Der Beitrag von THOMAS NOWOTNY bespricht die jüngste Publikation von Sahra Wagenknecht und fasst die wichtigen Diskussionen zusammen, die sich nicht zuletzt dadurch ergeben haben, dass die Politikerin der LINKEN Positionen vertritt, die dem „Völkischen“ und der AfD entsprechen …
I. Einleitung
Sahra Wagenknecht war bis 2019 Fraktionsvorsitzende der deutschen Partei DIE LINKE. Sie ist nunmehr Spitzenkandidatin dieser Partei für die anstehenden Bundestagswahlen im größten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen. Der Öffentlichkeit ist sie aber vor allem als Publizistin und Kommentatorin bekannt. Ihr jüngstes – hier besprochenes – Buch Die Selbstgerechten – Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt wurde sehr breit und vielfach sehr kritisch diskutiert. Letzteres auch in der eigenen Partei, wo darob in ihrem Landesverband Nordrhein-Westfalen ein Antrag auf Parteiausschluss eingebracht wurde.
Das verweist auf die Emotionen, welche mit dem Buch ausgelöst wurden. Sie beziehen sich nicht auf dessen zweiten Teil, mit seinen sachlich gut begründeten Vorschlägen für Alternativen in Kernbereichen der Politik. Die kritische Diskussion und die kritischen Rezensionen beziehen sich vor allem auf den ersten, sehr polemischen Teil des Buches. Er ist eine Abrechnung mit den von Wagenknecht so genannten „Lifestyle-Linken“. Diese sähen sich als „linksliberal“, wären aber tatsächlich weder links noch liberal. Sie seien nicht „links“, weil sie nicht länger die benachteiligten Schichten der Bevölkerung vertreten. Und sie seien nicht liberal, weil sie leugnen, dass es allseits verbindliche, rational begründete politische Werte geben könne.
Der Niedergang der großen traditionellen europäischen Linksparteien sei dadurch verursacht, dass diese selbstverliebten und selbstgerechten Menschen aus dem akademischen Mittelstand zunehmend das Erscheinungsbild der traditionellen Linksparteien geprägt hätten. Dadurch hätten sich diese traditionellen Parteien ihrer alten Kernwähler*innenschaft, der minderverdienenden Arbeiter*innenschaft, entfremdet.
II. Fridays for Future und die Bergarbeiter*innen
Ein von Wagenknecht geschilderter Zwischenfall macht das augenscheinlich: Jugendliche aus der Fridays for Future-Umweltbewegung organsierten einen Protestmarsch ins Lausitzer Braunkohlerevier, um eine sofortige Stilllegung des Kohle-Abbaus durchzusetzen. Es kam zu einem Zusammenstoß mit Bergarbeiterinnen, die sich einem ersatzlosen Verlust ihrer Arbeitsplätze entgegenstellten. Nun kann man einwenden, dass es sich dabei um den Konflikt von zwei durchaus verständlichen und großen Anliegen handelt, so dass der Konflikt keine der beiden aufeinanderstoßenden Gruppen delegitimiert.
Weniger nachvollziehbar und berechtigt scheint der aufgeheizte Konflikt um Symbole und bloße Haltungen: der Konflikt darüber, ob vegane Schnitzelesserinnen berechtigter Weise für ihr sündiges Verhalten kritisiert werden dürfen; ob man „politisch korrekte“ Sprache einmahnen und darauf bestehen darf, dass lang verwendete, allen geläufige Worte unter Sanktionsdrohung durch genderneutrale ersetzt werden; der Konflikt darüber, ob es vertretbar und gerecht ist, all jene als Rassist*innen zu denunzieren, denen massive Zuwanderung aus außereuropäischen Staaten mit ihren sehr anderen Kulturen etwas Unheimliches ist; und ob es schließlich politisch und moralisch sinnvoll ist, sich selbstgerecht mit immer kleineren Gruppen von Menschen zu identifizieren, welche als Opfer des übrigen, größeren Teils der Gesellschaft vorgestellt werden; wodurch dieser größere Teil der Gesellschaft – die notorischen „weißen alten Männer“ – automatisch als Übeltäter, Aggressoren und Unterdrücker auf die Anklagebank gestellt werden.
III. Zerstörte Solidarität und Ressentiment?
Hinter all diesen Attitüden der „Lifestyle-Linken“ steckt ein gehöriges Stück von Anmaßung; ein als selbstverständlich erachtetes Recht, sich über andere zu erheben; und diese dadurch im wortwörtlichen Sinn zu de-klassieren; also einer moralisch minderwertigeren Unterschicht zuzuordnen. Die „Lifestyle-Linke“ zerstört damit das, was Linken oberstes Gut sein sollte und durch lange Zeit oberstes Gut war; nämlich den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt, die gesamtgesellschaftliche Solidarität.
Man kann diesen Vorwurf der Zerstörung von Solidarität freilich auch gegen Wagenknecht selbst umkehren. Sind die Jugendlichen, welche in der Lausitz für die baldige Schließung der Kohle-Bergwerke protestieren allesamt nur arbeiter*innenfeindliche Egomanen? Sind jene, welche Flüchtlingen freiwillig Deutschunterricht geben, Feinde der deutschen nationalen Solidaritätsgemeinschaft? Und schimmert da in der Polemik gegen die neue, die sozialdemokratischen Parteien zunehmend bestimmende akademische Mittelschicht, nicht auch ein Generalverdacht gegenüber sämtlichen Eliten durch, selbst wenn sich diese als „linke“ verstehen? Aber darüber hinaus: ist diese ganze Polemik Wagenknechts nicht auch durchdrungen von Skepsis gegenüber Intellektualität überhaupt; eine Skepsis, so wie sie – zu deren großen politischen Nutzen – von radikalen, rechtspopulistischen Bewegungen angefacht wird? Ähnlich sind sich Wagenknecht und die populistische, nationalistische Rechte auch durch den Gebrauch einer die Gegner*innen herabwürdigenden, denunziatorischen Sprache, durch welche diesen Gegner*innen der Anspruch auf Seriosität, ja auch der bloße Anspruch auf Gehört-Werden entzogen wird. Beispiele dafür sind im ganzen Text verstreut: Die sich sozial und umweltbewusst gebenden Eltern, welche ihre „Kinder im Elektro-Zweitauto in eine Elite-Schule chauffieren“; jene, die auf den Balkonen ihrer „,schicken Altbauwohnung Petersilie züchten“, die ihr Studium „mit Papas Vermögen und Mamas Beziehungen“ geschafft haben; und die sich als „Sittenwächter“ für politische Korrektheit mobilisieren; die verächtlich auf die ihnen fremden Bewohner*innen der alten „Plattenbauten“ (wie sie in der DDR so wie im gesamten Ostblock üblich waren) hinunterblicken etc.
IV. Nationalistisch-populistische Extreme und das „Völkische“
Ein weiterer Gleichklang der Argumente Wagenknechts mit jenen der nationalistisch-populistischen extremen politischen Rechten sollte ebenfalls Alarmglocken schrillen lassen. Es ist das die Ablehnung nicht bloß der Globalisierung (wofür sich noch einige Argumente finden ließen), sondern auch die Skepsis gegenüber der europäischen Integration. Politik könne – so Wagenknecht – nur innerhalb einer Solidaritätsgemeinschaft wirksam gemacht werden, die als solche wahrgenommen wird und die sich als solche bewährt habe. Die Mitgliedstaaten der Union seien voneinander zu verschieden. Diese Unterschiedlichkeit bilde keine verlässliche Grundlage für eine weitreichende gemeinsame Politik der Union. Das würde sich auch daran beweisen, dass die Union bei allen größeren Herausforderungen der jüngeren Vergangenheit versagt hätte.
Abgesehen von der Anbiederung an einst gängige „völkische“ Argumente ist diese Behauptung auch schlichtweg falsch. Die Finanzkrise des Jahres 2008 hat nicht das Ende des Euro gebracht, sondern dessen Stärkung. Heute zweifelt niemand mehr an seinem Fortbestand. Auch eine handlungsfähige Bankenunion wurde damals geschaffen. Der Corona-Pandemie hat sich die Union mit dem gemeinsamen Kauf von Impfstoff entgegengestellt (was wäre gewesen, wenn die Union das nicht getan hätte und alle Mitgliedstaaten separat um seine Kontingente hätte kämpfen müssen?). Schließlich kam es infolge der Pandemie zur – vorher als unmöglich erachteten – Aufnahme von gemeinsamen Schulden; und damit zum Entstehen eines „tiefen“ Euro-Kapitalmarktes. Die EU ist an unmittelbaren Herausforderungen also zumeist gewachsen und hat zumeist nicht versagt.
Und schließlich: kaum eine der anstehenden, wirklich großen Aufgaben ließe sich von einem nur für sich selbst handelnden EU-Mitgliedstaat bewältigen, selbst nicht von einem Mitgliedstaat wie Deutschland, mit seinem etwas größeren wirtschaftlichen und politischen Gewicht. Man verzeihe die verbale Mini-Aggression: national lässt sich Sozialismus nicht verwirklichen; und nicht einmal eine aufgeklärte, menschenwürdige Marktwirtschaft.
Das zeigt sich nicht zuletzt auch im zweiten Teil des Buches mit Vorschlägen für eine alternative Wirtschaftspolitik. Keine dieser Vorschläge ließen sich in einem nur für sich selbst handelnden Deutschland umsetzen. Umgesetzt werden könnten solche grundsätzlichen, wirtschaftlichen Reformen nur in einer – sich zunehmend konsolidierenden – Europäischen Union.
V. Finanzkapital und Demokratie
Dabei sind die wirtschaftspolitischen Vorschläge Wagenknechts durchaus beachtlich; wie etwa die Kritik an dem vom Finanzkapital bevorzugten und geförderten Unternehmensmodell von Aktiengesellschaften. Es verleitet dazu, Werte aus der Wirtschaft abzuschöpfen, statt ihr durch Mehrung von Betriebs- und Humankapital neue Werte zuzuführen. So werden dadurch die echten Leistungsträger*innen bestraft und die bloßen Abzocker*innen begünstigt. Wagenknecht fordert daher eine neue Organisationsform für Großunternehmen in der Form von „Leistungseigentum“, mit der es dann eben mehr Wertschöpfung und weniger „Wertabschöpfung“ geben würde. Zurecht verweist Wagenknecht auch darauf, dass der Beitrag des Staates zur Wohlstandsmehrung weit unterschätzt wird; und dass zum Beispiel in den staatlichen Budgets Ausgaben für Forschung und Bildung nicht als Investitionen, sondern als unproduktive Ausgaben registriert werden.
Was Sahra Wagenknecht da vorschlägt ist also keineswegs die von Altkommunist*innen einstmals erträumte Abschaffung der Marktwirtschaft und „Expropriation der Expropriateure“. Es geht ihr vielmehr darum, die Dysfunktionalitäten zu beseitigen, welche der Entfaltung einer echten Wohlstand mehrenden Wirtschaft und echter Leistungsbereitschaft im Wege stehen. Wohlüberlegt und sachlich fundiert sind auch die Anregungen zur Sanierung der Demokratien. Offensichtlich leiden diese zunehmend an innerer Schwäche. Das bedroht sie gründlicher als die Gegnerschaft autoritärer Regime. Um dem abzuhelfen wird von Wagenknecht vorgeschlagen, die legislativen Verfahren durch „Bürger*innenforen“ zu ergänzen, in denen durch Los ausgewählte, für die Gesamtbevölkerung repräsentative, Staatsbürger*innen unter Mitwirkung von Expert*innen, im Konsens Vorschläge für die Lösung auch sehr kontroversieller Themen unterbreiten. Ein solches Verfahren hat sich zuletzt in Irland bewährt, als es möglich wurde, durch eine solches Bürger*innenforum neue Regelungen in der Frage der Abtreibung durchzusetzen – ein politisches Problem an dem die konventionelle irische Politik bis dahin gescheitert war.
Die Umsetzung solcher konkreter, im zweiten Teil des Buches gemachter Vorschläge, würde Wirtschaft und Demokratie sicher stärken. Das wäre auch zum Vorteil der weniger privilegierten Teile der Gesellschaft, denen es unter den gegebenen Umständen schwerfällt, ihre Interessen durchzusetzen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind aber nicht länger in der Lage dazu, durch Konsens getragene Lösungen anzubieten. Ursache dafür sind weniger die Mängel in den wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen, denen oft die für solche Korrekturen und für eine solche Umverteilung notwendigen Werkzeuge fehlen. Die Ursachen liegen tiefer in einer zunehmenden Individualisierung und einer zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft in Untergruppen, welche einander bestenfalls verständnislos und in zunehmendem Ausmaß feindlich gegenüberstehen.
VI. Fragmentierung, Mittelschicht und Rechtspopulismus
Diese Fragmentierung der Gesellschaft hat auch handfeste materielle Gründe – etwa die Einkommensverluste der unteren Mittelschicht und die demgegenüber wachsenden Einkommen der zumeist akademisch ausgebildeten, oberen Mittelschicht. Wäre das aber das hauptsächliche Problem, so ließe es sich auch in einem rationalen Ausgleich von Interessen lösen. Dass dies unmöglich bleibt, ist tiefgreifender gegenseitiger Entfremdung geschuldet; dem Verlust von Gemeinschaftlichkeit und Zusammenhalt, der sich zu blanker Feindseligkeit und gegenseitiger Verachtung aufschaukelt. Wie oben dargestellt, sieht Wagenknecht die hauptsächliche Schuld dafür bei dieser neuen, akademisch gebildeten, ihrer Ansicht nach bloß pseudo-linken Mittelschicht. Aber natürlich ist diese Entfremdung und zunehmende Feindseligkeit auch eine gegenseitige. Sie geht auch von der deklassierten unteren Mittelschicht aus. Mit bloßen materiellen Abfindungen (etwa höheren Transferleistungen zu Gunsten dieser unteren Mittelschicht) kann diese Kluft nicht überwunden werden. Dazu klaffen die Lebenswelten der beiden Teile schon zu sehr auseinander. Auf der einen Seite jene, die sich mit Multikulturalität, Internationalität, raschem Wandel leichter abfinden und für die der frühere bürgerliche Wertekodex von Dauerhaftigkeit, Beständigkeit, Verlässlichkeit und Familiensinn kaum mehr verbindlich ist. Auf der anderen Seite jene, denen das Verwurzelt-Sein in gewachsener Gemeinschaft, unersetzliche Heimat bedeutet und die sich durch ihre Arbeit und nicht durch den Stil ihres Konsums definieren.
Das zeigt sich auch daran, dass diese untere Mittelschicht sowohl in den USA wie auch in Europa politisch zunehmend von rechtspopulistischen Parteien vertreten wird; und nicht, wie zu vermuten gewesen wäre, von Linksparteien, welche sich traditionell für vermehrte Transferleistungen an den weniger privilegierten Teil der Gesellschaft eingesetzt hatten. Rechtspopulist*innen nutzen das Misstrauen, ja den Hass dieser Unterschicht, gegenüber den Eliten, welche den von ihnen nicht gewollten Wandel vorantreiben und von ihm profitieren.
Wie sehr das Materielle dabei in den Hintergrund tritt, zeigen auch die Beispiele von Trump in den USA und von Berlusconi in Italien – Superreiche, die mehr als andere materiell von der Ausbeutung der unteren Mittelschicht profitiert haben und die dennoch Leitfiguren des Aufstands der unteren Mittelschicht wurden.
VII. Schluss
In ihrem Buch hat Wagenknecht im Wesentlichen für eine dieser beiden Streitteile Partei ergriffen; und dadurch die Spaltung vertieft, die sie – dem Titel ihres Buchs gemäß – mit Gemeinsinn und Zusammenhalt überwinden wollte.
THOMAS NOWOTNY ist Politikwissenschaftler, Diplomat und Autor. Zwischen 1970 und 1975 war er Sekretär im Büro von Bundeskanzler Bruno Kreisky, seit 1994 ist er als Dozent an der Universität Wien tätig.
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