Die Verfasstheit der Sozialdemokratie, oder: „Was würde Kelsen der SPÖ raten?“ – VON FLORIAN HORN

In seinem Beitrag befasst sich FLORIAN HORN aus Anlass des 50. Todestages von Hans Kelsen mit der hypothetischen Frage, was er ausgehend von seinem Weltbild der Sozialdemokratischen Partei heute raten würde. Dabei geht unser Autor insbesondere auf die grundsätzliche Bedeutung von politischen Parteien für die österreichische parlamentarische Demokratie ein und analysiert die Fragestellung sowohl aus dem Blick einer Rolle als Oppositions- als auch als Regierungspartei.

I. Zum Thema

Als an mich die Frage herangetragen wurde, etwas aus Anlass des 50. Todestages von Hans Kelsen zu Lehren aus seinem Wirken für die Sozialdemokratische Partei zu schreiben, war mein erster Gedanke, dass dies recht schnell erledigt sein würde. Schließlich ist der gesamte Kern der Reinen Rechtslehre von Kelsen eine strikte, wissenschaftliche Trennung der Rechtssetzung von der politischen (oder ideologischen und moralischen) Motivation zur Rechtssetzung. Nur diese Trennung macht Rechtswissenschaft im von Kelsen verstandenen Sinne möglich. Im Detail betrachtet, ist es aber doch viel interessanter.

Historisch und biografisch kann zunächst festgestellt werden, dass Kelsen selbst klar ein Demokrat, aber wohl kein Sozialdemokrat war. Er pflegte dennoch oder gerade deswegen enge und teilweise freundschaftliche Beziehungen zu wichtigen Sozialdemokraten. So war er insbesondere mit dem gleichaltrigen Otto Bauer befreundet und war erstaunlicherweise auch Taufpate des späteren Justizministers Christian Broda (Olechowski 2022, 30f). Die intellektuelle Nähe zur Sozialdemokratie wird dabei ursprünglich durchaus auf gesellschaftspolitischen Interessen gleicher Richtung beruht haben. Es war schließlich die Sozialdemokratie, welche seit ihren Anfangstagen (gegen andere Parteien zu Beginn des letzten Jahrhunderts) auf ein freies und gleiches Wahlrecht in Österreich hinarbeitete, was sich mit den politischen Interessen Kelsens traf (vgl. Olechowski 2022: 31). So war auch die Vorherrschaft einer parlamentarischen Regierungsweise im ursprünglichen B-VG 1920 aus politischer Sicht vor allem auf den Einfluss der Sozialdemokratie zurückzuführen (Wineroither 2020: 141).

II. Die Bedeutung politischer Parteien in der Demokratie österreichischen Musters

In einer staatlichen Ordnung können im Verhältnis des Staates zur Bevölkerung grundsätzlich drei Momente zur Bildung von Regeln und Schaffung von Gesetzen herangezogen werden: Zum ersten kann versucht werden, Normen autoritär zu setzen, was mit demokratischen Grundsätzen schwerlich vereinbar ist. Zum zweiten können Normen unmittelbar von der Bevölkerung beschlossen werden, was seinen Ausdruck im direktdemokratischen Prinzip findet. Und zum dritten kann die demokratische Willensausübung der Bevölkerung auf die Auswahl von Mandatar*innen gerichtet sein, die ihrerseits Normen setzen, was die Grundlage einer repräsentativen Demokratie ist.

Auch wenn der aktuelle Zeitgeist durchaus auch dort Befürchtungen nährt, soll der autoritäre Gedanke zunächst beiseitegeschoben werden. Interessant ist nach der Betrachtung Kelsens, dass für ihn die parlamentarische Demokratie im Vordergrund stand und diese fast notwendigerweise als „Parteienstaat“ ausgestaltet sein musste (Kelsen 1929: 30). In der Sicht Kelsens war es nur möglich in der vermittelten Demokratie über Parteien eine praktikable und rationale Verhandlung von Positionen zu ermöglichen. Diese Rolle der Parteien ist heute weitgehend anerkannt (Wieser 2019: 17). Gerade die Entstehung des demokratischen Willens eines Staates aus der Verhandlung von Parteipositionen vermeidet die Fiktion eines überparteilichen „organischen“ Gemeinschaftswillens (Kelsen 1929: 38). Nur zu schnell führt eine derartige Argumentation mit dem Willen des Volkes (oder der „Normalen“) zu Missbrauch, Autoritarismus und Demagogie. Zu einfach kann bei der ungebremsten Mehrheitsentscheidung oder dem herbeigewünschten „Volkswillen“ der Ausgleich von Interessen zum Schutz von Minderheiten und Grundrechten auf der Strecke bleiben.

Dies bedeutet aber keineswegs, dass nicht auch für Kelsen direktdemokratische Elemente eine (wichtige) Rolle in der Demokratie spielen sollten. Diese begriff er aber als zusätzliches Element einer Dynamisierung und nicht als Fundamente der Demokratie (vgl. bereits Kelsen 1929: 61 ff). Kelsen war aufgrund seiner praktischen Einblicke in das österreichische politische Geschehen gerade kein Verfechter einer repräsentativen Demokratie in Reinkultur (Wineroither 2020: 144). Festgehalten werden kann aber, dass politische Parteien als Gegner und Partner in der Verhandlung politischer Positionen dem Demokratiemodell Kelsens immanent und notwendig sind.

Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, wie spärlich die Normen zu Parteien in der österreichischen Rechtsordnung waren, sodass sich über die Rechtsnatur politischer Parteien ein jahrzehntelanger Streit entspann (Wieser 2019: 10ff mwN). Auf den zweiten Blick offenbart sich aber gerade darin deren besondere Stellung. Eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Verankerung der Existenz politischer Parteien gab es bis zum ersten Parteiengesetz im Jahr 1975 gar nicht (BGBl.1975/404). Auch im aktuellen Rechtsstand wird die Freiheit sich auch in politischen Parteien zusammenzuschließen vorwiegend aus der Versammlungsfreiheit gewonnen (Berka et al. 2019: 744 ff), so aus Art 12 des noch aus der Monarchie stammenden Staatsgrundgesetzes und aus Z 3 des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, die beide aufgrund Art 149 B-VG im Verfassungsrang stehen. Auch Art 11 EMRK garantiert in diesem Verständnis die Freiheit der Parteien (Berka 2019: 731). Namentlich als Mittel, um den „politischen Willen“ von Bürger*innen zum Ausdruck zu bringen sind „politische Parteien“ ausdrücklich mit dieser Bezeichnung aber nur im neueren Art 12 Abs 2 der Europäischen Grundrechtecharta genannt.

Und schließlich offenbart der so spät eingeführte § 1 des Parteiengesetzes hier ein grundsätzliches Verhältnis. Er lautet schlicht:

§ 1. (Verfassungsbestimmung) (1) Die Existenz und die Vielfalt politischer Parteien sind wesentliche Bestandteile der demokratischen Ordnung der Republik Österreich (Art. 1 B-VG, BGBl. Nr. 1/1930).

Diese Bestimmung schafft in meinen Augen nichts Neues, sondern hält nichts anderes fest, als der österreichischen (republikanischen) Rechtsordnung von Anfang vorausgesetzt war, so wie sie von Kelsen in ihrer Entstehung auf mannigfaltige Weise beeinflusst wurde.

Tatsächlich waren politische Parteien in der österreichischen Verfassung stets als bestehend vorausgesetzt. Provokant könnte man sagen, dass es politische Parteien schon gab, bevor die Demokratie entstanden war und dass es ohne politische Parteien kein Gründungsmoment der österreichischen Demokratie gegeben hätte. Auch in der Gründung der Zweiten Republik nach 1945 ging der Unabhängigkeitserklärung des österreichischen Staates die Wiederbegründung der sozialdemokratischen Partei und der Umgründung der Christlichsozialen Partei als Österreichische Volkspartei voraus. Diese Gründungsakte unterlagen tatsächlich keinerlei staatlicher Ermächtigung. Sie waren vielmehr die vorausgehende Selbstermächtigung von Interessensgruppen innerhalb der Bevölkerung nach Diktaturen und Fremdherrschaft wieder zur Demokratie zurückzukehren.

Wer die Unabhängigkeitserklärung der Republik Österreich im erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausgegebenen Bundesgesetzblatt noch nicht gelesen hat, mag hier in der Formulierung der Präambel eventuell auch eine gewisse Überraschung erleben (BGBl Nr 1/1945):

„Angesichts der angeführten Tatsachen und im Hinblick auf die feierlichen Erklärungen der drei Weltmächte, denen sich inzwischen beinahe alle Regierungen des Abendlandes angeschlossen haben, erlassen die unterzeichneten Vertreter aller antifaschistischen Parteien Österreichs ausnahmslos die nachstehende Unabhängigkeitserklärung.“ (Hervorhebung hinzugefügt)

Akteure und damit hier Verfassungsgeber waren die politischen Parteien, die den Staat wieder ins Entstehen brachten.

Nicht zufällig entwickelte sich nach 1945 in der Realverfassung ein von den politischen Parteien getragenes und für Österreich bis vor Kurzem wesenstypisches System einer Konkordanzdemokratie, das bei allen negativen Trägheitselementen hochgradig kompatibel mit den Demokratiekonzeption Kelsens war (Wineroither 2020: 146). Sieht man in diesem Sinne politische Parteien als notwendiges Element einer Demokratie österreichischen Musters, so erlangen sie einen zweifachen Charakter: Sie sind zum einen zwar insbesondere nach der Einführung der Parteiengesetze ab der Mitte der 1970er-Jahre der staatlichen Rechtsordnung unterworfen mit einer auch im Inneren immer stärkeren Betonung staatliche Ordnungsnormen (z. B. im Bereich der Finanzierung und des Datenschutzes). Zum anderen sind politische Parteien aber ihre eigenen abgeschlossenen Systeme unabhängig und parallel zur staatlichen Rechtsordnung, quasi als unbewegte Beweger des Staates. In diesem Spannungsfeld kann sich im positiven Fall eine neue Dynamik entwickeln.

Die herausragende Stellung politischer Parteien kann nicht genug betont werden. Gerade in letzter Zeit wird die Rolle politischer Parteien kleingeredet und wird der öffentliche Diskurs teilweise von kurzfristigen Bewegungen abseits politischer Parteien geprägt. Es scheint nicht mehr modern, eine Partei zu sein. Bedenkt man die herausragende Rolle politischer Parteien für die Demokratie und für die Stabilität des Gemeinwesens, so mag dies bedenklich stimmen. Ich denke, es wäre für die demokratische Rechtsordnung nicht wünschenswert nach einer weiteren „Entzauberung“ politischer Parteien zu streben, als wären diese nichts anderes als beliebige, nach dem Vereinsgesetz gegründeter Vereine.

Doch worin liegt nun, aus der Sicht Kelsens, die Sinnhaftigkeit des parlamentarischen Systems und die Notwendigkeit der politischen Parteien? Man mag Kelsens Ausführungen als rein pragmatischen Ansatz sehen, quasi eine Kapitulation vor der technischen Unmöglichkeit der Direktdemokratie. Meiner Ansicht nach liegt der Grund tiefer. Für Kelsen stand angesichts des Parlamentarismus – ähnlich wie in seiner reinen Rechtslehre – immer schon der Prozess selbst im Vordergrund. Er sieht im parlamentarischen Verfahren eine geordnete Verhandlung in einer dialektisch-kontradiktorischen, auf Rede und Gegenrede, auf Argument und Gegenargument aufgebauten Technik, die stets auf die Erzielung eines Kompromisses gerichtet ist (Kelsen 1929: 80). Der darin gebildete Gemeinschaftswillen ist gerade nicht das Diktat der Mehrheit/Majorität, sondern das Ergebnis einer wechselseitigen Beeinflussung der Parteien (Kelsen 1929: 79 f). Und die Voraussetzung, dass es zu einer derartigen Verhandlung kommt, erspürt er in der notwendigen Öffentlichkeit des Prozesses (Kelsen 1929: 80) und damit der Sichtbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen für alle Staatsbürger*innen.

Dieser Aushandlungsprozess bedingt nicht nur die Fähigkeit zur Kompromisssuche als Goldstandard in der Bewertung der Tauglichkeit politischer Akteur*innen (Wineroiter 2020: 143), er entspricht auch einem in der Tiefe relativistischen Wertverständnis in der Lehre Kelsens. Für Kelsen gibt es keine absolut gültige Norm und absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal, sondern es gibt vielmehr nur menschliche Interessen und damit Interessenskonflikte, die entweder auf Kosten einer Seite oder durch einen Kompromiss zwischen beiden Seiten befriedigt werden können (Kelsen 1953: 45). Das moralische Prinzip der relativistischen Wertlehre, ist nach Kelsen das Prinzip der Toleranz, das ist die Forderung, unter anderem die politische Anschauung anderer wohlwollend zu verstehen, auch wenn man sie nicht teilt, und ihre friedliche Äußerung nicht zu verhindern (Kelsen 1953: 45f).

Seine Bedenken gegen eine ausschließliche direkte Demokratie scheinen dabei aus der Gefahr gruppendynamischer Effekte und einer Verrohung zu fließen. Besonders in der Volksversammlung ist nach Kelsen das Bewusstsein physischer Macht noch nahe am Entscheidungsprozess und begünstigt eine harte Mehrheitsentscheidung und die (rücksichtslose) Durchsetzung des Mehrheitswillens (Kelsen 1929: 77). Die Existenz von Parteien, die sich auch intern konsolidieren müssen, soll dabei moderierend und fokussierend wirken.

III. Die Rolle der sozialdemokratischen Partei

Bereits eingangs wurde erwähnt, dass die Sozialdemokratie historisch eine wesentliche Rolle in der Etablierung der Demokratie in Österreich hatte. Genauso endete mit dem Verbot der seit der Nationalratswahl 1930 stimmenstärksten sozialdemokratischen Partei im Jahr 1934 auch die Demokratie n Österreich. War zuvor seit dem 15. März 1933 als Teil einer Machtergreifung der durch die Christlichsoziale Partei geführten Bundesregierung das Zusammentreten des Nationalrats bloß faktisch verhindert worden, so ermöglichte erst das Verbot der Sozialdemokratischen Partei am 12. Februar 1934 (BGBl Nr 78/1934) das Zusammentreten eines sogenannten „Rumpfparlaments“. Dieses wurde am 30. April 1934 gebildet und bestätigte den Bruch der demokratischen Verfassung durch die von der Bundesregierung durch Verordnung vom 24. April 1934 erlassene Verfassung (BGBl Nr 239/1934) in Form eines Verfassungsgesetzes (BGBl Nr 255/1934; BGBl II Nr 1/1934).

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Wiedergründung der Sozialdemokratischen Partei am 14. April 1945 im Salon des Wiener Rathauses umso bemerkenswerter. Die Sozialdemokratische Partei brachte sich aus eigenem Willen wieder ins Entstehen. Ganz formal betrachtet gab es nämlich keinen Rechtsakt, der die Verbotsverordnung vom 12. Februar 1934 aufhob (abgesehen vom pauschalen 1. Bundesrechtsbereinigungsgesetz, BGBl I Nr 191/1999). Während die Wiederrichtung der mitaufgehobenen Vereine der Sozialdemokratie ausdrücklich ermöglicht wurde (BGBl Nr 102/1945), gab es einen gleichen Schritt für die politische Partei nicht. Das Rechtsüberleitungsgesetz (BGBl Nr 6/1945) hob nämlich nur einfache Gesetze und Verordnungen aus der Zeit des Nationalsozialismus auf, während derartige einfache Normen aus der Zeit der Diktatur 1934-1938 im Rechtsbestand blieben. Man kann dies aber auch so begreifen, dass eine Aufhebung auch nicht notwendig war. Nach dem Verständnis der unbedingten Notwendigkeit (mit den demokratischen Werten verbundener) politischer Parteien für den demokratischen Prozess befand sich die Sozialdemokratische Partei eben außerhalb der Regelungsbefugnis der staatlichen Organe, sodass die Verordnung als absolut nichtig verstanden werden konnte.

Gleichzeitig hatte die Sozialdemokratie über ihre enge Verflechtung mit der Gewerkschaftsbewegung einen großen Anteil an der Etablierung einer Konsensdemokratie, die die Einbindung der Interessen anderer Gruppierungen selbst in Zeiten ihrer eigenen Alleinregierung sicherstellte (vgl. Wineroither 2020: 148). Dieses Verständnis von Demokratie erforderte jedenfalls eine enge Koordination, die nicht immer mit der Unwägbarkeit direktdemokratischer Prozesse vereinbar ist.

Insofern nicht von ungefähr stießen direktdemokratische Instrumente im Rahmen der Sozialdemokratie aus dem konsensdemokratischen Grundansatz oftmals auf Skepsis. Umso erstaunlicher ist es aber, wenn es die Sozialdemokratie war, welche die einzige verbindliche Volksabstimmung freiwillig initiierte, die nicht aufgrund einer Gesamtänderung der Bundesverfassung notwendig gewesen wäre – nämlich die Volksabstimmung zur Inbetriebnahme des Atomkraftwerk Zwentendorf (BGBl Nr. 493/1978) – und sich nach erfolgter Entscheidung klar und kompromisslos an das Ergebnis hielt. Auch der nächste Akt der spärlich gesäten freiwilligen direktdemokratischen Ansätze der Zweiten Republik in Form der Volksbefragung über die Wehrpflicht (BGBl II Nr 377/2012) ging auf eine Initiative der Sozialdemokratie zurück.

Es sind hier ein Zwiespalt und ein Anpassungsschmerz an die sich ändernden gesellschaftspolitische Umstände durchaus spürbar. Gerade bei historisch gewachsenen Organisationen erfordert eine Revitalisierung auch ein neues Denken alter Prinzipien. Die Herausforderungen sind hier groß, von jungen politisch Interessierten, die wenig Bezug zu parlamentarischen Prozessen haben, bis zu einer Wiedererstarkung klar anti-demokratischer Strömungen, die auch lange für unantastbar gehaltene ungeschriebene Usancen der österreichischen Realverfassung angreifen.

In dieser Gemengelage trifft die Sozialdemokratische Partei dennoch oder vielleicht gerade deswegen und vielleicht auch mehr als andere Parteien eine Verantwortung für die Aufrechterhaltung des österreichischen demokratischen Systems an sich. Dies ist im Lichte der Strömungen der Zeit keine einfache Aufgabe. Es steht zu wünschen, dass sich die Parteien in dieser Hinsicht der eigenen Bedeutung und der Bedeutung des Parteienstaates an sich bewusst werden.

IV. Die Bedeutung der Klarheit der inneren Verfasstheit

Die „Verfassung“ einer politischen Partei ist ihr Statut. Ob auch Kelsen dem zugestimmt hätte, ist nicht überliefert. Es scheint aber jedenfalls mit den Grundbildern seines Werkes kompatibel. So ist nach Kelsen jeder Staat eine Rechtsordnung, aber nicht jede Rechtsordnung ein Staat (Kelsen [1966] 2017: 502). Insofern ist der Kunstgriff nicht zu weit hergeholt, auch die Sozialdemokratische Partei selbst als eigene Rechtsordnung zu sehen, die vom Staat unabhängig und parallel zum Staat im Wandel der Zeiten auf einer eigenen Grundnorm beruht.

Beachtet man, dass für Kelsen politische Parteien die vorausgesetzten Akteure einer parlamentarischen Demokratie sind und damit nicht Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Befassung, so zeigt sich eine gewisse Parallelität. Genauso wie das staatliche Recht mit der der Verfassung hypothetisch vorausgesetzten Grundnorm begründet ist, ist auch das innere Regelwerk einer Partei gerade aufgrund ihres Fortbestehens vor der Entstehung der Demokratie, nur durch den Rückgriff auf eine ähnliche Bestandsberechtigung auf einer Metaebene zu rechtfertigen. Vielleicht ist diese im Unterschied zur gesamten staatlichen abstrakten Rechtsordnung sogar konkreter bei einer demokratischen Bewegung wie der Sozialdemokratischen Partei, indem schon deren ursprüngliche Entstehung ein Ausdruck von Demokratie, Selbstbestimmung und Selbstermächtigung der Bevölkerung ist. Anders als die staatliche Grundnorm, die in einer einfachen Sicht weitgehend auf das Legalitätsprinzip beschränkt und wertneutral ist, ist die Grundnorm der Sozialdemokratie dies gerade nicht.

Abgeleitet von dieser grundsätzlichen Berechtigung über das Parteistatut als Verfassung zu sprechen, weist auch die innere Ordnung der Parteien und insbesondere der Sozialdemokratischen Partei eine Hierarchie auf, die den Stufenbau der Rechtsordnung (vgl. Kelsen [1966] 2017: 398 ff) vielleicht nachbildet oder ihm vorausgesetzt, ihm aber jedenfalls ähnlich ist. Das Statut ist in einem klaren Prozedere in Parteitagen zu ändern. Aufgrund des Statutes sind Gremien berechtigt, Beschlüsse zu fassen. Bundesländerorganisationen dürfen sich eigene Statuten im Rahmen des Bundesstatutes geben. Ortsorganisationen sind den größeren Organisationsebenen eingegliedert und können ihrerseits eigene Beschlüsse und Resolutionen befassen.

Diese innere Ordnung der Partei unterliegt nicht nur einer eigenen inneren Gerichtsordnung unabhängig von der verfassungsgerichtlichen Überprüfung des Staates, sie wird auch laufend durch die Praxis der Organe und deren Willensbildungen fortgebildet. Gerade weil diese innere Regelungsordnung aber so eigenständig ist, ist dies mit der Verantwortung verbunden, die Regeln anwendbar und für die Mitglieder transparent zu halten. Aus dem Wesen der Partei kann es nur Ziel sein, in der inneren Regelungsordnung möglichst den Willen der Mitglieder abzubilden.

Auch dies ist eine große Aufgabe. Denn anders als im allgemeinen Staatswesen sind die Konsequenzen einer schlechten, d. h. unzweckmäßigen inneren Ordnung viel unmittelbarer. Aus der Republik Österreich kann man nicht (leicht) austreten, aus einer Partei schon.

Wichtiger ist für die innere Regelungsordnung der sozialdemokratischen Partei, dass diese auch ihre Grundprinzipien widerspiegelt. Es wäre aus der dargestellten geschichtlichen Verankerung und Verantwortung für die parlamentarische Demokratie wahrscheinlich unvereinbar, das repräsentative Prinzip zugunsten einer radikalen direkten Demokratie über Bord zu werfen. Andererseits lernen wir aber auch von Kelsen, dass die ausgleichende Funktion der direkten Demokratie wichtig auch für ein repräsentatives demokratisches System ist. Und letztlich lernen wir von Kelsen auch, dass gerade in einem demokratischen System das Emporheben einer Führungsperson aus der Menge seiner Genoss*innen eine ganz bedeutende Stellung einnimmt (Kelsen 1929: 114 f). Dem demokratischen Prinzip entsprechend sieht Kelsen die Wahl im Gegensatz zu einer Ernennung und die Publizität dieses Aktes im Gegensatz zu dessen Geheimhaltung (Kelsen 1929: 115).

Was den Stand der inneren Verfasstheit der Sozialdemokratie betrifft, zeigte sich gerade in den letzten Jahren ganz offenkundig aus den nach außen sichtbaren Symptomen das Aufgehen einer Kluft zwischen der Realität der Mitglieder unter Verfasstheit der Regelungsordnung. Wie in einem Staat, wo auch das Aufgehen einer Differenz zwischen den Ansichten der Bevölkerung und der herrschenden Rechtsordnung zu Krisen führte, war es innerhalb der Sozialdemokratie auch nicht anders.

So gesehen ist der jüngste Abstimmungsprozess über den Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei als Gegenbewegung gegen einen erspürten Mangel zu sehen. Die Wahl des neuen Vorsitzenden Andreas Babler war insofern auch ein nach innen gerichtetes Symbol für das, was sich Mitglieder von der Partei wünschen. Die Krise war in diesem Verständnis nicht die „Eskalation“ in einem Wahlakt – oder „Kampfabstimmung“, wie man gerne parteiintern und in den Medien etwas fremdelnd mit dem demokratischen Grundprinzip sagt. Vielmehr war es die innerorganisationelle Gegenreaktion auf einen immer stärkeren Bedeutungsverlust des repräsentativen Elements in den Gremien. Es mag daran erinnert werden, dass der Nachfolge des Parteivorsitzenden Werner Faymann durch Christian Kern kein innerparteilicher Wahlkampf oder eine Wahl vorausging, sondern das auslösende Ereignis eine Inszenierung bei einer Mai-Veranstaltung war. Es mag auch daran erinnert werden, dass eine offenkundige Unzufriedenheit mit der Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner zunächst nicht zu einem offenen inneren Diskussionsprozess führte, sondern zu einer im Statut so nicht vorgesehenen Mitgliederbefragung über die bestehende Vorsitzende. Und dabei war es dann schließlich beinahe konsequent (wenn auch demokratisch bedauerlich), dass es auch bei ihrem ersten Parteitag gerade nicht zum notwendigen Diskurs kam, sondern reine Symbolakte und Streichungsaktionen folgten.

Dies ist auch formal nicht verwunderlich, zumal die sozialdemokratische Partei in der Bestellung ihrer Vorsitzenden gerade keine ausgewiesene demokratische Tradition im engeren Sinn hat. Vorsitzende wurden traditionell nicht durch die Mitglieder gewählt oder auf Parteitagen tatsächlich aus mehreren Alternativen ausgewählt. Auch Bruno Kreisky wurde nicht auf einem Parteitag zum Vorsitzenden gewählt, sondern vielmehr erfolgte seine Bestellung schließlich vom gewählten Parteivorstand. All dies war kein Problem, solange eine enge organisatorische Verflechtung und Dynamik der Parteigremien und Interessensgruppen innerhalb der Partei bestanden. In einer derartigen Situation kann man immer noch auf die Schwarm-Intelligenz der Organisation an sich vertrauen, welche die für die Mitglieder „richtige“ Entscheidung gleichsam erfühlt. Funktioniert dieses „Erfühlen“ nicht mehr, so gibt es allerdings ein Problem.

Dass es tatsächlich zur Durchführung der jüngsten Mitgliederbefragung über die Person des Vorsitzenden und einen anschließenden Parteitag mit einer Wahl mit mehreren Alternativen gekommen ist, ist an sich ein klares Zeichen für einen zwingenden Bedarf nach Mitbestimmung der Parteimitglieder. Und andererseits hat die (teilweise etwas improvisiert wirkende) Durchführung der Befragung und der Wahl auch gezeigt, wie wichtig ein klares und unzweideutiges Regulativ dafür wäre. Kunstfehler und Regelungslücken in jeder Stufe des Prozesses schrien geradezu nach einer statutarischen Regelung. Und es lag wohl nur an den tiefen demokratischen Wurzeln der sozialdemokratischen Partei, dass der schwierige Prozess am Ende trotz allem Legitimität zu schaffen vermochte.

Kurz gefasst kann man von Kelsen für die innere Verfasstheit der Sozialdemokratie lernen, sich einerseits nicht vor einer weiteren Demokratisierung zu fürchten, aber andererseits die Grundsätze einer repräsentativen Demokratie nicht gering zu schätzen. Auch laufende Änderungen sind normal, denn jedes Normensystem, das sich als eine Rechtsordnung darstellt, hat im Wesentlichen einen dynamischen Charakter (Kelsen [1966] 2017: 354). Und letztlich ist eine klare Rechtsordnung ein eigener Wert unabhängig von den vermittelten Inhalten.

V. Die Wichtigkeit der Rolle in der Opposition

Ohne Minorität ist begrifflich die Majorität nicht möglich (Kelsen 1929: 80). Obgleich dies wenig tröstlich ist, so ist auch die Wesensnotwendigkeit dieser Rolle für die Demokratie zu verstehen. Die aktuelle Rolle der sozialdemokratischen Partei zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels ist die als Opposition. Auch diese Rolle sollte im Rahmen der Aufgaben innerhalb der Demokratie nicht geringgeschätzt werden. Ein gewisser Vorbehalt ist hier allerdings auch historisch verständlich, weil sich im österreichischen politischen System überhaupt erst spät eine politische Oppositionskultur entwickelte (Winerother 2020: 148). Im Verständnis Kelsens von der parlamentarischen Demokratie, ist die Opposition aber geradezu der Garant für deren Funktionieren. Die Opposition ist insofern keine Wartebank auf der man sitzt und sich beschwert, bis man selbst wieder an der Reihe mit dem Regieren ist. Opposition hat vielmehr eine wichtige integrative Funktion. Eine gute Demokratie funktioniert nur mit einer guten Opposition.

Wie eingangs beschrieben, wäre das Ideal eines funktionierenden Parlamentarismus ein dialektischer Prozess, in dem dieser Prozess an sich zu einer Berücksichtigung gewisser Interessen der Minorität führt und zwar allein durch die öffentliche Beteiligung am Diskurs. Kelsen setzt dabei voraus, dass es sich um ein demokratisches parlamentarisches System unter Geltung des Majoritätsprinzips handelt, das er von der „Herrschaft“ der Majorität unterscheidet (Kelsen 1929: 88).

Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es in den vergangenen Jahren sowohl in der Koalition der ÖVP mit der FPÖ, als auch in der Koalition der ÖVP mit den Grünen jeweils unter unterschiedlichen Vorzeichen und unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Vorstellungen aber doch zu klaren autoritären Tendenzen gekommen ist. Die Mehrheitsfindung selbst für Gegenstände mit notwendiger qualifizierter Majorität schien dabei eher als störend empfunden zu werden, denn als noble Aufgabe. Ungeschriebene parlamentarische Usancen wurden wiederholt gebrochen, wenn es den kurzfristigen Interessen diente. Gesetzesentwürfe der Regierung wurden kaum öffentlich diskutiert, sondern kamen in einer praktisch fertigen aber nur unter der Majorität der Koalitionsparteien selbst ausverhandelten Form an die Öffentlichkeit. Ein öffentlicher Beteiligungsprozess sowohl der parlamentarischen Opposition als auch im öffentlichen Begutachtungsverfahren war daher überwiegend Schein und entsprach in keiner Weise der Vorstellung Kelsens von einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie.

Wie die Schüssel-Kabinette der frühen 2000er-Jahre schrieb auch die Neuauflage der schwarz-blauen Regierung unter Sebastian Kurz (2017–2019) überwiegend strukturelle Trends fort, die auf eine sukzessive „Entaustrifizierung“, das heißt eine Abschwächung und langfristige Auflösung der verhandlungsdemokratischen Realverfassung der Zweiten Republik hinausliefen (Wineroither 2020, 151). Es ist zu einer Abwertung des parlamentarischen Prozesses zugunsten autoritär technokratischer Ideen gekommen, was als Widerspruch zum Ideal einer parlamentarischen Demokratie nach Kelsen gesehen werden kann (Blaßnig/Reiss 2019).

Das Umgehen mit diesen Umständen aus der Rolle als Opposition ist daher nicht einfach. Der erste Reflex Kelsens wäre aber wohl dennoch, das partizipative Element bewusst in den Vordergrund zu stellen. In einem Sinne könnte man sich vorstellen auch hier zum Prinzip der Toleranz zurückzukehren (vgl. Kelsen 1953: 45f), und zwar in einer etwas paradoxen Weise zur Toleranz der Minorität gegenüber der Majorität. Toleranz bedeutet hier – wie auch sonst – aber natürlich nicht Zustimmung oder Tolerierung der Inhalte und demokratiefeindlichen Methoden, sondern Anerkennung der gegenläufigen Interessen der anderen. Erst aus dieser Position, sich ernsthaft vorstellen zu können, dass der Gegner mit Überzeugung und aus seiner Sicht rational eine gegenteilige Position vertritt, wird ein Diskurs möglich.

Wenn das Gegenüber dies nicht will, ist es damit aber natürlich nicht getan. Eingefordert werden müsste daher das System der Konsensdemokratie. Dies so verstanden ist ein System, in dem auch die Opposition nicht bloß auf Fehler der Regierung lauert und diese zulässt, sondern in dem Raum für eine Verbesserung von Normen zugunsten der eigenen Mitglieder und Wähler*innen bleibt. Dies sollte selbst dann gelten, wenn es die Regierung vor einem Fehler und einem schlechten Gesetz bewahrt.

Und nicht zuletzt ist hier an das auch für Kelsen wesentliche Element der Öffentlichkeit zu erinnern (Kelsen 1929: 80). Die Waffe der Opposition im Ringkampf mit der Regierung ist die öffentliche Meinung, und zwar mit dem Zusatznutzen eines Startvorteils für die nächste Wahlauseinandersetzung. Oberstes Ziel als Opposition muss es daher sein, Sachverhalte der Bevölkerung klar verständlich zu machen, Zusammenhänge aufzuzeigen und Entscheidungsprozesse transparent zu machen. Mit der Medienöffentlichkeit so zu interagieren ist ein schwerer aber notwendiger Schritt zur Stärkung der Demokratie. Zur Hilfe kommt dabei wohl auch das vorbestehende Konzept der Sozialpartnerschaft. Alles was diese stützt, kann in dieser Situation nur hilfreich sein, gerade weil sie den Diskurs über die reinen Mehrheitsverhältnisse hinaus im Parlament erweitert.

Die letzte Frage ist, ob man als Opposition auch zu härteren Mitteln der Obstruktion der Entscheidungen des Parlaments greifen darf oder soll. Damit ist nicht gemeint, dass man seine Zustimmung verweigert, wo diese eben aufgrund der Verfassungsgesetze notwendig ist, sondern dass man Geschäftsordnungsregeln entgegen ihrer Intention missbraucht oder gar widerrechtlich handelt. Kelsen wäre hier wohl äußerst ablehnend (Kelsen 1919: 88 ff). Allerdings setzt Kelsen selbst ausdrücklich voraus, dass das Majoritätsprinzip in seinem Sinne überhaupt noch gelte. Was folgt, wenn die Regierung in den Versuch einer „Herrschaft“ der Majorität kippt, bleibt offen. Sinnvoll kann es daher sein, auf eine Verletzung der demokratischen Grundprinzipien mit entsprechender Härte und Offenheit zu reagieren, solange das Ziel der Intervention die Wiederherstellung der echten demokratischen Ordnung ist.

Insofern muss auch das Bewusstsein möglich sein, dass entgegen Kelsen nicht jeder Staat automatisch auch ein Rechtsstaat ist (Kelsen [1966] 2017: 544). Die Einhaltung der geschriebenen und ungeschriebenen Normen durch die Regierung und die Verwaltung ist gerade nicht garantiert. Sie muss vielmehr immer neu sichergestellt werden. Die Gleichheit von Staat und Rechtsstaat gilt nur dort, wo die Selbstbindung der Regierung an die demokratischen Grundprinzipien glückt und gerade keine Willkür geübt wird. Wohin eine abweichende Haltung führen kann, wurde bereits oben an den Beispielen aus den Jahren 1933 und 1934 gezeigt. Insofern scheint besonders für die Opposition auch das Denkmodell des Rechtsstaats nutzbar.

Zusammenfassend kann man von Kelsen die Wichtigkeit der Oppositionsrolle und den Wert der Toleranz selbst in schwierigen Situationen lernen. Darüberhinausgehend ist aber auch härtere Oppositionspolitik mit dem Ziel der Wiederherstellung der demokratischeren Ordnung gerechtfertigt.

VI. Die Verantwortung in einer zukünftigen Regierungsbeteiligung

Und schließlich muss es das Ziel jeder politischen Partei sein, im demokratischen Spiel der Kräfte wieder in Regierungsverantwortung zu kommen. Der Wechsel der politischen Führung ist gerade das definierende Wesensmerkmal der Demokratie. Und durch diesen Wechsel würde sich wohl auch die größte Chance eröffnen, mithilfe der errungenen Majorität eine Konsensdemokratie österreichischer Prägung wiederzubeleben.

Dies bedeutet – in Abwandlung des kategorischen Imperativs von Kant – auch als Regierung so zu handeln, wie man es sich selbst als Opposition von den Regierungsparteien gewünscht hätte, bzw spezifischer so zu handeln, wie man es sich im allgemeinen als Regel eine Regierungspartei vorstellen kann. Dies bedeutet möglicherweise Selbstbeschränkung und Verzicht auf Vergeltung für erlittenes Unrecht. Im Kopf gehalten werden muss aber, dass man die Demokratie eben nicht dadurch stärkt, eine Geringschätzung des Parlaments in der Vorperiode durch eine neuerliche Geringschätzung nach der Neuwahl zu beheben. Und das Parlament ist hier eben beides, Regierungsparteien und Opposition. Es sei hier auf die obigen Ausführungen zur Wichtigkeit politischer Parteien an sich verwiesen.

An konkreten Maßnahmen einer Regierungsbeteiligung wäre daher zu empfehlen, eine Neuregelung der Untersuchungsausschüsse, sodass diese tatsächlich ihrem Wesen als Kontrollgremien gerecht werden können. Möglicherweise wäre auch die Stärkung von Minderheitenrechten im Parlament weiter anzudenken. Und nicht zuletzt wird es notwendig sein, dass eine klarere Differenzierung auch zwischen Regierungsmitgliedern und Parlamentarier*innen der Regierungsparteien zu leben, sodass das Parlament nicht als reine Mehrheitsmaschine betrachtet wird, sondern der notwendige und öffentlich – das heißt auch für die Öffentlichkeit verständliche – Diskurs dort im Nationalrat und im Bundesrat tatsächlich stattfindet. Regierungsmitglieder der eigenen Partei müssen den Kolleginnen und Kollegen, den Genossinnen und Genossen die gebührende Anerkennung entgegenbringen und auf diesem Wege auch symbolisch das parlamentarische Prinzip so weit stärken, dass das Primat der staatlichen Verwaltungsgedankens durch die Regierung ein ausreichendes Gegengewicht erhält.

Ein Gedanke könnte dabei auch sein, eine Anforderung nutzbar zu machen, die Kelsen automatisch für die Abgeordneten sieht, nämlich die Fühlungnahme der Abgeordneten mit den Wähler*innen (Kelsen 1929: 61f). Ist die Regierung doch mehr dem Ideal der Ideologie verbunden, so kann das Parlament den Kontakt zwischen Ideal und Realität möglicherweise „organischer“ abbilden.

Die Lehre für eine Regierungsbeteiligung ist es daher – so hart dies im Zeitgeist auch sein mag – sich vom Populismus zu lösen und stattdessen den Mut aufzubringen, politisch die Zukunft zu gestalten. Es ist gerade die Schönheit der Methodik von Kelsen in der Reinen Rechtslehre, dass sie dem Normsetzer bzw. dem Initiator des Normsetzungsprozesses jedes Versteck nimmt. Die Relativität der Normsetzung und ihre Wertfreiheit bedingt, dass man sich gerade nicht auf eine Notwendigkeit, ein Naturrecht oder auf andere Krücken außerhalb des eigenen Handelns verlassen kann. Die Wertfreiheit der Normsetzung bewirkt gerade keine Wertfreiheit der Inhalte der Normen. Ganz im Gegenteil muss man sich im Akt der Normsetzung deklarieren. Man wird gleichsam nackt in die Fluten der öffentlichen Meinung geworfen und muss seine Absicht mit voller Überzeugung dennoch deklarieren. Und hin und wieder baut man ein ausgefeiltes Wasserwerk, dass diese Fluten in neue und nach dem vertretenen Weltbild bessere Bahnen lenkt.

Gegen die Bevölkerung ist ein Regieren unmöglich und auch schädlich, aber zu oft unterschätzt man die Auffassungsgabe der Menschen. Es gilt nicht Meinungen zu wiederholen, sondern Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen.

VII. Zusammenfassung der hypothetischen Ratschläge

Wenn man sich daher vorstellt, Kelsen würde zu seinem 50. Todestag aus dem Grab emporsteigen und in diesem Wiedererstehen der Sozialdemokratie Ratschläge zu einem eigenen Wiedererstehen etwas ans Herz legen, so würden diese Ratschläge meines Erachtens sicher in einem Zuspruch zur Wichtigkeit der parlamentarischen Demokratie gründen:

  • Der erste Schritt jeder politischen Handlung wird es sein müssen, die eigene Bedeutung als Partei für den Fortbestand der Demokratie in Österreich zu begreifen.
  • Hat man dies begriffen, so wird es notwendig sein, die eigene innere Verfasstheit zu verstärken, schon grundsätzlich, um das Innere dem äußeren politischen Ideal anzunähern, aber auch ganz pragmatisch, um die Repräsentation und den Zuspruch von Mitgliedern zur eigenen Organisation zu verstärken. Auch dies erfordert eine innere Demokratisierung.
  • Und letztlich gälte es im Sinne Kelsens im Äußeren die Würde des Parlaments und der repräsentativen Demokratie wieder zu festigen und einen echten politischen Diskurs von Rede und Gegenrede und das Bemühen um eine Konsens- oder Verhandlungsdemokratie wiedererstehen zu lassen.

Welche politischen Inhalte konkret vertreten werden, dazu würde Kelsen wohl nichts vorschlagen. Eines ist aber offenkundig: Soll der parlamentarische Aushandlungsprozess funktionieren, so müssen inhaltlich klare Positionen eingenommen werden. Diese Positionen dürfen aber niemals partout unveränderlich, autokratisch oder von den gesellschaftlichen Realitäten abgehoben sein. Demokratie funktioniert nur, wenn sich Recht, Politik und Gesellschaft organisch berühren.

Und zum Ende hin können wir die Beantwortung der Frage „Was würde Kelsen der SPÖ raten?“ im Sinne einer guten d. h. gerechten Partei im Blick auf den Schlusssatz aus Kelsens Aufsatz Was ist Gerechtigkeit? (Kelsen 1953: 48) spiegeln:

„Und in der Tat weiß ich nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da Wissenschaft mein Beruf ist und sohin das Wichtigste in meinem Leben, ist es jene Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissenschaft Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können. Es ist die Gerechtigkeit der Freiheit, die Gerechtigkeit des Friedens, die Gerechtigkeit der Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.“

FLORIAN HORN ist Rechtsanwalt in Wien, Rechtsanwaltsprüfer und unterrichtet auch an der Universität Wien. Er ist unter anderem stellvertretender Vorsitzender des sozialdemokratischen Rechtsanwaltsclubs im BSA, Vorstandsmitglied und Kassier der Österreichischen Liga für Menschenrechte und Mitglied der österreichischen Juristenkommission. Neben seinen juristischen Fachpublikationen vor allem im prozessualen Bereich veröffentlicht er vor allem zu den Themen Rechtsstaat, Grundrechte und Rechtspolitik. Kontakt: florian.horn@fhorn.at

Literatur

Berka, Walter/Binder, Christina/Kneihs, Benjamin (2019): Die Grundrechte, 2. Aufl, Wien: Verlag Österreich.

Blaßnig, Maximilian/Reiss, Antonia (2019): Parlamentarische Demokratien im Rückbau, in: juridikum 4, 46–62.

Kelsen, Hans (1929): Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen: J. C. B Mohr.

Kelsen, Hans (1953): Was ist Gerechtigkeit?, Wien: Deuticke.

Kelsen, Hans ([1960] 2017): Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 2. Auflage 1960, Wien: Verlag Österreich.

Olechowski, Thomas (2022): Hans Kelsen und die Bundesverfassung, in: Austrian Law Journal 1, 28–38

Wieser, Bernd (2019): Parteiengesetz, in: Korinek, Karl/Holoubek, Michael/Bezemek, Christoph/Fuchs, Claudia/Martin, Andrea/Zellenberg, Ulrich E. (Hg.): Österreichisches Bundesverfassungsrecht (Loseblatt), Wien: Verlag Österreich

Wineroither, David M. (2020): Das Demokratiemodell des B-VG und die politische Realität der Zweiten Republik, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (ZöR) 75, 139–154.