Editorial ZUKUNFT 11/2021: Film und Politik – VON BIANCA BURGER, THOMAS BALLHAUSEN UND ALESSANDRO BARBERI

Einem Diktum Jean-Luc Godards zufolge ist der Film die einzige Spur, der einzige Zeuge. Damit ist auf den Punkt gebracht, dass Filme und die Produktionsbedingungen der Kinematografie in ihrer audiovisuellen Multimedialität nicht nur äußerst relevante historische Quellen darstellen. Denn die Geschichten des Kinos stellen immer auch Dokumente zeitgeschichtlicher Ereignisse dar und sind mehrfach mit der Politik und dem Politischen verbunden. Filme sind also politisch, wobei gerade die gegenwärtige Politik wie ein schlechter Film wirken kann. Die Kunst des Films kann dabei auch nicht nur auf ihre Bilder reduziert werden, weil sie auf verschiedenen Ebenen (Schriftlichkeit des Scripts, Hörbarkeit des Soundtracks, kultursoziologische Komponenten der Rezeption usw.) viel mehr bedeutet und also auch gesellschaftspolitisch viel mehr Macht hat, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Deshalb richten wir in dieser und der nächsten Ausgabe der ZUKUNFT den Fokus darauf, wozu der Film im Verhältnis zur Politik imstande ist … verstören, aufklären, wachrütteln etc.

Erkan Osmanovic widmet sich deshalb zu Beginn unserer Ausgabe anhand einer Reihe von Filmbeispielen unserem gesellschaftlichen und damit hoch politischen Verhältnis zur Arbeitslosigkeit. Dabei geht es u. a. um die filmische Umsetzung eines Klassikers der Soziografie, nämlich Die Arbeitslosen von Marienthal (1933), der im Jahr 1988 von Karin Brandauer unter dem Titel Einstweilen wird es Mittag eindrucksvoll verfilmt wurde. Den damit verbundenen Medienwechsel sucht Osmanovic u. a. auch im bedeutendsten Roman John Steinbecks auf, der mit The Grapes of Wrath (dt. Früchte des Zorns) und der nicht nur in Amerika weithin bekannten Figur des Tom Joad das Elend von Wanderarbeiter*innen eindringlich beschrieben hat. 1940 hat John Ford mit Henry Fonda in der Hauptrolle diesen Klassiker der Literaturgeschichte verfilmt. Insgesamt geht es in diesem Beitrag aber nicht nur um die breit dokumentierte (verschriftlichte und visualisierte) Erfahrung von Ausschlussmechanismen, sondern auch um die Frage, wie wir sozial und demokratisch das Problem der Arbeitslosigkeit vonseiten der Politik angehen können. Vielleicht durch ein sozialstaatlich abgesichertes bedingungsloses Grundeinkommen?

Einem anderen politischen und historischen Feld widmet sich anschließend Johanna Lenhart, wenn sie mit ihrem Beitrag den Film Angelo (2018) von Markus Schleinzer in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Der Film nimmt sich der Geschichte des schwarzen Angelo Soliman an, der im 18. Jahrhundert u. a. als Kammerdiener an europäischen Höfen diente und dessen Geschichte mehrfach erzählt und tradiert wurde. Eingehend wird dabei von der Research group on Black Austrian History berichtet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Darstellungstraditionen schwarzer Biografien aufzuarbeiten und rassistische Stereotype in der österreichischen Geschichte sicht- und kritisierbar zu machen. Mit Lenharts Beitrag und ihrer Aufbereitung von Angelo wird des Weiteren deutlich, wie groß die Gefahren sind, Biopics oder Historienfilme als objektive Wahrheiten zu lesen. Schleinzer versucht dieser Tatsache zuvorzukommen, in dem er etwa durch verfremdende Kameraeinstellungen das Publikum zu antirassistischer Reflexion bewegen will. Insgesamt kann Lenharts Aufruf Misstraue dem Narrativ! für jede kommende Filmsichtung gelten.

Mit Michael Burgers Beitrag zu David Finchers Film Mank (2020) werfen wir dann einen Blick auf die politische Macht Hollywoods. Denn Mank handelt nicht nur vom Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz, sondern vor allem von seinem Script für Orson Welles’ Citizen Kane, einem der bemerkenswertesten Streifen der Filmgeschichte, der auch achtzig Jahre nach seiner Uraufführung kaum an Aktualität eingebüßt hat. Dabei bringt Fincher mit einer reflexiven Geste die Produktionsbedingungen der Traumfabrik auf die Leinwand. Der Filmwissenschaftler Burger zeichnet die im Film erzählte Geschichte nach und stellt sie den realen filmpolitischen Gegebenheiten gegenüber, wobei deutlich wird, dass der eigentliche Hauptdarsteller des Films das Studiosystem der 1930er-Jahre ist. Im Blick auf dieses Produktionssystem wird mithin deutlich, dass der Mythos und das System Hollywood bis in die heutige Zeit von maßgeblicher politischer Bedeutung ist, wie sich anhand der spätkapitalistischen Distributionspolitik von Netflix und Co. zeigt: Denn durch geschicktes Marketing und die Verpflichtung von Hollywoodgrößen für ihre Formate gelingt es den heutigen Streaming-Anbietern mehr und mehr, am Markt zu partizipieren und etablierten Filmstudios den Rang abzulaufen. Die Traumfabrik von Mank wurde demgemäß auch von Netflix produziert …

Seit dem Untergang der Titanic am 14. April 1912 wurde dieses Schiff zu einem wirkmächtigen gesellschaftspolitischen Symbol, das ebenfalls in der Literatur- und Filmgeschichte mehrfach bearbeitet wurde. Wie diese Schiffkatastrophe von der nationalsozialistischen Führung gezielt für politische Propagandazwecke missbraucht wurde, schildert dann die Filmwissenschaftlerin und Redakteurin der ZUKUNFT Hemma Prainsack. Sie skizziert die beispiellose Entstehungsgeschichte der von Herbert Selpin verfilmten Titanic (1943) und die damit verbundenen ruchlosen Machinationen im NS-Propagandaministerium. Dabei verweist die Autorin auch angesichts von Geschichtsdidaktik auf die politische Notwendigkeit, Filmgeschichte und Medienpädagogik von früh an in unserem Bildungssystem zu verankern. Denn nicht zuletzt zeugen die jüngsten politischen Ereignisse in Österreich, wie unverschämt dreist noch gegenwärtig Medien beeinflusst, Meinung verordnet und Denkweisen der Bürger*innen manipuliert werden. Daher muss es ein dringliches Anliegen werden, die Edukation auch auf die Herstellung und (Wechsel-)Wirkung zwischen Bewegtbildern und progressiver Politik auszurichten.

Die Redaktion der ZUKUNFT freut es ganz besonders, dass wir auch in diesem Heft zwei herausragende literarische Beiträge abdrucken können. Den Auftakt macht der Dialogtext unseres stellvertretenden Chefredakteurs und Schriftstellers Thomas Ballhausen mit der Künstlerin Elisa Asenbaum. Sie buhlen nicht nur um die Gunst der Schirmfrau©, sondern verhandeln Fragen rund um Kunst, Anpassungsdruck sowie kapitalistischer Marktlogik und verwenden dabei zahlreiche filmische Referenzen, womit der Bezug zu unserem Schwerpunktthema mehr als deutlich wird. Mit starken sprachlichen Bildern und rhetorischen Formen arbeitet auch die Nachwuchsautorin Lorena Pircher in ihrer Kurzerzählung Alles an ihm ist Mond. Sie knüpft damit an ihre in der ZUKUNFT 08/2021 abgedruckte Erzählung Revenir an und verknüpft dabei die erzählerischen Fäden zu einem dichten Stück Literatur. Pircher stellt in diesem Text Fragen nach Übersetzbarkeit, Erinnerung, tatsächlichem Verstehen und Selbstbestimmung ins Zentrum, womit ein bemerkenswerter (und politischer) Gegenwartsbezug deutlich wird.

Auch ist es uns ein Anliegen, unseren Leser*innen im Rahmen dieser Ausgabe einen Kommentar von Werner Wintersteiner, seines Zeichens Friedenspädagoge und Friedensforscher, zum Wahlausgang in Graz mitgeben zu können. Dieses Plädoyer für eine gerechtere Welt beruft sich dabei auf die sozialistischen, anarchistischen und sozialrevolutionären Bewegungen seit dem 19. Jahrhundert und fordert eine buchstäblich soziale und demokratische Politik ohne Ausbeutung von Mensch und Natur. Damit wollen wir auch unabhängig von unserem Schwerpunktthema aktuelle politische Ereignisse – durchaus kontrovers – diskutieren. Denn Wintersteiner analysiert, kommentiert und visioniert angesichts der Dunkelrot-Hellrot-Grün-Koalition in Graz das gegenwärtige politische Feld Österreichs und wirft dabei einen gelungenen Blick auf eine neue politische Zukunft der steirischen Landeshauptstadt, deren Sozialpolitik nur als vorbildlich bezeichnet werden kann. Dabei geht es sicher auch um eine progressive ZUKUNFT im ganzen Land. Ein Gespenst geht um in Graz …

Die Bildstrecke dieser Ausgabe ist auch diesmal reich bestückt: Denn mit seiner Serie Vessels of International Migration, Cooperation and Exchange 1910s-2010s thematisiert der international renommierte Maler Fabian Erik Patzak vom Cover weg mit dreizehn Arbeiten die Migrationsgeschichte seiner Großeltern im Rahmen der hier präsentierten Kunstwerke. Was Schiffe – wie eben auch die Titanic – und Flugzeuge für den Künstler, der in einem internationalen Umfeld aufgewachsen ist, bedeuten und welche Sinnverschiebung er durch den Lockdown zwischen Österreich und den USA erfahren hat, erzählt er im Interview mit der ZUKUNFT-Redakteurin Hemma Prainsack, die mit ihm darüber diskutiert, dass Kunst immer ein Produkt der Zeit ist. Mit einem kleinen abschließenden Projektbericht gewährt der Künstler weitere Einblicke in seine Arbeitsweise und erläutert am Ende unserer Ausgabe sowohl die Bildstrecke als auch die Verarbeitung von geopolitischen Ereignissen in seinem Kunstschaffen. Diesbezüglich lässt Patzak uns auf den letzten Seiten unserer Ausgabe auch durch seine Fenster, seine Windows schauen …

Insgesamt hoffen wir, unseren Leser*innen wieder eine interessante Ausgabe erstellt zu haben und verweisen darauf, dass auch die kommende ZUKUNFT 12/2021 mit dem Titel Bildpolitik das Thema der Film- und Mediengeschichte aus einer eigenen Perspektive aufnehmen wird. Freuen Sie sich also auf ein abgerundetes Bild am Ende des Jahres 2021…

Mit herzlichen und freundschaftlichen Grüßen

BIANCA BURGER, THOMAS BALLHAUSEN und ALESSANDRO BARBERI

BIANCA BURGER
ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert.

THOMAS BALLHAUSEN
lebt als Autor, Kultur- und Literaturwissenschaftler in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zuletzt erschien sein Buch Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien).

ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der ZUKUNFT, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/