Editorial ZUKUNFT 10/2023: Gesundheit – VON ELISABETH KAISER UND ALESSANDRO BARBERI

Kaum ein Bereich der Politik ist dermaßen sensibel wie die Gesundheitspolitik. Denn am Stand der Gesundheit eines Landes lässt sich der Grad sozialer Ungleichheit z. B. im Blick auf die Zwei-, Drei- bzw. Vier-Klassen-Medizin genau ablesen. Damit ist der Gesundheitsbereich juristisch und soziologisch auch ein Gradmesser dafür, wie stabil und stark ein gegebener Sozialstaat ist. Denn die (medizinische) Versorgung und Deckung der Grundbedürfnisse aller Bürger*innen ist formal ein Recht, das zwar allen zusteht, aber keineswegs in den Lebenswelten der Menschen angekommen ist.

So ist das österreichische Gesundheitssystem zwar eines der besten der Welt, es weist aber gleichzeitig eine Reihe von gravierenden Mängeln und Missständen auf, weshalb die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen hat, dem Thema Gesundheit eine eigene Ausgabe zu widmen. Dabei konnten wir insgesamt neun herausragende Autor*innen gewinnen, die unser Thema aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachten und unseren Leser*innen zahlreiche Informationen und Argumente zu unserem Schwerpunktthema zur Verfügung stellen.

Dies beginnt mit dem Beitrag von Fatima Badawi, die einen kompetenten Einblick in die Struktur unseres Gesundheitswesens liefert. Dabei steht unserer Autorin vor allem die Gegenwart und Zukunft des Krankenhauses vor Augen, wenn sie deutlich macht, welche Veränderungen und Reformen dahingehend anstehen und notwendig sind. Denn im Umfeld der Covid-19-Pandemie und gerade in den letzten zwei Jahren erreichen uns täglich Meldungen über die aktuellen Probleme der Kliniken: es geht um gesperrte Stationen, fehlende Betten, Personalmangel, Gehaltsforderungen, abgesagte Operationen etc. In diesem Zusammenhang hat die Pandemie zwar gezeigt, wie wichtig ein leistungsfähiges Gesundheitswesen ist und wie essenziell eine gut ausgebaute Gesundheitsinfrastruktur sein kann. Aber Applaus allein reicht nicht aus, wenn deutlich vor Augen steht, dass die Menschen in unserem Land so wie unser Gesundheitssystem sehr erschöpft sind.

Ganz in diesem Sinne nimmt sich Kristina Hametner vor, die Probleme der Frauengesundheit in den Fokus zu bringen, um zu betonen, dass Frauen nach wie vor in vielen Lebensbereichen benachteiligt sind, wodurch sich eminente und negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit ergeben. Dabei geht es auch angesichts des Barbie-Hypes und der plastischen Chirurgie um den fatalen Schönheitsdruck, der auf Frauen lastet. Hametner zeigt in diesem Kontext auch, dass in Wien nach wie vor Frauen leben, die nicht über ausreichende Gesundheitskompetenz oder auch Sprachkenntnisse verfügen, um sich im Gesundheitssystem zurecht zu finden. Deshalb stellt sie für uns ein Konzept vor, welches die Frauengesundheitszentren FEM und FEM Süd erarbeitet und schon umgesetzt haben: Noch heuer wird das Frauengesundheitszentrum FEM Med am Reumannplatz eröffnen, wo diese Frauen ein erstes medizinisches Clearing zu ihren Anliegen und Beschwerden bekommen.

Dass eine progressive Gesundheitspolitik schon länger auf der Agenda der SPÖ und vor allem ihrer Basis steht, zeigt der Beitrag von Alessandro Barberi, der ausgehend von den schriftlich dokumentierten Diskussionen zu einem neuen Parteiprogramm, die zwischen Jänner 2015 und Februar 2016 unter Beteiligung hunderter Genoss*innen stattfanden, nach wie vor den Status Quo hinsichtlich der Gesundheitspolitik zusammenfassen kann. Dabei geht es u. a. um Zweiklassenmedizin und die Notwendigkeit einer zentralen Verwaltung sowie um Prävention und psychotherapeutische Versorgung. Insgesamt wird so deutlich, dass sich die sozialistische Bewegung einer Privatisierung des Gesundheitssystems nachdrücklich entgegenstellen muss, um dabei auch den freien und transparenten Informationszugang zu Bildung und Wissen im Sinne einer Gesundheitspolitik 4.0 zufordern.

Celina Müller argumentiert dann eindringlich, dass Assistenztechnologien wie z. B. Rollstühle und einfache Robotiksysteme im Gesundheitsbereich ein nützliches Werkzeug zur Förderung von Souveränität sein könnten. Sie betont deshalb die Schlüsselrolle der Assistenztechnologie u. a. bei der Erreichung von Inklusionszielen und der Förderung eines eigenständigen Lebens im Alter und plädiert so für eine umfassendere Definition dieser Technologien. Denn die Zukunft der Assistenztechnologie bietet immenses Potenzial für Gestaltung und ermöglicht Teilhabe, Gemeinschaft, Selbstbestimmung und Autonomie. Indem (digitale) Technologie inklusiv eingesetzt wird, um Barrieren zu überwinden, könnten wir eine (soziale und demokratische) Gesellschaft schaffen, in der jeder Mensch sein volles Potenzial ausschöpfen kann.

Mit ihrem Beitrag Die Gesundheit darf nicht vom Geldbörsl abhängen! thematisiert auch Julia Herr, Vize-Klubobfrau der SPÖ, den drohenden Gesundheitsnotstand in Österreich. Dem Gesundheitssystem attestiert sie, nach wie vor eines der besten der Welt zu sein, doch mit gesundheitlicher Ungleichheit sowie wachsendem Ärzt*innen- und Pflegepersonalmangel vor enormen Herausforderungen zu stehen. Dabei stellt sie eine Reihe von Forderungen in den Raum, die das Ziel verfolgen, die beste Gesundheitsversorgung für alle zu verwirklichen. Es darf nicht am Geld liegen, ob ein OP-Termin in zwei Wochen oder erst in einem halben Jahr stattfindet und es darf nicht davon abhängen, ob die Bürger*innen sich eine Privatversicherung oder Wahlärzt*innen leisten können, um rasch die beste medizinische Beratung und Versorgung zu erhalten. Conclusio: Alle Menschen haben das Recht auf beste Gesundheitsversorgung!

Parallel dazu heben auch Magdalena Eitenberger und Lisa Lehner, beide promovierte Gesundheitsforscherinnen in Wien, hervor, dass uns Gesundheit alle angeht. Unsere Autorinnen diagnostizieren dahingehend für Gesellschaft und Politik mangelnde Verantwortungsübernahme für die Verteilung von Gesundheit und Krankheit in Österreich. Besonders in Hinblick auf die großen Gesundheitsherausforderungen der Zukunft und die verheerende Auswirkung von sozialer Ungleichheit auf das Erleben von Gesundheit und Krankheit braucht es einen ambitionierten und ganzheitlichen Zugang zu Gesundheit als soziale und solidarische Angelegenheit. Dabei geht es gerade in diesem Beitrag auch um die schwierige Lage von LGBTIQ+-Personen, die eine eigene Gender-Medizin benötigen. Deshalb präsentieren wir im Rahmen dieses Beitrags auch eine solide und tiefgehende Bibliografie zum Thema, die weitere Forschungen anregen soll.

Dass die reproduktiven Rechte von Frauen – etwa angesichts der Abtreibung und der Fristenlösung – in Österreich keineswegs gesichert sind, analysiert dann Mirijam Hall, die der Misogynie des österreichischen Gesundheitssystems zahlreiche Argumente entgegensetzt. So zeigt sie die mangelnde Versorgungssicherheit für Frauen nicht nur beim Thema Schwangerschaftsabbruch, sondern spannt den Bogen zu drohenden politischen Rückschritten vor allem im Bereich der Frauenrechte. Im Einklang mit allen anderen Autor*innen unserer Ausgabe hebt auch Hall hervor, dass jeder Mensch das Recht auf Gesundheit und ein selbstbestimmtes Leben ohne Zwang, Diskriminierung und Gewalt hat. Dies umfasst ganz im Sinne des Feminismus auch das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen und frei über Sexualität und Kinderzahl zu entscheiden. Eine Forderung, die in Österreich noch lange nicht umgesetzt ist.

Die frauenspezifischen Problemlagen im Blick auf Medizin und Gesundheit untersucht dann auch Miriam Hufgard-Leitner, die sich damit beschäftigt, wie der Gender Data Gap von Untersuchungen über Symptomatologien bis hin zu Packungsbeilagen manifeste Auswirkungen hat, weil medizinische Daten vor allem bei Männern erhoben werden. In diesem Kontext muss betont werden, dass der Einfluss von sex und gender weiterhin zu wenig untersucht, verstanden und adressiert wird. Denn in kaum einer anderen Disziplin zeigen sich die fatalen Folgen des Nicht- Beachtens geschlechtsspezifischer Unterschiede so unmittelbar wie in der Medizin. Es ist daher höchste Zeit, Gender Medicine selbstverständlich anzuwenden und Wissenslücken zu schließen, um, so unsere Autorin, parallel dazu in die Ausbildung von medizinischem Personal und in die Aufklärung der Bevölkerung zu investieren.

Unsere Diskussionen sind auch diesmal mit einer sensiblen Bildstrecke gerahmt, für die wir Paul Kitzmüller herzlich danken wollen. Der Künstler untersucht mit seinen seismografischen Linien sich wiederholende menschliche Charaktere, die alle miteinander verbunden sind. Damit unternimmt er den Versuch, unsere Gesellschaft zu spiegeln und ihr einen Spiegel vorzuhalten. Alles ist in Bewegung … so auch der Titel des Interviews, das Kitzmüller der Redaktion der ZUKUNFT freimütig gegeben hat, um einige Fragen zu Kunst, Ästhetik, Politik und auch Gesundheit zu beantworten. So können wir unsere Schwerpunktausgabe abrunden und abschließen. Denn auch Paul Kitzmüller betont: Ein gesunder Mensch ist zufrieden mit sich selbst!

Insgesamt denken die Herausgeber*innen und die Redaktion der ZUKUNFT mit den hier der Öffentlichkeit übergebenen Beiträgen unserer Schwerpunktausgabe zu Gesundheit ein breites Spektrum an Positionen, Theorien und Argumenten zu präsentieren, das unseren Leser*innen – aber auch Politiker*innen und Funktionär*innen – als Diskussionsgrundlage und Handlungsorientierung dienen kann. Das Gesundheitssystem stellt – ähnlich wie unser Bildungssystem – einen neuralgischen Punkt unserer Gesellschaft dar, an dem deutlich wird, wo und wie soziale und demokratische Veränderungen so notwendig wie unumgänglich sind. In diesem Sinne wünschen wir uns abschließend nur eines: Bleiben Sie bitte gesund!

Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße

ELISABETH KAISER und ALESSANDRO BARBERI

ELISABETH KAISER

hat das Diplomstudium Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien sowie den Masterlehrgang „Führung, Politik und Management“ am FH Campus Wien abgeschlossen. Aktuell absolviert sie das Psychotherapeutische Propädeutikum an der Universität Wien. Von 2008 bis 2016 hat sie in der Funktion der Geschäftsführerin den Verein ega:frauen im zentrum geleitet. Seit Mitte 2016 ist sie als stellvertretende Direktorin der Wiener Bildungsakademie (wba) tätig.

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/