbei sind. Österreich ist als Vermittler nicht gefragt, und Solidarität mit fragwürdigen arabischen Regimes oder Bewegungen schadet den Interessen unseres Landes. ÖsterreicherInnen sind – ebenso wie Deutsche – gut beraten, sich nicht in die vorderste Front der Israel-Kritiker bzw. der Nahostpolitik zu stellen.

WOLFGANG NEUGEBAUER
ist ein österreichischer Historiker und war langjähriger wissenschaftlicher Leiter des
Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW). Er ist Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Wien.

Vgl. auch Neugebauer, Wolfgang/Schwarz, Peter (2005): Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Integration ehemaliger Nationalsozialisten, Herausgegeben vom Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA), Wien: Czernin Verlag, online unter: https://www.bsa.at/einzelpublikationen/der-wille-zum-aufrechten-gang (letzter Zugriff: 03.02.2022).