Vor Kurzem ist ein prächtiger Band zum Werk des in New York ansässigen „letzten großen Malers der religiösen Ikonen“ Joe Coleman erschienen. Er fasst fünf Jahrzehnte eines beeindruckenden Schaffens zusammen, das sich schonungslos an den Schattenseiten der amerikanischen Mythen abgearbeitet hat. Christian Zolles hat den Band auf sich wirken lassen.
I. Dystopie und Kollaps, Außenseitertum und Chaos
Dystopie und Kollaps, Außenseitertum und Chaos ziehen sich durch die vielseitige künstlerische Existenz Joe Colemans (*1955), die von der biografischen kaum zu trennen ist und ihre Impulse stets aus der Mitte der Gesellschaft bezieht. Seine mosaikhaften Bildwelten haben dem New Yorker einen Ruf als „letzten großen Maler der religiösen Ikonen“ (Jim Jarmusch) beschert und ihn als Apokalyptiker der Alltagswelt ausgewiesen. Er hat die Schattenseiten des amerikanischen Traums eingefangen, die Gewalt auf den Straßen, das Psychopathische und Wahnsinnige in den Familien und die Verlogenheit der nationalen Mythen.
Die Gemälde sind mit einer faszinierenden Obsession für Details und einer strapaziösen Maltechnik ausgeführt, sind maximal präzise, künstlerisch gebanntes Chaos. Coleman ist bekannt dafür, kleinstformatige Ausschnitte seiner collageartigen Gemälde mitunter lediglich mit einzelnen Pinselhaaren zu bearbeiten, die er unter einer Restauratorenlupe führt. Kennzeichnend sind ein immenser Referenzreichtum in all seinen Bildern, in denen zentrale biblische Motive mit popkulturellen Versatzstücken in einer farbenprächtigen Bildsprache verschmelzen. Für sie nimmt er Anleihen beim Comic wie beim Expressionismus und schafft es bei aller glitzernden Showästhetik doch eine Brücke zur mittelalterlichen Illustrationskunst zu schlagen.
Hieronymus Boschs Visionen der Höllenqualen scheinen in Coleman, der am Anfang seiner Karriere auch als Performencekünstler und Punk-Musiker in Erscheinung getreten ist, ein höchst entsprechendes US-Medium gefunden zu haben.
II. Ein Zugang zu Joe Coleman
Neben typischen Szenen aus der Hölle des Alltags und Porträts von Serienkillern stehen sehr persönliche Gemälde, Selbstporträts oder die Verarbeitung extremer Erfahrungen. A Doorway to Joe und A Doorway to Whitney – Letzteres ein Gemälde über seine Ehefrau und Partnerin in obskuren Belangen – stechen in ihrer Detailgenauigkeit noch hervor, schließlich hat Coleman jeweils vier Jahre an den beiden ,Biografien‘ gearbeitet. Besonders eindrücklich und auffallend sind auch die zahllosen Bezüge auf Geburten, Neu- oder Ungeborene, die wie im Limbo, in der Vorhölle zu verweilen scheinen: Die Apokalypse verweist hier ganz offensichtlich nicht ins Jenseits, sondern ins Diesseits, sie ist Realität und immer ein gegenwärtiges Phänomen.

Seattle: Fantagraphics Books
450 Seiten | $ 99,99
(Gebundenes Buch)
Erscheinungstermin: 2023
2023 erschien mit A Doorway to Joe: The Art of Joe Coleman eine umfassende Würdigung seines Werks aus fünf Jahrzehnten. Mit über 150 Gemälden, als Ganzes und im Detail abgedruckt und erläutert, bildet es eine unvergleichliche Fundgrube an obskuren und gewaltreichen Sittenbildern. Sie sind immer auch räumlich ausgebreitete Erzählungen, in Bildsequenzen in- und nebeneinander arrangiert und teils mit Texten versetzt, die zeigen, dass er seiner frühesten Arbeit als Comiczeichner auf seine Weise treu geblieben ist.
Neben einer Einleitung von Tom Waits geben kurze Essays von Weggefährten biografische Einblicke. Man erfährt von den Eindrücken, die katholische Bilder der Marter und ‚heiligen Gewalt‘ auf den jungen Coleman hatten, über die zahlreichen weiteren Einflüsse von Renaissance-Malerei bis Surrealismus, seine explosiven Bühnenperformances als Alter-Ego Dr. Mombooze-o und dass er es sogar schaffte, aus einem Club erklärter Outsider ausgeschlossen zu werden. Seinen Weg ging er konsequent und konnte sich im Kunstbetreib, selten genug, weitgehend kompromisslos etablieren.
III. Apocalypse Culture

VON ADAM PARFREY (HG.)
Minneapolis: Feral House
362 Seiten | € 15,38 (Taschenbuch)
Erscheinungstermin: 1991
Ein Abschnitt ist der Behandlung von Colemans Odditorium gewidmet: ein Privatmuseum voller morbider Kuriositäten, das seine Vorliebe für kriminelle Artefakte spiegelt und immer wieder auch Eingang in das Werk gefunden hat. Die Schaustücke erstrecken sich von Memorabilien von Serienmördern, mit denen Coleman auch selbst Briefe austauschte, Wachsfiguren aus aufgelassenen Gruselkabinetten, Schrumpfköpfe und Mumien über Blutproben von Persönlichkeiten bis hin zu – erneut scheint das Geburtsthema durch – zwei Präparaten von anenzephalen Neugeborenen.
Gewidmet ist der Band Adam Parfrey, dem Coleman seine erste Publikation zu verdanken hat und der mit Apocalypse Culture Mitte der 1980er-Jahre einen Untergrund-Hit landete. Darin fanden sich Geschichten und Quellen wüstester Devianz nebeneinandergestellt, von denen die abgebildete 50. Aktion von Hermann Nitsch noch auf der harmloseren Seite liegt. Repräsentativ am Cover: ein Gemälde von Coleman.
Dass eine russische Ausgabe 2006 aufgrund eines Essays per Erlass des Kremls als Drogenpropaganda verboten wurde, spricht für sich. Andererseits sind auch manche künstlerisch-politischen Provokationen nicht besonders gut gealtert, bedenkt man die Entwicklung, die der Internet-Diskursraum im letzten Jahrzehnt genommen hat und vieles früher Unerhörtes fast schon zur Selbstverständlichkeit hat werden lassen.
IV. Gegengeschichte der Americana

Mit seinen nonkoformistischen Visionen hat Coleman die Gegengeschichte der Americana der letzten Jahrzehnte festgehalten: schonungs- und tabulos, dabei ungemein detailverliebt, ansteckend eklektizistisch und bis in die letzte Pinselfaser hinein vibrierend.
A Doorway to Joe kann schon jetzt als ein wunderbar alptraumhaftes Zeitzeugnis einer amerikanischen Epoche gelten, deren Subkultur es über Jahrzehnte geschafft hat, einzigartige Bilder und Stimmen aus dem Abseits in die Welt hinaus zu tragen. Es wäre höchst an der Zeit, die Impulse aufzugreifen, die eigenen Archive kräftig durchzulüften, von den politischen wieder auf die künstlerischen Splatter-Effekte zurückzukommen, die Abgründigkeit der Freakshows des Alltags auf Leinwand und Papier zu bannen und über den großen Teich zurückzuspielen. Make America Pulp Fiction Again!
CHRISTIAN ZOLLES
JOE COLEMAN
„Meine erste Ausführung zur biblischen Johannes-Offenbarung ist eine sehr persönliche Vision, in der ich versuche, meinen Ausweg aus den Ungerechtigkeiten der Welt zu malen. Whitney und ich sitzen auf dem Kopf des ‚Biests‘. Enge Freunde werden belohnt, indem sie mit uns in unser himmlisches Königreich einziehen, und unsere Feinde werden in die Qualen der Hölle geschickt. Whitney hält die Richtwage und ich halte das Buch der Offenbarung mit den sieben geöffneten Siegeln. Es zeigt das gesamte Gemälde als Miniatur. Der äußere Rand ist mit Seiten aus der Johannes-Offenbarung besetzt, herausgerissen aus einer Bibel im Miniaturformat, die zuvor von einem katholischen Priester gesegnet wurde. Die Seiten sind mit Whitneys und meinem Blut beschmiert.“
Joe Coleman
ist Kulturhistoriker und Hochschul-/Lehrer. Er lebt und arbeitet in Wien. Weitere Infos online unter: www.univie.ac.at/germanistik/christian-zolles/.
Joe Coleman
Die HerausgeberInnen der ZUKUNFT danken dem Verlag Fantagraphics Books für die Erlaubnis des Wiederabdrucks der Abbildungen. Sie finden sich in A Dorway to Joe: The Art of Joe Coleman auf den Seiten 18f. und 147.
DOPPELSEITE
A DOORWAY TO JOE: THE ART OF JOE COLEMAN