Editorial ZUKUNFT 08/2023: Hans Kelsen und die Sozialdemokratie – VON ALESSANDRO BARBERI UND CONSTANTIN WEINSTABL

Der Begründer der österreichischen Bundesverfassung Hans Kelsen, dessen Todestag sich am 19. April 2023 zum 50. Mal jährte, spielt in der Geschichte der Republik Österreich und insbesondere der Sozialdemokratie eine herausragende Rolle. Nicht nur, dass mit dem Rechtspositivismus und Kelsens Reiner Rechtslehre ein formal gesatzter und normativ ausgewogener Rechtsstaat möglich wurde, sondern auch die wiederholte Reflexion Kelsens auf Fragen der Rechtssoziologie zählen zum grundlegenden Bestand unserer Demokratie und ihrer – in allen Wortbedeutungen – Verfassung. Dabei ist gerade im Umfeld der Sozialdemokratie daran zu erinnern, dass Hans Kelsen und sein Freund und Kollege Max Adler vor über 100 Jahren eine diesbezüglich mehr als aktuelle Diskussion führten, die sich um Theorie und Legitimität des Austromarxismus drehte:

Kelsen hatte mit Sozialismus und Staat (1920) unter anderem argumentiert, dass die Staatsauffassung Marxens im Grunde dem Anarchismus entsprechen würde, woraufhin Adler mit Die Staatsauffassung des Marxismus (1922) der Sache nach betonte, dass der Staat im Sinne des Marxismus vielmehr einen Hebel zum Sozialismus darstelle und damit buchstäblich mit der sozialen Demokratie verbunden bleibt. Zwischen dem Kantianismus Kelsens und dem Marxismus Adlers setzen wir deshalb auch im Rahmen dieser Ausgabe der ZUKUNFT an, um Hans Kelsen und die Sozialdemokratie zum Gegenstand der Diskussion zu machen. Dabei gehen wir davon aus, dass Rechtspositivismus und Rechtssoziologie durchaus keine Gegensätze darstellen, sondern gerade im politischen Blick auf die Verfassung unserer Republik Vom Wesen und Wert der Demokratie (Kelsen 1920) ausgegangen werden muss.

Ganz in diesem Sinne untersucht Ingrid Nowotny mit ihrem luziden Beitrag die Unterschiede und Parallelen in den Gesamtwerken von Hans Kelsen und Max Adler, deren Freundschaft nicht nur für die Erste Republik Österreichs von geraumer Bedeutung war. Denn die Diskussion der Rolle und Funktion des Staates, wie sie am Beginn der 1920er-Jahre von beiden im Umfeld des Austromarxismus geführt wurde, verweist nach wie vor auf die Notwendigkeit eines ausgewogenen und stabilen Rechtsstaats, der in der Geschichte Österreichs immer auch als Sozialstaat gefasst wurde. Dabei erinnert Nowotny an den zeitgeschichtlichen Kontext des Roten Wien, in dem der Austromarxismus u. a. einen „Neuen Menschen“ bilden wollte. Zwischen Kelsen und Adler stellt sich mithin nach wie vor eine hoch politische und politologische Frage: Wie geht der Neukantianer mit den Begriffen Staat und Demokratie um, wie der Marxist, der Liberale, der Sozialdemokrat? Hervorzuheben bleibt, dass der Staat im Sinne von Rechtssoziologie und Marxismus vor allem als Herrschaftsinstrument im Dienst einer Klasse verstanden werden kann, während er nach Kelsen formaljuristisch einen Herrschaftsverband darstellt, der zur Ordnung des menschlichen Zusammenlebens auch einer Zwangsordnung bedarf. Insgesamt macht Nowotny aber auch eine gewisse Konvergenz und Aktualität der Ideen von Kelsen und Adler aus, wenn sie abschließend betont, dass diese Debatte auch noch heute Denkanstöße und Anlass zu kritischer Betrachtung des politischen Systems (nicht nur) der Republik Österreich liefert.

Florian Horn untersucht mit seinem Beitrag Die Verfasstheit der Sozialdemokratie und bereichert in der Folge unsere Ausgabe mit der hoch interessanten Frage, was Hans Kelsen der Sozialdemokratischen Partei – ausgehend von seinem Weltbild – heute raten würde. Dabei geht unser Autor insbesondere auf die grundsätzliche Bedeutung von politischen Parteien für die österreichische parlamentarische Demokratie ein und analysiert die Fragestellung sowohl aus dem Blickwinkel der Rolle der Sozialdemokratie als Oppositions- als auch als Regierungspartei. In diesem Kontext wird u. a. der Werterelativismus und die Konzeption der Grundnorm in der Rechtslehre Kelsens vor Augen geführt, um auch Fragen der Toleranz, der Moral und der Gerechtigkeit zu diskutieren. Mit Kelsen schlägt unser Autor daher vor, dass die Sozialdemokratie die eigene Bedeutung als Partei für den Fortbestand der Demokratie in Österreich wieder begreifen muss, um die Würde des Parlaments und der repräsentativen Demokratie zu festigen und im Rahmen der Öffentlichkeit einen echten politischen Diskurs von Rede und Gegenrede sowie das Bemühen um eine Konsens- oder Verhandlungsdemokratie wiederauferstehen zu lassen. Abschließend betont Horn auch hinsichtlich der Zukunft der Sozialdemokratie: Soll der parlamentarische Aushandlungsprozess funktionieren, so müssen inhaltlich klare Positionen eingenommen werden. Diese Positionen dürfen aber niemals partout unveränderlich, autokratisch oder von den gesellschaftlichen Realitäten abgehoben sein. Denn Demokratie funktioniert nur, wenn sich Recht, Politik und Gesellschaft „organisch“ berühren.

Parallel dazu lotet auch der Beitrag von Barbara Serloth das spannende Verhältnis von Hans Kelsens Rechtspositivismus und der Staatstheorie des Austromarxismus im Sinne Max Adlers aus, um u. a. die ideologischen Unterschiede von Liberalismus und Sozialismus vor Augen zu führen, die historisch betrachtet auch zwischen Kantianismus und Marxismus zu diskutieren bleiben, wenn es um die liberale und soziale Demokratie geht. Da Kelsen im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen althergebrachten und neu formulierten Zugängen in der Rechtswissenschaft stand, forderte er in einem als hoch politisch zu interpretierenden Diskurs die Abkehr vom Ethischen im Rechtssystem und die Fokussierung auf ein dem Positivismus verpflichtetes Rechtsverständnis. Serloth erinnert dabei auch daran, dass Kelsen bemerkenswerterweise eine Rückkehr zu Ferdinand Lassalle vorschlug, die in den Reihen der Austromarxisten zurückgewiesen wurde. Eines bleibt aber nach Kelsens Auffassung klar: Das für die Demokratie so entscheidende Majoritätsprinzip ist nur dann als grundsätzlich demokratisch zu verstehen, wenn die Majorität nicht durch eine einzelne Partei gebildet werden kann. Erst der demokratische Diskurs in den demokratisch-parlamentarischen Organen gewährt die Balance der Interessen und Bedürfnisse. Das Majoritätsprinzip, das durch Verhandlungen errungen wird und einen Kompromiss aller demokratisch-parlamentarischen Kräfte darstellt, legitimiert die Repräsentation, die wir inklusive der „Repräsentationsfiktion“ (Kelsen) denken müssen. Im Blick auf den Austromarxismus hält unsere Autorin abschließend fest, dass dieser selbstverständlich im historischen Kontext zu lesen ist. Dahingehend bleibt Kelsens Kritik aber auch zeitlos. Denn auch heute gilt (nicht nur) für die Sozialdemokratie: Die politische und gesellschaftliche Individualisierung durch die Moderne muss (zwischen Liberalismus und Sozialismus) akzeptiert werden … mit all den damit verbundenen Konsequenzen.

Auch freut es die Redaktion unserer Diskussionszeitschrift in besonderer Weise, dass wir mit dem Artikel von Stefan Schuster unter Beweis stellen können, wie lebendig in unseren Reihen diskutiert wird. Denn dieser Beitrag reagiert auf unsere letzte Ausgabe ad Feuerbach und dabei insbesondere auf den dort publizierten Text von Christian Swertz Der Einzige und seine Genoss*innen (ZUKUNFT 07/2023: 40–43). Schuster liest dabei Marxens Thesen über Feuerbach (1845) als Kompass einer befreienden Erziehungs- und Bildungspraxis, die wir durchaus im aktualisierenden Zusammenhang der Bildungspolitik des Austromarxismus besprechen wollen. Denn obgleich es an Deutungen der Marxschen Feuerbachthesen im Allgemeinen nicht mangelt, wurde ihre pädagogische Dimension bislang weitgehend vernachlässigt. Dies legt den Verdacht nahe, dass ihr pädagogisches Potenzial bei Weitem noch nicht ausgeschöpft ist, wie unser Autor nachdrücklich betont, um Schlaglichter auf pädagogisch relevante Aspekte der Feuerbachthesen zu werfen und Rückschlüsse für die Erziehungs- und Bildungsarbeit zu ziehen. Schuster betont dabei: Obgleich die Feuerbachthesen vor knapp 180 Jahren verfasst wurden, weisen sie uns noch heute den Weg aus der Entfremdung ‒ vorausgesetzt wir beschäftigen uns mit ihnen und lassen Marx nicht (weiter) links liegen. In Erinnerung an Max Adler und Karl Marx wollen wir also festhalten: Die Erzieher müssen nach wie vor selbst erzogen werden!

Es zählt zu den schönsten Traditionen der ZUKUNFT mit jeder Ausgabe unseren Leserinnen eine Bildstrecke und damit auch herausragende Künstlerinnen vorzustellen. Deshalb danken wir Lukas Johannes Aigner auf das Herzlichste, dass er uns so freimütig seine wunderschönen Bilder zur Verfügung gestellt hat. Seine Werke führen Metamorphosen des Natürlichen vor Augen, indem sie zeigen, wie vielförmig Blumen und/als Gesichter sind. Aigner bezeichnet ganz in diesem Sinne seine künstlerische Praxis als „Floralisieren“ und erklärt im Interview mit Hemma Marlene Prainsack nicht nur seine Maltechnik und ästhetische Haltung, sondern berichtet auch von seiner Politisierung angesichts des Krieges in der Ukraine. Kommen Sie doch mit in diese Galerie, die auch Aigners Atelier ist. Denn der renommierte Künstler lädt uns auf einen ganz besonderen Rundgang durch seine Wirkungsstätte ein und gewährt dabei einen sehr persönlichen Blick auf seine Schaffensprozesse, sein Werk und darüber auch auf sich selbst.

Insgesamt hoffen der Chefredakteur und die Redaktion, dass wir mit unserer Ausgabe zu Hans Kelsen und die Sozialdemokratie wieder für öffentlichen Diskussionsstoff sorgen, der uns – zwischen Rechtspositivismus und Rechtssoziologie – als Demokrat*innen dabei unterstützen soll, wehrhaft zu sein. Denn nur die tiefe Erkenntnis des Wesens und des Werts der Demokratie schützt uns vor den Fallen des Populismus und der Demokratiefeindlichkeit. Auf dem Weg in die ZUKUNFT der Sozialdemokratie hoffen wir mithin erneut, programmatische und ideologische Impulse zu setzen, die uns eine klare und progressive Haltung und Ausrichtung geben sollen!

Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße

ALESSANDRO BARBERI & CONSTANTIN WEINSTABL