„Ich habe bei Godard-Filmen immer sehr lachen müssen.“ Ein Gespräch über die Lebensnotwendigkeit der Künste – VON ELISA ASENBAUM, THOMAS BALLHAUSEN UND LORENA PIRCHER

Die österreichische Künstlerin ELISA ASENBAUM hat mit AUGUSTINAselbst (2016) einen vielbeachteten Roman vorgelegt, der auf spielerische Weise Naturwissenschaft, Philosophie und eine packende Story verbindet. Anlässlich des Erscheinens der englischsprachigen Version AUGUSTINAself (2022) führt sie gemeinsam mit THOMAS BALLHAUSEN und LORENA PIRCHER ein Gespräch über die Lebensnotwendigkeit der Künste, die Herausforderungen des Übersetzens und den Einfluss von Jean-Luc Godard auf ihr Schaffen.

LORENA PIRCHER: AUGUSTINAself folgt einem faszinierenden Aufbau, der zwei parallele Handlungsstränge balanciert. Inwiefern spielten literarische Einflüsse oder Vorbilder bei deinem Verständnis der Form des Romans eine Rolle?

ELISA ASENBAUM: Ich komme eigentlich aus der Konzeptkunst und habe die gesamte Erzählung entsprechend strukturiert. So überlege ich mir immer zuerst Struktur und Inhalte, transponiere diese dann schließlich sprachlich. Was du bezüglich der literarischen Einflüsse angesprochen hast, das zeigt sich etwa in dem Ideenfunken der Umkehrung: sehr viele Literat*innen beschreiben eine Figur, die zwei Seelen hat oder zwei Seiten hat, so wie zum Beispiel im Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde von Robert L. Stevenson. Dieser Kunstgriff ist ja etwas ganz Klassisches und das hat bei mir ausgelöst, eine Umkehrung zu versuchen. Die Figur Augustina ist von zwei Personen erfunden. Ich meine, der Charakter an sich ist von zwei Personen erfunden worden, bei mir lag die Traumwelt und Anonyma, wenn wir sie jetzt so benennen wollen, hat den Tag-Charakter erfunden. Wir haben gemeinsam den Namen, Alter und den Beruf der Figur vorerst festgelegt. Wir haben uns einen speziellen, nicht wirklich beliebten Beruf für Augustina ausgesucht, nämlich Parkwächterin, der Rest der Charaktereinbettung wurde von Anonyma festgelegt, also Vater und Mutter, Freunde usw. Ich habe diese Figur dann sozusagen adoptiert und teilweise war sie mir gar nicht sympathisch, aber genau das hat mich daran gereizt. Das Interessante für mich am Konzept war, ob die Leserschaft erkennen wird, dass Augustina von zwei Personen erfunden wurde – und ich glaube, man entdeckt es nicht und das ist das wahrlich Spannende und spricht für sich.

THOMAS BALLHAUSEN: Zurückkommend auf die Bezeichnung der Textsorte Roman, die verschiedenen Formen von Erzählprosa und deinen Bezug dazu: Es gibt ja viele und gut belegte Beispiele, wie Konzepte in literarische Strukturen überführt werden. War das etwas, das für dich interessant war bzw. gab es da literarische Texte, die dich beeinflusst haben oder kommen da Einflüsse stärker aus anderen Wissens- und Kunstbereichen?

E. A.: Eine Person der Literaturgeschichte hat mich stark beeinflusst, und das ist Gustave Flaubert. Dahingehend hat mich auch Pierre Bourdieus Die Regeln der Kunst fasziniert und insbesondere zu lesen, wie er Romanstrukturen sieht. Bei Flauberts Erziehung des Herzens ist es ja so, dass er im Hintergrund eine Sozialstruktur, ein System entwickelt hat und die Figuren dann verschiedene Funktionen und Rollen übernehmen. Das ist ein Vorbild für mich und auf diese Weise bin ich auch an die Erzählung herangegangen und habe die Figuren immer zu einem Themenkreis passend erfunden. Im Tag-Bereich habe ich den Figuren auch bestimmte auslösende Emotionsbereiche zugeordnet, aber im Traum-Bereich habe ich sehr viele Figuren geschaffen, die Repräsentanten für etwas sind. Ein paar Beispiele: Die Figur des Doktors repräsentiert im Traum das Thema des Erinnerns und des Vergessens. Augustina geht zum Doktor, weil sie sich plötzlich im Traum an schon geträumte Träume erinnern kann, Augustina erscheint dies im Traum seltsam. Auch an dieser Stelle ist die erwartete Logik verkehrt. Die Story erzählt, wie sich im Traum eine Ich-Konstruktion realisiert. Oder das Eichhörnchen: Das Eichhörnchen tritt immer dann auf, wenn Gefühle im Spiel sind, wenn starke Emotionen aufflammen. Oder der Grenzwartmann, der ein Synonym oder Symbol für das Thema Kontinuum, Wahrnehmung und Beobachtung ist. Der Krake repräsentiert den Individualismus, die Tasse hat eine bestimmte Rolle, weil sie in gewisser Weise in das Unbewusste sinkt und zum Schluss zerbricht, als die Traumwelt von Augustina langsam zerstört wird.

Zeichnung von Elisa Asenbaum für das Cover von AUGUSTINAselbst und den Kontextuellen Spuren im Netz (http://www.asenbaum.com/AUGUSTINAselbst/Anmerkungen/fileadmin/index.html) © Elisa Asenbaum

Ein Werk, das ich noch sehr inspirierend finde, ist Alice in Wonderland von Lewis Carroll, der Mathematiker war und sehr anschaulich mathematische Konzepte in Bilder übersetzt. Man kann den Text natürlich als eine Fantasiegeschichte lesen, aber wenn man von Mathematik eine Ahnung hat, versteht man, welche Konzepte er beschreibt. Die Geschichte war ebenfalls ein Vorbild für mich. In AUGUSTINAselbst kommen viele physikalische, mathematische und philosophische Konzepte vor, die ich dann übersetze – in Sprachbilder, Metaphern, Symbole, in kleine Geschichten und Szenen.

T. B.: Ich finde es sehr spannend, dass du diese Bezüge herstellst. Das erinnert auch an Edwin A. Abbott oder Charles H. Hinton, die sich ja ebenfalls im 19. Jahrhundert schon gefragt haben, wie man Wissenschaft erzählen kann. Diesen Aspekt habe ich in deinem Text auch immer gesehen.

E. A.: Genau, das ist mir sehr wichtig. Vielleicht kommen wir da auch zum Medium Film. Ich habe den Traum als essenziellen Aspekt der Augustina-Figur gewählt, weil der Traum in einer ganz eigenen Sprache zu uns spricht, hauptsächlich wird über Bilder vermittelt. Meine Vorgangsweise war, die Inhalte in Szenen und Bilder zu kleiden und diese dann wieder in Sprache zu übersetzen. Interessant ist, dass durch ein Bild – oder wie im Film in einer Bilderfolge – gleichzeitig sehr viele Informationen flott vermittelt werden können. Wenn du eine Szene mit Sprache beschreibst, brauchst du relativ lange – aber im Film ist vieles gleichzeitig da.

Für mich ist die Konzeption, dass die Ebenen von Tag und Traum – eben zwei Welten, zwei Sichten, Bewusstes und Unbewusstes, Außen und Innen, die ich mit diametralen Ansätzen belegen konnte und die aufeinandertreffen, essenziell. Das Unbewusste der Augustina brachte Platz für das Unbewusste der Gesellschaft. Der Bereich des Unbewussten überlappt sich ja mit dem Bereich des Kollektiven, den ich, wie viele andere auch, als viel größer ansehe und in dem immer Geheimnisse erhalten bleiben – was wichtig ist und ich schön finde. Das Bewusste ist ein winziger kleiner Teil, der in einer späteren Phase der Evolutionsentwicklung entstanden ist und Bedeutung bekommen hat. Ich vergleiche das Bewusste deshalb im Romankapitel Identität mit einem kleinen Tropfen, der an der Oberfläche schwimmt.

T. B.: Da kommen wir auch zu dem Punkt, nach den Funktionen des Traums, also auch nach den Funktionsweisen von Film und Kino zu fragen. Da sind, so meine ich, Inhalte ja immer wieder eng miteinander verschaltet, gehen eine lebendige und sehr schöne Wechselbeziehung ein. Wie würdest du deinen Bezug zu Godard beschreiben, einem Regisseur, der ja auch in seinen Filmen sehr viele literarische, musikalische, wissenschaftliche, aber vor allem auch politische Momente hineinverwebt?

E. A.: Ja, er hat meiner Ansicht nach sehr viele gesellschaftlich relevante Filme gemacht und dies auf eine künstlerische Weise. Ganz prinzipiell würde ich Godard als großen Inspirationsmeister für mich bezeichnen, schon in meiner Jugend war ich ein totaler Godard-Fan. Und der besondere Kunstgriff bei Godard für mich persönlich ist, dass er die verschiedenen Sinneskanäle benutzt hat, um gleichzeitig verschiedene Informationen zu geben. Oft ist das Bild und das, was gesprochen wird, nicht gleichen Inhalts, er gibt zeitgleich verschiedene Botschaften aus. Das hat mich sehr fasziniert und erscheint heutzutage mutiger denn je. Dadurch erscheinen manche Szenen in Godards Filmen wie ein Traum.

In AUGUSTINAself poppen im Traumgeschehen (Unbewussten) ebenso gesellschaftsrelevante Themen, z. B. Terrorismus, auf, die in Augustinas Tag-Bewusstsein unbeachtet geschildert werden. Zudem muss man Godards Filme einfach einige Male anschauen, bis man sie erschließen kann. Und das war auch mein Vorsatz, ein Buch zu schreiben, das man sicherlich zehn Mal lesen und jedes Mal wieder etwas Neues entdecken kann.

T. B.: Und ein dritter Aspekt ist auch das Referenzieren auf sehr unterschiedliche Sphären, oder? Und Godard scheut sich dahingehend auch nicht, konstruktiv-kritisch mit dem Populären zu operieren, etwas, das für deine Arbeit auch relevant ist.

E. A.: Ja, unbedingt. Diese Verschiedenheit und auch der Witz, würde ich sagen. Ich habe bei Godard-Filmen immer sehr lachen müssen. Es ist ein sehr intellektueller Humor und er arbeitet auch sehr stark mit Kontrasten. Davon habe ich gelernt und setze in meinen Arbeiten auch auf intellektuellen Witz.

L. P.: Dieser Aspekt der Struktur und der literarischen bzw. filmischen Mittel verweben sich für mich auch stark mit den Fragen nach naturwissenschaftlichen Konzepten, die in deinem Werk vorkommen. Ich verstehe diese Konzepte als Dreh- und Angelpunkt der Handlung.

E. A.: Ja, da stimme ich völlig zu. Was ich bei den Referenzen, den textuellen Spuren im Netz, gemacht habe, ist, eben keine Fußnotenliste, sondern eine multimediale Option des Nachlesens im Internet anzubieten. Ich habe die gesamte Geschichte als Zeitlinie dargestellt und diese ist als Zeichnung zusätzlich auch auf dem Buchcover zu sehen. Auf der Linie befinden sich die mit Zahlen benannten Kapitel des ersten Teils und die Kapitelnamen des zweiten Teils, Konfrontation der Welten, in dem Tag- und Traum-Welt-Konzepte aufeinanderprallen. In der Geschichte nämlich beginnt durch den Eintritt der Logik in die Traum-Welt diese zu zerfallen.

T. B.: Du erzählst, so mein Eindruck, von ontologischen Turbulenzen … und die Zeitlinie erscheint mir da besonders wichtig, auch als Rundum-Grafik auf dem Cover. Dadurch wird das Buch auch als Raum, als Kunstobjekt thematisiert. Es ist bemerkenswert, wie das Buch-Objekt aus naturwissenschaftlicher Sicht eigentlich Linearität anbietet, du kannst es lesen, aber dann auf der anderen Seite gibt es auch ein Netzwerk an Verflechtungen zu entdecken. Und diese Erklärungen hast du bewusst als ein Online-Angebot angelegt.

AUGUSTINAself
VON ELISA ASENBAUM
Wien: Passagen
416 Seiten | € 38,00
ISBN: 978-3-7092-5049-5
Erscheinungstermin: Oktober 2022

E. A.: Genau! Und um da direkt anzuschließen: Der erwähnte zweite Teil des Buches ist in vier Kapitel gegliedert, die nach den vier Axiomen der Logik benannt sind. Die Reihenfolge ist aber vorsätzlich umgekehrt, das vierte Axiom wird im ersten Kapitel in den Konfrontationen der Welten thematisiert. So tauchen bei „Nichts geschieht ohne zureichenden Grund“ viele Fragestellungen auf, bei „Der ausgeschlossene Dritte“ kommen politische Themen vor, bei „Widerspruchsfrei“ wird die wissenschaftliche Herangehensweise thematisiert und dann beim Ersten Axiom natürlich, die „Identität“, ein Abschnitt, in dem auch Ausgang enthalten sein sollte. Dazu gibt es in diesem kontextuellen Netz viele Stichworte, die sich durch Klicken öffnen und wo dann Erklärungen der Anspielungen und ebenso Referenzen enthalten sind. Viele der Referenzen hat Harald Hofer geschrieben, andere sind Zitate aus Werken und es sind auch immer die Quellen angegeben. Wenn man dann beim Online-Angebot auf die kleinen Zeichnungen klickt, ergeben sich Linien, wie die Thematiken und die Symbole miteinander verbunden sind und welche Charaktere in welchen Kapiteln auftreten und in welchem Zusammenhang sie stehen. Zur Nachvollziehbarkeit sind die mit Referenzen hinterlegten Begriffe im Buch immer kursiv gehalten. Die Stichwörter enthalten aber nicht immer eine Erklärung, es sind öfter Anspielungen zu literarischen und künstlerischen Konzepten aus Büchern, die ich vor AUGUSTINAselbst gelesen habe.

T. B.: Da stellt sich für mich die Frage, ob man eine Bibliografie nicht nur als Anhang oder Verweismöglichkeit, sondern eben auch als literarischen Teil des Gesamttextes werten kann? Ich kann mit so einem Verständnis von Bibliografie sehr viel anfangen und das zeigt sich mittlerweile etwa als sogenannte referenzielle Literatur. Ich weiß nicht, wie da deine Erfahrungen waren, aber wenn man dabei dem Alphabet in seiner direkten, einfachen Schönheit nachfolgt, dann kommen in Bibliografien ja oft die unterschiedlichsten Dinge nebeneinander zu liegen. Das kann dann sehr anregend und auch sehr lustig sein.

E. A.: Ja, da bin ich ganz deiner Ansicht. Dahingehend möchte ich gerne nochmals an die erwähnten Bilder anknüpfen, die ich in Sprache übersetzt habe. So gibt es beispielsweise den Geist-Körper-Diskurs bei Platon und das Wort „platonisch“ kommt auf Seite 44 im deutschsprachigen Text vor, ist kursiv gesetzt und ich referenziere dann beispielsweise auf Peter Sloterdijk, der sich stark mit dieser körperlich-geistigen Trennung beschäftigt hat. Oder die Erwähnung einer Uniform, die sich auf Marcel Duchamp und seine Arbeit Das große Glas bezieht, in der es um Frau-Mann-Rollen geht. Ein anderes Beispiel ist die Beschreibung der Geste des Finger-Schnippens, da beziehe ich mich auf ein Experiment von Benjamin Libet, der nachwies, dass wir uns wahrscheinlich schon für etwas entschieden haben bevor es uns überhaupt bewusst ist – dass der freie Wille also fraglich sein könnte. Weitere Beispiele sind die Konzepte der Vorsokratiker, die im Traum der Vater-Figur vorkommen, der schon erwähnte Doktor, der mit dem Aspekt des Erinnerns verbunden ist und auf Eric Kandel und auch auf Adolf Grünbaum verweist.

Ein anschauliches Beispiel ist die Szene in der Augustina einem Mann auf einem Schiff (ein versteckter Verweis auf Galileo Galilei) begegnet, sie verschwimmt geradezu in amourösen Wünschen als sie Galilei trifft, der aber ist nur von seinem Schiffsexperiment unter Deck begeistert.

Der Verweis: Das Schiffexperiment zeigt, dass eine gerade gleichförmige Bewegung ununterscheidbar ist von einem Zustand der sogenannten Ruhe. Wenn man sich innerhalb des Systems – so wie Galilei oder in Augustinas Traum –, in einem Schiff befindet, das gleichförmig gerade dahingleitet, verhalten sich alle mechanischen, elektrischen und optischen Sachverhalte gleichermaßen wie in Ruhe. Der Wassertropfen fällt gerade hinunter, die Schmetterlinge fliegen wie gewohnt … Das war der Beweis, auf den ich im Kapitel 10 unter anderem anspiele.

LP: Ich fand es sehr beeindruckend, wie es dir in deinem Roman gelungen ist, Wissen literarisch umzusetzen und darzustellen. Wie lange hat der Arbeitsprozess rund um AUGUSTINAselbst gedauert?

E. A.: Das waren sechs Jahre, in denen ich mir sehr viele Notizen gemacht, Skizzen angefertigt und Schemata aufgezeichnet habe…

L. P.: Sechs Jahre… Aber es fließt eigentlich das angeeignete Wissen eines gesamten Lebens zusammen, oder?

E. A.: Ja, absolut. Ich habe die erwähnten und viele andere Bücher vorher gelesen, viel gedacht, gehört, erfahren, erlebt und dann ist der Wunsch aufgekommen, all dieses Wissen auch literarisch umzusetzen.

T. B.: Da wären wir wieder an dem Punkt, über den wir schon gesprochen haben, nur auf eine neue Weise. Sprich, wie kann ich Theorie stärker ins Erzählen integrieren, ohne einfach nur Theorie zu erzählen, also vielmehr mit und vielleicht auch inmitten von Theorie zu erzählen.

L. P.: In Zusammenhang mit der Struktur, dem Transferprozess, der Sprache als Denkmuster können wir vielleicht auch auf die Konzepte der Zeit und des Raumes, die in der Erzählung vorkommen, eingehen …

Elisa Asenbaum – Foto: © privat

E. A.: Gerne, es gibt ja zwei Arten von Zeit zu sprechen, einerseits: die Zeit, wie man sie wahrnimmt und erlebt, andererseits die Zeit, wie sie in mathematischen und physikalischen Konzepten erklärt und definiert wird. Diese beiden Seiten werden in AUGUSTINAselbst behandelt, besonders in der Schilderung der Wahrnehmung von Zeit im Traum. Im Traum sind Zeit und Ort nicht festgeschrieben, Ort und Zeitpunkt wechseln oft schnell, ohne Weg- und Zeitdauer springt man von einer Szene zu einer anderen.

T. B.: Da sind wir wieder beim Filmischen.

E. A.: Genau, das ist wie beim Schnitt. Da ich die Geschichte wie einen Film vor mir sehe, arbeite ich ähnlich … mit Schnitt, Montage und Rückblenden. Die Figuren Iris und Auris begleiten Augustina in der Traumwelt und sie sind diese Art der Wahrnehmung und Erleben gewohnt. Aber dann merken sie, dass da etwas Fremdartiges in ihre Welt eindringt, und zwar die Logik. Und mit der Logik eben verändert sich der Zeitlauf und Beschränkungen der Möglichkeiten treten auf. Das ist alarmierend für sie, da sie dadurch ihre Fähigkeiten einbüßen. Sie versuchen zu verstehen, was man außerhalb – in der sogenannten Wirklichkeit–, für Konzepte von Zeit hat, sie recherchieren in ihren Außen-Kommunikationsgerät (Handy), was wir draußen, unter Zeit verstehen und erkennen, dass sich dies mit den Jahrhunderten gewandelt hat. Bei Newton beispielsweise war Raum und Zeit absolut, ein fix vorgegebenes „Behältnis“, in dem bestimmte Geschehnisse und Bewegungen passieren, wie in einer Schuhschachtel. Scherz. Mit Einstein setzte eine echte Revolution ein, er hat Zeit und Raum nicht mehr getrennt und als absolut angesehen, sondern den Zusammenhang verstanden, also den relativen Aspekt von Raum-Zeit, und, dass die Geschwindigkeit maßgebend ist in der man sich bewegt, also … in welchem Bewegungszustand sich eine Person befindet, beeinflusst, wie sie Zeit erlebt.

Die „Konfrontation der Welten“ ist vom Zenon-Paradoxon „Der fliegende Pfeil“ inspiriert, welches von den Traumfiguren Iris und Auris wortwörtlich verstanden wird und sie kommen zum Schluss, dass Augustina in der Zeit steckt und nicht mehr aufwachen kann.

Das Paradoxon, finde ich genial, da es eine Menge von wissenschaftlichen und philosophischen Problematiken von Zeit-, Raum- und Kontinuums-Auffassungen ans Licht bringt. Anhand dessen werden verschiedene Aspekte der Zeit offengelegt: Struktur, Metrik, Topologie, Lauf und Richtung – Zeitpfeil, sowie der ontologische Status der Zeit. Faszinierend, dass bis heute so verschiedenste Ansichten in Bezug auf die Zeit herrschen, diametrale Ansätze und Theorien, da zeigt sich die Größe der Problematik. Eine bedeutende Frage ist dabei, bezüglich Flugstrecke des Pfeils – in Zusammenhang mit der Flugzeit – nun wie ein Kontinuum anzusehen oder zerlegbar ist? In kleine Stücke oder sind die Teilstrecken immer wieder teilbar? Unendlich? Geht man dem konsequent nach, zeigt das Paradoxon, dass der Pfeil eigentlich gar nie wegfliegen kann. Nach Jahrzehnten wurde durch eine Differentialrechnung von Augustin Louis Cauchy das Rätsel zumindest mathematisch berechenbar. Doch das Kontinuum bleibt mystisch. Der Name der Figur des Grenzwertmanns spielt in der Erzählung in witziger Weise darauf an. Aber als Kontra zum Konzept eines fließenden Kontinuums macht der Grenzwertmann auf die Art unserer Wahrnehmung in der Story aufmerksam, nämlich: ruckartig in Einzelbilder wahrzunehmen, genannt Sakkaden, und diese werden im Kopf zu einer flüssigen Bewegung zusammengesetzt. Wo man sich fragen kann: Nehmen wir überhaupt kontinuierlich wahr? Mit den Augen sicher nicht. In AUGUSTINAself geht es ebenso sehr viel um Kommunikation, Missverständnisse und Interpretationen.

T. B.: Ausgehend von der Thematik der Wahrnehmung würde ich gerne noch auf die englischsprachige Übersetzung, ja, Variante, zu sprechen kommen. Du hast dabei mit dem Künstler und Übersetzer David Ender zusammengearbeitet, den ich auch sehr schätze. Inwieweit war die Arbeit der Übersetzung ein dialogischer Prozess? Wenn man sich den englischsprachigen Text ansieht ist das ja über weite Strecken ein ganz anderer Text, fast schon ein neues Buch.

E. A.: Das kann man durchaus so sagen. Ich kenne David Ender schon lange, ich habe in Jugendzeiten mit ihm musiziert und daher, so glaube ich, kam dieses Vertrauen, dass er die Sprachrhythmik und die Melodie der Erzählung ins Englische gut umsetzen kann, insbesondere bei den poetischen Teilen. Denn diese poetischen Abschnitte mussten wir teilweise gemeinsam komplett neu dichten, denn Denkstrukturen und -muster in einer anderen Sprache sind oft nicht 1:1 übertragbar. Es gibt kulturbedingte Assoziationen, Metaphern, Vorstellungen und da funktioniert eine wortwörtliche Übersetzung nicht. Es war ein langer Prozess, David hat den Text übersetzt und dann sind wir alles nochmals durchgegangen, einerseits von der Sprachmelodie her, andererseits vom Inhalt. Wir haben dann bestimmte Szenen regelrecht dekonstruiert, sie sprachlich nochmals ganz neu aufgebaut, überprüft, ob das ursprüngliche Bild sich auch im Englischen erstellen lässt, haben Dinge umgeschrieben und verfeinert. Ein gutes Beispiel in Kapitel 4 ist das Gedicht What a mass?, also Was für eine Menge?, bei welchem es inhaltlich um die Einordnung von Worten bezüglich der Bedeutung geht. Das mussten wir stark umformen, damit Inhalt, Witz und Melodie erhalten bleiben.

T. B.: Wie würdest Du das Spannungsverhältnis zwischen inhaltlicher und formaler Orientierung in euer Übersetzungsarbeit einschätzen? Wie zeigt sich für dich die Transferleistung in den Strukturen unterschiedlicher Sprachen? Was waren da deine Erfahrungen, wohin hat euch das geführt?

E. A.: Wir haben uns stark am Inhaltlichen und erst danach an der Melodie orientiert. Gedichte müssen klingen. Ich wollte aber unbedingt den inhaltlichen Aspekten genug Beachtung schenken, auch wenn nicht alles wortwörtlich übertragbar ist. Da bin ich streng. Das heißt nicht, dass ich dagegen war, beispielsweise auch Figuren leicht zu verändern, aber die zentralen inhaltlichen Aspekte mussten auch in der englischsprachigen Fassung enthalten sein.

L. P.: Wie seid ihr bei kulturellen Sprachbesonderheiten vorgegangen, beispielsweise bei Volksliedern oder Sprichwörtern, die in einem anglophonen Sprachraum so nicht verstanden werden können bzw. nicht die gewünschten Assoziationen auslösen? Ich denke da beispielsweise an das Lied Ein Hund kam in die Küche, also ein deutsches Volkslied, das sogar von Samuel Beckett für Waiting for Godot neu übersetzt und abgeändert wurde. Habt ihr euch dabei an seiner Übertragung orientiert oder habt ihr alles vollkommen neu gedichtet bzw. versucht, originelle Entsprechungen zu finden?

E. A.: Wir sind von dem ursprünglichen Volkslied ausgegangen und nicht von Becketts Übersetzung. Ich habe das Lied als Metapher für den wiederkehrenden Konflikt über Generationen hinweg von Gewalttaten wie Völkermord, Krieg und Unterdrückung genutzt. Die geschlagenen und toten Hunde repräsentieren als Metapher das Auferstehen des ewigen Konflikts.

L. P.: Habt ihr es geschafft, alles zu übertragen? Oder gab es wirklich auch Teile, kleine Szenen, die ihr komplett weglassen musstet, weil ihr sagtet, eine inhaltlich und formal korrekte Übertragung mit den erwünschten Assoziationen und Referenzen ist da einfach nicht möglich?

E. A.: Nein, wir haben, soweit ich mich erinnern kann, wirklich alles übertragen. Die Szenen sind manchmal etwas kürzer geworden, aber nichts wurde gestrichen. Es wurde aber, wie gesagt, vieles komplett neu gemacht, also eher eine Form von Neudichtung denn eine klassische Übersetzung.

T. B.: Ausgehend von dieser Antwort würde ich zum Abschluss gerne noch mehr auf den Themenbereich der Erinnerung zu sprechen kommen, der im Roman sehr stark an Fragen von Identität gekoppelt ist.

E. A.: Die Figur der Augustina erlebt ja viele, sehr verschiedene Träume, bis sie plötzlich beginnt, sich in ihren Träumen an Träume zu erinnern, die sie davor geträumt hat. Und so entsteht eine Konstruktion eines Ichs im Traum, es beginnt eine Kontinuität des Erlebten im Traum. Augustinas Erinnerungsfähigkeit, sich an Vergangenes zu erinnern, schafft eine eigene Identität im Traum. Dieser Prozess steigert sich von Kapitel zu Kapitel, bis sie wirklich dieses zweite Ich besitzt. Das ist natürlich eine Metapher für den Aufbau von Identität, wie wir uns Identität konstruieren. Analog, als ob in einem Kind sich durch Erlebtes und Erinnerung langsam eine Identität aufbaut. Die Umkehrung, den Verlust von Identität, sieht man ja leider bei Menschen, beim Verlust vom Gedächtnis, beispielsweise bei Alzheimer. Bei dieser Erkrankung fällt ja auch ein Teil von dem weg, was wir als Identität begreifen. Erinnerung ist also ein ganz wichtiger Aspekt der Konstrukts des Ichs. Im Buch ist die Erinnerung ein Ankerpunkt. Aber andererseits wundert sich Augustina im Traum, dass sie noch ein zweites Ich im Wachzustand besitzt, eben weil sich das Gewicht ihre Identität komplett in die Traumwelt verschoben hat.

Das, was wir als Ich bezeichnen, ist ja nur ein Teil von etwas und in gewisser Weise konstruiert. Mehr schöpfen wir, so meine ich, aus einem kollektiven Teil, aus unserer Herkunft. Wir waren auch Schnecke, wir waren und sind Tier und all das ist in uns evolutionär gespeichert, es ist nicht so leicht und vielleicht auch nicht sinnvoll, sich davon abzugrenzen. Und weiter, das, was wir so gemeinhin „meine Meinung und eigen“ nennen, das ist doch eigentlich das, was wir gelernt haben, nur in uns etwas neu gemischt zusammengesetzt. Dies wird ebenso in AUGUSTINAself thematisiert und zielt auf eine Desillusionierung des Individualismus hin.

T. B.: Auf deine Erzählung umgelegt zeigt sich da also etwas wie ein Sedimentbetrieb der Geschichte als Form der wortwörtlichen Ent-Täuschung … Ein sehr verlockendes poetologisches Programm.

E. A.: Könnte man sagen. Du meinst das wohl auch in Bezug auf das Ende der Geschichte. Das Ende einer abenteuerlichen Fiktion soll man ja im Vorhinein nie preisgeben, sonst ist die Spannung beim Teufel. Besser lesen, AUGUSTINAself ist als E-Book erschienen und online erhältlich, die deutschsprachige Version gibt es als dickes Buch in Printversion bei Passagen. Aber was ich an diesem Punkt verrate, die Lösung steckt im Problem, auch dann oder gerade, wenn es um diametrale Ansätze, Welten und Sichtweisen geht.

AUGUSTINAself online:

http://www.asenbaum.com/AUGUSTINAselbst/Anmerkungen/fileadmin/index.html

ELISA ASENBAUM

ist Autorin, Künstlerin, Kuratorin. Sie schreibt Romane und Gedichte, Kurzgeschichten, kunsttheoretische Texte und entwickelt literarische Lese- und visuelle Poesieformate. Außerdem initiiert und unterstützt Elisa Asenbaum Projekte an der Schnittstelle zwischen Kunst, Literatur und Wissenschaft seit 2008. Sie ist Mitbegründerin der G.A.S-station, Tankstelle für Kunst und Impuls, in Berlin und leitet den wissenschaftlichen und literarischen Sektor. Im Moment arbeitet sie an einem neuen Roman, demnächst erscheint der lyrische Band interirdisch.

THOMAS BALLHAUSEN

lebt als Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zahlreiche literarische und wissenschaftliche Publikation, demnächst erscheint seine Studie Nachtaktiv. Versuch über das Cahier.

LORENA PIRCHER lebt und arbeitet in Wien; sie schreibt Lyrik und Kurzprosa. Veröffentlichung eines Gedichtbandes und mehrerer Texte in verschiedenen Literaturzeitschriften. Derzeit arbeitet sie an Übersetzungen aus dem Spanischen und Französischen