Michael Scharangs Aufruhr – von Alessandro Barberi

Michael Scharang hat mit seinem jüngsten Roman eine Geschichte erzählt, die in unseren Geschichtsbüchern fehlt (und fehlen muss): Das Land gerät in Aufruhr, die Bevölkerung übernimmt die Macht und setzt sich im Sinne einer österreichischen Revolution schlussendlich auch durch. ALESSANDRO BARBERI hat für die Leser*innen der ZUKUNFT den Aufruhr rezensiert.

1. Seinesgleichen geschieht?

Was für Gauner, diese Psychologen,
Psychiater, Psychoanalytiker […]
Maximilian Spatz in Aufruhr

Ja, antwortete Montefiori, in unserem Betrieb
ist der Untergebene der Chef.
Kreuzteufel dachte nach.
Ihre Firma, sagt er, ist also eine Irrenanstalt?
Der Unternehmer in Aufruhr

Aufruhr - Scharang
MICHAEL SCHARANG
AUFRUHR
Berlin: Suhrkamp
305 Seiten | € 23,55
ISBN: 978-3-518-42928-0
Erscheinungstermin: April 2020

Als der Psychiater Dr. Maximilian Spatz von seiner New Yorker Klinik beurlaubt wird, entscheidet er sich für ein Jahr nach Wien zu gehen, der Heimatstadt seines Vaters, des Komponisten Michelangelo Spatz. Dort geschieht in der Folge keineswegs, wie zu erwarten war, seinesgleichen … Denn schon während der Taxifahrt von Schwechat in die Grünangergasse im 1. Wiener Gemeindebezirk ergibt sich ein subversives Gespräch mit dem Taxifahrer, das in Spatz den Wunsch hochkommen lässt, es fortzusetzen. Wien erscheint ihm entgegen seiner Erwartungen als nicht ganz ausgeglichen. In der Wohnung seines Vaters angekommen, trifft er auf dessen langjährige Haushälterin Frau Ehrenreich, die ihm Anna Berg vorstellt, die Betriebsrätin in einem Kaufhaus auf der Mariahilferstraße ist und sich buchstäblich mit ihrem Vorgesetzten Dr. Kreuzteufel, einem brutalen Geschäftemacher und Ausbeuter, im Klassenkampf befindet.

Erstaunlicherweise sammeln sich von nun an um diese drei Hauptpersonen mehrere illustre Persönlichkeiten, die bereit sind Anna in ihrem – scheinbar aussichtslosen – Arbeitskampf zu unterstützen: So etwa der Biologe Franz Montefiori, der für naturhistorische Museen Elefantenknochen präpariert und seinen Organisationsspezialisten Philipp Zappel mitbringt, wie auch der ehemalige Patient von Dr. Spatz David Intrator, weiters ein Mathematiker der Statistik Austria und der Besitzer eines Herrenmodegeschäfts. Gemeinsam richten sie ein Büro der Revolution ein, von dem aus mittelfristig ganz Österreich in Aufruhr gerät und die Regierung dazu zwingt, das Land (zumindest) für drei Monate zu verlassen. Es bleibt offen, ob sie jemals zurückkehren kann. So kommt es schlussendlich zumindest im poetischen Raum der Literatur zu einem Ereignis, dass es nicht in die österreichischen Geschichtsbücher schaffen konnte, weil es so nie eigentlich gewesen war: ein erfolgreicher österreichischer Aufruhr, (fast) eine österreichische Revolution. Wir befinden uns also in Michael Scharangs Aufruhr – ganz nach Michail Michailowitsch Bachtin – in einer verkehrten, gänzlich „verrückten“ Welt der österreichischen Literatur.

2. Eine Ästhetik der Darstellung (und) des Widerstands …

Die Schüler von Loos
und die zahlreichen Mitarbeiter von Wagner
bauen den Karl-Marx-Hof,
ein Fanal sowohl der Moderne
als auch des sozialen Wohnbaus.
Anna Berg in Aufruhr

Ausgehend von diesem hier nur kurz dargestellten Plot tragen die Figuren in Aufruhr auf verschiedene Art und Weise kulturelle Kapitalien (im Sinne Pierre Bourdieus) und d. i. Wissenselemente aus Philosophie, Literatur, Musik oder Architektur und entsprechen dabei einer für Scharang grundlegenden Kunstvorstellung und Ästhetik. Denn Kunst ist ihm – nennen wir es einen kritischen Realismus, dem die Erzählstrategie ihrerseits durchgängig folgt – keineswegs ein Abbild der Realität. So legt der Autor seinem Protagonisten Spatz, der auch Bildhauerei studierte, Worte in den Mund, die wohl auch für ihn selbst und besonders für diesen Roman uneingeschränkte ästhetische Geltung beanspruchen können:

„Die Kunst scheint sehr umgänglich zu sein, deshalb laufen ihr so viele zu. In Wirklichkeit ist sie unbarmherzig. Deshalb gibt es so viele gescheiterte Künstler und tragische Künstlerexistenzen. Die Kunst ist sehr einfach. Sie ist die Darstellung der Welt. Weder Abbildung noch Analyse, noch Interpretation der Welt. Darstellung heißt: die Welt zeigen, wie sie ist – und wie sie noch nicht ist.“ (37–38)

Ausgehend von dieser einfachen wie intelligenten und deutlich sozioökonomisch abgestützten Fassung des Kunstproblems, welche eben nicht von einer Widerspiegelung, sondern vielmehr von einer konstruktiven Aktivität der Künstlerinnen und Künstler ausgeht, ergibt sich in den diskursiven Spiegelungen der Personage von Aufruhr ein (revolutionärer) Reigen von intellektuellen Bezügen: musikgeschichtlich werden u. a. Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart sowie Arnold Schönberg, Anton von Webern und Alban Berg (als Vertreter der ersten und zweiten Wiener Schule) ins Spiel gebracht. Im Rahmen der Kunstgeschichte werden Tizian und Tintoretto betrachtet, um philosophiegeschichtlich Hegel, Marx, Sartre und Adorno zu diskutieren. Aus der Literaturgeschichte werden u. a. – und bezeichnender Weise – Johann Nestroy, Karl Kraus, Robert Musil und Bertolt Brecht in das Narrativ eingebaut. Es handelt sich dabei auch auf allen Ebenen um ein deutliches Plädoyer für die Aufklärung, das durchgängig einer Ästhetik des Widerstands im Sinne Peter Weiss’ (2016) entspricht. Dabei wird auch sozialgeschichtlich deutlich, warum Aufklärung und Revolution heute oft als gescheitert betrachtet werden. Dr. Maximilian Spatz dazu:

„Deshalb hat Aufklärung kein Ansehen mehr. Die bürgerliche Aufklärung hatte ein Ziel: die bürgerliche Revolution, den Sturz der Feudalherrschaft. Die sozialistische Aufklärung hatte ein Ziel: die sozialistische Revolution, den Sturz der Bürgerherrschaft. Die jetzige Aufklärung hat ein Ziel: kein Ziel zu haben. Weil sie kein Ziel haben darf. Die Herrschenden verbieten das. Und es gelingt ihnen.“ (37)

3. Soziografien des historischen Materialismus

In Österreich […] landen wir in diesen Tagen
wieder in den dreißiger Jahren
und waten durch den politischen Schlamm,
den Austrofaschismus und Nationalsozialismus
zurückgelassen haben.
Die Frau des Geschäftsbesitzers in Aufruhr

Scharang gelingt es gemäß der deutlich vor Augen tretenden kritisch-realistischen Ästhetik durchgängig mit großer soziologischer Deskriptions- und Konstruktionskraft seiner Erzählung bestimmbare historische Konstellationen (im Sinne Walter Benjamins) zu unterlegen, die im fiktiven Raum dennoch auf konkrete und reale historische Ereignisse bezogen sind. So wird immer wieder deutlich, dass der Mai 68, der für Scharang nach wie vor eine eminente Rolle spielt, genauso mitgemeint ist, wie die amerikanische, die französische oder die russische Revolution, wobei durchgängig – etwa am Beispiel der Filme von Charlie Chaplin oder der Marx Brothers – auch die jeweiligen medialen Produktionsbedingungen (marxistisch) mitreflektiert und pointiert mediengeschichtlich verortet werden:

„Der Stummfilm, fuhr der Mann fort, ist realistisch und kritisch und märchenhaft, deshalb ist er nicht belehrend, sondern überzeugend. Also besonders gefährlich. Bei allem Respekt vor der russischen Oktoberrevolution – es gab auch eine amerikanische Revolution, sie fand im Stummfilm statt. Deshalb musste er verschwinden.“ (185)

Neben dem Film sind es auch klassische Printmedien wie die Arbeiterzeitung oder die Volksstimme, die mit den Figuren des Romans rund um das Rote Wien verflochten sind. Mehr als treffend sind dabei auch die durchaus an die Wurzel gehenden Analysen gesellschaftlicher Institutionen im Sinne ideologischer Staatsapparate, weshalb u. a. aber mehrfach – und im Rekurs auf Hegels Herr-Knecht-Dialektik – die gesellschaftlichen Verhältnisse des kapitalistischen Wissenschaftsbetriebs aufs Korn genommen werden:

„An der Universität, sagte Montefiori, müssen die Leute Jahrzehnte warten, bis sie zum Professor aufsteigen. Sie buckeln und kriechen vor denen, die bereits Professoren sind, das Buckeln und Kriechen hinter sich haben und alles tun, damit ihresgleichen heranwächst: geistig, seelisch und letztlich auch körperlich verunstaltete Menschen.“ (140–141)
So verfügen sich – nicht zuletzt in der Interpretation des Geschehens als sozialer Krieg bzw. Klassenkampf – Elemente der Ideologie-, Gesellschafts- und Herrschaftskritik mit einer subversiven Ästhetik und markieren damit auch eine zeitgemäße Möglichkeit im Rahmen des Historischen Materialismus zu argumentieren und Literatur zu schreiben. Dabei werfen die Personen dieses Romans immer wieder verschiedenartige Probleme vor einem gesellschaftlichen Hintergrund auf, der gerade durch dieseProblematisierungs-momente im Gesamtaufbau des Romans als (ver-)änderbar erscheint.

4. Literatur und Lüge

Vielleicht gibt es schönere Zeiten;
aber diese ist die unsere.
Jean Paul Sartre in Aufruhr

Ein weiser Mann hat viele
Jahrhunderte vor Christus gesagt
so etwas, wie die Menschheit in Ruhe lassen,
gibt es.
Aber so etwas wie die Menschheit regieren,
gibt es nicht.
Oscar Wilde in Aufruhr

Was Wunder also, dass Oscar Wildes The Soul of Man Under Socialism (Wilde 2012) fast leitmotivisch den Roman durchzieht, weil Michael Scharang – wie seine Romanfiguren – darauf insistiert, dass Menschen in Freiheit miteinander leben könnten, um damit im Sinne einer narrativen Zukunftsoffenheit den Musilschen Möglichkeitssinn gegen eine erstarrte (und d. i. konservative oder faschistische) Wirklichkeit zu halten, was Scharang jüngst an anderem Ort erneut mit Karl Kraus in Verbindung brachte. In der jüngsten Ausgabe von konkret formuliert der Autor deshalb:

„Kunst, sagt Karl Kraus, ist das, was Welt wird, nicht, was Welt ist. Literatur ist angesiedelt in der Gegenwart, findet aber in der Zukunft statt. Doch nicht in einer nebulosen. Gegenwart, das ist die Gesellschaft, wie sie ist, Zukunft ist die Gesellschaft, wie sie sein könnte.“ (Scharang 2020: 66)

Edward Hopper
Edward Hopper (1940): Office at night
© Wikimedia Commons

Insofern ist die Textur von Aufruhr von einem „Revolutionär-Werden“ (Gilles Deleuze) durchzogen, dass in einer an Edward Hoppers Gemälden orientierten Gegenstandsbezogenheit buchstäblich gleichzeitig die Potenz des (reflexiven) Umsturzes der gegebenen Verhältnisse erkennt und so – wohl auch im Sinne Sartres – die Freiheit der Menschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft garantieren kann.

Als Dr. Maximilian Spatz gemeinsam mit Franz Montefiori die Auslagengestaltung des Modehauses von Dr. Kreuzteufel übernimmt, um erstens Anna nahe zu sein und sie zweitens im Klassenkampf zu unterstützen, hängen sie in einer der Auslagen ein Zitat von Jean-Paul Sartre und eines von Oscar Wilde in die Öffentlichkeit und sorgen auch so bei den Passantinnen und Passanten für eine Stimmung des Aufruhrs …

5. Revolution(en): Umsturz, Aufstand, Protest, Revolte, Aufruhr …

Alles ist politisch.
Der Taxifahrer in Aufruhr
Die Revolution ist eine Schwester der Schönheit.
Zerlina Spatz in Aufruhr

Damit ist vom Titel weg das entscheidende Paradigma des gesamten Romans ausgemacht, der à la lettre im Tropus der Ironie durchgearbeitet wird. Denn so witzig der Roman sich durchaus liest, so ernst bleibt die Sache einer (zumindest potenziellen) Revolution und aller mit ihr verbunden Wortfügungen des Aufruhrs: von Umsturz und Aufstand über den Protest zur Revolte. Insofern stemmt Scharang sich auf allen Erzählebenen und in allen Perspektivierungen gegen den Versuch Revolutionen zu kriminalisieren, ihre progressive Rolle in der Menschheitsgeschichte zu löschen oder pauschal ihre Legitimität in Frage zu stellen. So steht der Möglichkeitssinn buchstäblich revolutionär gegen eine Wirklichkeit, die sich gegen jedwede Umgestaltung und Veränderung sträubt.
Dementgegen kommt es am Ende von Aufruhr zu einem Zusammenspiel von Warnstreiks, der aufständischen Übernahme des Österreichischen Rundfunks (die sicherlich mit Brechts hochgradig partizipatorischer Radiotheorie gedacht ist) und einer Allianz mehrerer progressiver aufrührerischer Gruppierungen, die ein Interregnum in der österreichischen Geschichte erzwingen, mit dem die Möglichkeit kollektiver Verwaltung oder auch rascher Umsetzung von Barrierefreiheit im fiktionalen Raum real wird. Und so bündelt sich am Ende im Fernsehstudio des ORF alles in einer einfachen, aber nichtsdestotrotz richtigen Einsicht:

„Zwei junge Aufständische, eine Frau und ein Mann, die seit einer Stunde vertieft in ein Gespräch mit dem ehemaligen stellvertretenden Direktor des Statistischen Zentralamts im Studio beisammenstanden, rollten nun Packpapier aus, schrieben in großen Buchstaben etwas drauf und befestigten es neben den beiden Plakaten:

Wohlergehen
aller
statt Bereicherung
weniger“ (298)

Ob dies nun mit Sprengungen von Kaufhäusern und bewaffnetem Widerstand oder mit Festen oder Feuerwerken zu erreichen sei, steht mit aller Ironie dann am Ende zur Debatte:
„Einmal noch gab es ein Feuerwerk. In einer Fabrik, in der Zündmaschinen hergestellt wurden […]. Den Beschäftigten ging es um mehr Lohn, vor allem aber um Mitbestimmung.“ (297)

Literatur

  • Scharang, Michael (2020): Literatur und Lüge. Der lange Weg vom Kunstgewerbe zur Sprachkunst, in: konkret 7/2020: 59–61.
  • Weiss, Peter (2016): Die Ästhetik des Widerstands, Berlin: Suhrkamp.
  • Wilde, Oscar (2012): The Soul of Man Under Socialism, London: Black House Publishing Ltd.

ALESSANDRO BARBERI ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: Mag. Dr. phil. Alessandro Barberi – Professur Pädagogik und Medienbildung (ovgu.de)

Diese Rezension erschien erstmalig in MEDIENIMPULSE 3/2020 und kann als pdf-Datei unter Reviewessay: Aufruhr von Michael Scharang | Medienimpulse (univie.ac.at)  heruntergeladen werden (letzter Zugriff: 10.01.2021).