In Memoriam Rudolf Gelbard
(* 04.12.1930 in Wien; † 24.10.2018 ebenda).
Nachdem am zweiten November 2020 ein islamistischer Terrorist in der Wiener Judengasse das Feuer eröffnete, wäre es in Österreich im Nachhinein wohl niemandem eingefallen, sich mit dem Attentäter zu solidarisieren, der es eindeutig auf das jüdische Viertel in der Innenstadt abgesehen hatte. Als indes im Mai 2021 tausende Raketen der Hamas und des Islamischen Dschihad in Richtung Israel abgefeuert wurden, blieben die Solidaritätsbekundungen mit dem einzigen demokratischen Rechtsstaat im Nahen Osten zu einem Großteil aus. Im Gegenteil: durch eine Täter-Opfer-Umkehr wurde vielerorts „den Juden“ die Schuld an diesem Angriff zugeschoben. Diese Konstellation, mit welcher sich der wieder erstarkende Antisemitismus zeigt, nimmt die vorliegende Doppelausgabe der ZUKUNFT zum Anlass, eine Diskussionsgrundlage zu Israel und Antisemitismus zu präsentieren.
Dabei konnte die Redaktion herausragende Expert*innen gewinnen, die bereit waren, ihre Forschungsergebnisse zur Verfügung zu stellen, um das Thema Israel und Antisemitismus aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. In diesem Kontext geht es um den Antisemitismus der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions), antisemitische Formen der Kapitalismuskritik, den Antizionismus in der österreichischen Linken und den Historikerstreit 2.0. Des Weiteren thematisieren wir die Antizionismuskritik Jean Amérys, die Geschichte Israels und die Biografien von Walter Benjamin und Gershom Scholem, um ein realistisches Bild Israels zu ermöglichen, mit dem eine größere Sensibilität für aktuelle Formen des Antisemitismus einhergehen soll.
So fassen Alex Feuerherdt und Florian Markl ihre Forschungen zur internationalen Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) zusammen und erläutern dabei eingehend die Gefahr einer – in allen Wortbedeutungen – Dekonstruktion Israels. Denn BDS beteuert immer wieder, nicht gegen Jüdinnen und Juden zu sein, sondern sich nur gegen den Staat Israel und den Zionismus zu richten. Doch das entspricht nicht der Wahrheit, wie die Autoren in ihrem Beitrag zeigen, indem sie die Diskursstrategien von BDS herausarbeiten und betonen, dass die Äußerungen und Aktivitäten der Israel-Boykotteur*innen nach jeder seriösen Definition (z. B. 3D: Dämonisierung, Delegitimierung, Doppelte Standards) antisemitisch sind: Denn die BDS-Bewegung zielt auf nicht weniger ab als auf das Ende Israels als jüdischer Staat. Zugleich stellt ihr Tun einen fundamentalen Angriff auf wesentliche Bestandteile und das wohl wichtigste Symbol zeitgenössischen jüdischen Lebens dar. BDS versucht also, dem Judentum insgesamt so schweren Schaden zuzufügen, dass dessen weitere Existenz gefährdet wäre.
Auch im Umfeld unreflektierter Kapitalismuskritik kommt es zu gefährlichen Verkürzungen, welche die Komplexität kapitalistischer Gesellschaften z. B. auf „die Reichen“ und „die Armen“ reduzieren, weshalb Sebastian Schneider und Isolde Vogel dann den Zusammenhang von falscher Kapitalismuskritik und strukturellem Antisemitismus diskutieren. Dabei betonen unsere Autor*innen nachdrücklich, dass die intellektuelle Lösung aktueller sozioökonomischer Problemlagen nicht in einer Personalisierung abstrakter Herrschaftsverhältnisse liegen kann. Sprich, der Kapitalismus stellt ein systemisches Problem dar, das nicht einzelnen Akteur*innen und z. B. ihrer „Gier“ in die Schuhe geschoben werden kann. Vielmehr nehmen Menschen unter den harten Produktionsbedingungen des Spätkapitalismus die Rollen von „Charaktermasken“ (Marx) ein und reproduzieren so hochgradig unbewusst das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Darüber hinaus sind nach 1945 in diesem Zusammenhang diverse Chiffren und Codes entstanden, die zur (unbewusst oder bewusst antisemitischen) Anschuldigung führen. Das ist etwa bei der Umschreibung der „Ostküste“ oder den „1 %“, die die Welt beherrschen würden, der Fall – und hier ist der Weg zu offen antisemitischen Äußerungen nicht weit.
Deshalb kann der Antisemitismus auch und gerade in den Reihen der Linken ausgemacht werden, weshalb Stephan Grigat das Verhältnis der radikalen Linken in Österreich zum Antisemitismus eingehend beschreibt und die mehr als bedenkliche Verbindung von Antiimperialismus und Antizionismus vor Augen führt. Dabei geht es um das historische Erbe der Ersten Republik, die gesellschaftspolitische und ideologische Kontinuität und Transformation im Postnazismus oder um den Mai 68 und die Neue Linke, die keineswegs frei von Antisemitismus war, wie auch die Geschichten von SPÖ und KPÖ belegen. Grigat betont, dass Israel damit zum permanenten Streitfall wurde, weshalb im Grunde erst seit den 2000er-Jahren eine Kritik am linken Antizionismus in der österreichischen Linken zu verzeichnen ist. Eine Kritik, die nicht gänzlich auf fruchtlosen Boden fiel, wenn wir bedenken, dass VSStÖ, GRAS und KSV-LILI im Jahr 2017 an der Universität Wien einen gemeinsamen Beschluss Gegen jeden Antisemitismus gefasst haben, an den sich die progressiven Kräfte in Österreich halten sollten. Damit wird deutlich, dass eine weitere aufgeklärte Diskussion zum Verhältnis der österreichischen Linken zu Israel gefordert und notwendig ist, weil nichts gefährlicher ist, als in diesem Zusammenhang die Geschichte des linken Antizionismus außen vor zu lassen.
Ging es bereits im Historikerstreit der 1980er-Jahre um die Einschätzung der „Singularität des Holocaust“, so fand in den letzten Jahren ein Historikerstreit 2.0 statt, auf den Steffen Klävers eingehend zu sprechen kommt. Im Zentrum der Diskussion steht dabei die Möglichkeit des Vergleichens von historischen Ereignissen wie der Shoah, die nicht zuletzt dadurch relativiert wird, dass der eliminatorische Antisemitismus des Nationalsozialismus „nur“ als Rassismus begriffen und die Vernichtung des europäischen Judentums mithin zu einer weiteren Episode der eurozentrischen Kolonialgeschichte wird. Wider die von Dirk Moses veröffentlichte Behauptung, die Erinnerung an die Shoah folge gerade und nur in Deutschland einem moralisierenden „Katechismus“, betont Klävers – auch angesichts der postkolonialen Publikationen von Achille Mbembe – mit Nachdruck die Eigenart und Spezifität des Antisemitismus, die bis heute mit der Beispiellosigkeit der Judenvernichtung und der darauffolgenden Staatsgründung Israels verbunden sind.
Den Zusammenhang von Antiimperialismus und Antizionismus hat im 20. Jahrhundert vor allem ein Autor hervorgehoben, der dahingehend fast vergessen ist: Denn Jean Amérys Schriften zu Antisemitismus, Antizionismus und der Linken finden sich zwar in seiner Gesamtausgabe, wurden aber erst Anfang 2022 von Marlene Gallner im Englischen eigens herausgegeben. Im Interview mit Georg Pepl betont auch Gallner die Präzedenzlosigkeit der Shoah und hebt hervor, dass Améry – im Gegensatz zu großen Teilen der Linken – deutlich gesehen hat, wie wichtig Israel für das Judentum ist. So wird klar, dass der Antisemitismus im Antizionismus enthalten ist, wie das „Gewitter in der Wolke“ (Améry). In diesem Zusammenhang steht auch vor Augen, wie ausgehend vom akademischen Feld der amerikanischen Universitäten durch ein Zusammenspiel von Poststrukturalismus, Critical Studies und Postkolonialismus offen antizionistische Inhalte verbreitet werden. Und so lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Linke sich durch ihren Antizionismus selbst vergisst, wenn sie sich gerade angesichts der Shoah und der Legitimität Israels gerade nicht auf die Seite der Schwachen stellt.
Deshalb ist es nötig, die Geschichte Israels von Beginn an in den Blick zu nehmen, wie Michael Brenner es mit Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute (2016) unternommen hat. Marie-Theres Stampf betont in ihrer Rezension, dass Brenners neuartige Aufbereitung der Entstehung Israels nicht nur eine sachliche Übersicht zur historischen Entwicklung des Zionismus bietet, sondern die konkurrierenden Gegenpositionen vor Augen führt, die von der frühen Ideengeschichte bis zur heutigen politischen und gesellschaftlichen Lage des Staates zwischen Jerusalem und Tel Aviv reicht. Unparteiisch und jenseits politisch vereinnahmter Rhetorik wird in diesem Zusammenhang vor allem der Diskurs ab dem Wendepunktjahr 1897 analysiert, der sich um die Dichotomie zwischen angestrebter Normalität und gleichzeitiger Sonderstellung des jüdischen Volkes und – später – Staates dreht. Dabei trifft der titelgebende Gegensatz von Traum und Wirklichkeit vor allem auf den vom Autor wiederholt gezogenen Vergleich zwischen den utopischen Anteilen des frühen Zionismus und ihrer Umsetzung zu. So erhalten die Leser*innen der ZUKUNFT insgesamt einen profunden Einblick in die überraschend vielfältigen Ideen zum israelischen Staat, die diesen selbst nach seiner Gründung noch begleiten.
Welche Rolle die Geschichte des Judentums im 20. Jahrhundert in den Biografien von Walter Benjamin und Gershom Scholem einnahm, wird dann mit dem Beitrag von Thomas Wilke deutlich, der in Erinnerung an Benjamins Berliner Kindheit und Scholems Von Berlin nach Jerusalem vor Augen führt, wie sich der (hochkommende) Nationalsozialismus auf die beiden jüdischen Gelehrten auswirkte. Dabei verdeutlichen die gut dokumentierten Lebenslinien der Freunde das Schicksal des europäischen Judentums sowie die Rolle des Jischuvs (also der jüdischen Bevölkerung in Palästina vor der Staatsgründung 1948) und Israels als Zufluchtsstätte für verfolgte Jüdinnen und Juden. So können die beiden Lebensläufe für die Vernichtung des europäischen Judentums als paradigmatisch gelten. In diesem Sinne liest sich Scholems Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft als maßgebliches Dokument eines immensen menschlichen und intellektuellen Verlusts, der mit dem Tod Benjamins und der frühen Auswanderung Scholems auch heute noch verbunden ist, wenn es darum geht, über Israel und Antisemitismus zu sprechen, um die Shoah in ihrer Beispiellosigkeit zu begreifen.
Dass dieser Zusammenhang auch in den Archiven der ZUKUNFT mehrfach diskutiert wurde, belegt eine weiterer Beitrag von Wolfgang Neugebauer, den wir nur zu gerne in unsere Online-Ausgabe aufgenommen haben, weil er von eindringlicher Aktualität und Brisanz ist. Bemerkenswerterweise bringt dieser Beitrag aus der Ausgabe 11/2003 auch fast zwanzig Jahre später Vieles auf den Punkt, das angesichts unserer Schwerpunktausgabe auch heute noch Gegenstand der Diskussion ist wie alle Beiträge unter Beweis stellen.
Auch ist es der Redaktion der ZUKUNFT eine große Freude, eine jüdische und sozialistische Tradition wieder aufnehmen zu können, die in der langjährigen Geschichte unserer Zeitschrift breit dokumentiert ist: Denn das Jüdische Museum Wien hat bereits des Öfteren mit der ZUKUNFT kooperiert und uns für diese Ausgabe die Erlaubnis gegeben, mit unserer Bildstrecke an die äußerst bemerkenswerte und zu unserem Thema passende Ausstellung Genosse. Jude. Wir wollten nur das Paradies auf Erden zu erinnern, die vom sechsten Dezember 2017 bis zum ersten Mai 2018 in der Dorotheergasse 11 zu sehen war. Unser herzlichster Dank gilt dabei neben dem ganzen Haus Gabriele Kohlbauer-Fritz, einer der Kuratorinnen der Ausstellung, die uns tatkräftig und umsichtig unterstützt hat. Insgesamt werden angesichts unserer Bildstrecke auf verschiedenen visuellen Ebenen die positiven Verbindungen von Sozialismus und Judentum ebenso deutlich, wie die Tatsache, dass der eliminatorische Antisemitismus der Nazis im „jüdischen Bolschewismus“ seinen absoluten Erzfeind erblickt(e) …
Insgesamt hofft die Redaktion der ZUKUNFT als Diskussionszeitschrift ihrem Namen gerecht zu werden, um eine vernünftige und aufgeklärte Debatte zu Israel und Antisemitismus anzustoßen und zu begleiten. In diesem Sinne bleibt nur zu grüßen:
Schalom, Genoss*innen!
PS: Rudi Gelbard, der Kämpfer, hat den nunmehrigen Chefredakteur der ZUKUNFT in mehreren persönlichen Gesprächen mit den verschiedenen Formen des Zionismus vertraut gemacht und ihn dabei auch zu den dunklen Seiten des Planeten geführt. Sein Fehlen hinterlässt in der österreichischen Sozialdemokratie eine unendliche Leere. In Erinnerung an seine lebendige Zeugenschaft schmerzt es tief, dass er nicht mehr ist, um mit uns über Israel und Antisemitismus zu diskutieren und den antifaschistischen Dialog über die Generationen hinweg fortzusetzen. Gerade deshalb sind jede Seite, jeder Satz und jedes Bild dieser Ausgabe seinem Andenken gewidmet.
ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der ZUKUNFT, Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße als Bildungssprecher der Sektion Wildganshof aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/