Als Mitte März 1946 die erste Ausgabe von DIE ZUKUNFT – Sozialistische Monatsschrift für Politik und Kultur erschien, begann die österreichische Sozialdemokratie nach dem „Dunkel des Faschismus“ und parallel zum Aufbau der Zweiten Republik an die große Tradition des Austromarxismus anzuschließen. Mit Adelheid Popp, Max Adler, Käthe Leichter, Otto Bauer oder Rudolf Hilferding hatte sich diese spezifisch österreichische Form des Marxismus u. a. zwischen 1907 und 1934 in der sozialdemokratischen Monatsschrift Der Kampf ein unvergleichliches theoretisches und praktisches Niveau gegeben, dem sich die ZUKUNFT von Anfang an verpflichtet fühlte. Ab dem ersten Heft ging es dabei auch um die Reaktivierung der vom Nationalsozialismus zerstörten Arbeiter*innenbildung, durch welche die Menschen erneut zu geschultem Denken und wirksamem Handeln hingeführt werden sollten. Mit eben diesem Ansinnen steht die Redaktion der ZUKUNFT nach dem Neustart in dieser Traditionslinie und sieht diesen Bildungsauftrag als Grundbedingung und Motor ihrer Arbeit. Deshalb freut es uns ganz besonders, mit dieser Ausgabe und gemeinsam mit unseren Leser*innen das 75-jährige Bestehen der ZUKUNFT – Die Diskussionszeitschrift für Politik, Gesellschaft und Kultur feiern zu dürfen.
In ihrer Geschichte ist die ZUKUNFT nicht nur das wichtigste theoretische Organ der österreichischen Sozialdemokratie, sondern spiegelt auch im Sinne historischer Quellenlagen die Entwicklung der Arbeiter*innenbewegung und der Sozialistischen bzw. Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Die in der ZUKUNFT geführten Diskussionen sind so aus heutiger Sicht nach wie vor von großer zeitgeschichtlicher Brisanz, da sich ihre Aktualität immer wieder unter Beweis stellt.
Den Reigen unserer Beiträge eröffnet ganz in diesem Sinne eine Festschrift, die Caspar Einem, langjähriger Chefredakteur der ZUKUNFT, anlässlich des Jubiläums für dieses Heft verfasst hat. Dabei diskutiert er die Zukunft der ZUKUNFT und den möglichen Beitrag, den unsere Diskussionszeitschrift untere anderem angesichts der Krise und Schräglage der Demokratie leisten kann. So steht ihm vor allem die Politikverdrossenheit der Wahlberechtigten vor Augen, die sich von ihren Repräsentant*innen en gros nicht mehr vertreten fühlen. Einem plädiert daher für neue Formen des politischen Engagements, das von unten her an den Bedürfnissen der Menschen orientiert sein muss. In diesem Zusammenhang hebt er auch die zukünftige Rolle und Funktion der ZUKUNFT hervor und betont mit allem Nachdruck, dass es – auch im Blick auf ihre Geschichte – im Rahmen sozialdemokratischer Diskussionen vor allem darum gehen wird, Argumente und Programme in die Basisorganisation von Demokratie einzubringen, um den Vertrauensverlust der Wähler*innen nachhaltig abzubauen.
Den pressegeschichtlichen Kontext der ZUKUNFT fasst dann Helmut Konrad zusammen, der die Entwicklung des sozialdemokratischen Pressewesens von Die Gleichheit und Der Kampf über Das Kleine Blatt und die Arbeiter-Zeitung bis hin zur ZUKUNFT nachzeichnet und so einen eminent wichtigen Teil der österreichischen Zeitgeschichte in Erinnerung ruft. Im Blick auf die ZUKUNFT hält Konrad fest, dass der größere Teil der Personen, die vor 1934 den sozialdemokratischen Diskurs geführt hatten, entweder dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen waren oder nicht aus der Emigration zurückkamen. Denn die Rückkehr der „Vertriebenen Vernunft“, so Konrad, wurde keineswegs offensiv verfolgt. So konnte die ZUKUNFT zwar eine angesehene, politische Monatsschrift werden, die jedoch nicht an die herausragende Stellung der Zeitschrift Der Kampf heranreichte.
In der Folge erinnert sich Christian Albert an seine Zeit als Praktikant bei der ZUKUNFT und die Zusammen-, Um- und Aufbrüche in den späten 1980er-Jahren. Diese waren vor allem durch innen- und außenpolitische „tektonische Beben“ gekennzeichnet, welche die Weltpolitik, die innenpolitische Landschaft in Österreich und natürlich auch die SPÖ für immer veränderten. Die Weltpolitik wurde von Ronald Reagan, Michail Gorbatschow und – vor allem wirtschaftspolitisch – von Margaret Thatcher geprägt. Albert erinnert in diesem Zusammenhang an Beiträge von Peter Glotz oder Josef Cap und rekapituliert die Rolle der ZUKUNFT als theoretisches Organ der Sozialdemokratie. Insgesamt stellt der Autor fest, dass die Linke in dieser Zeit, als der Begriff „Neoliberaler“ die Keule „Faschist“ als argumentativer Totschläger ablöste, aus intellektueller Trägheit eine Zukunft verspielte, die heute in und mit der ZUKUNFT wiedergewonnen werden muss.
Im Zusammenhang mit unserer Jubiläumsausgabe freut es die Redaktion der ZUKUNFT ein Interview mit Gerhard Schmid, dem Bundesbildungsvorsitzenden der SPÖ, publizieren zu dürfen, das Hemma Prainsack und Alessandro Barberi am 9. Juni 2021 in der Wiener Bildungsakademie geführt haben. Sie unterhalten sich mit ihm u. a. über die Zukunft der ZUKUNFT, soziale Ungleichheit im Bildungsbereich, die Probleme der Digitalisierung und die Rolle der Intellektuellen in der Geschichte der Sozialdemokratie. Was heute links ist wird dabei ebenso in den Fokus gerückt, wie die Rolle und Funktion der Erwachsenenbildung im Rahmen des österreichischen Bildungssystems. Die ZUKUNFT war in diesem Kontext, so Schmid, immer ein unverzichtbares Diskussionsorgan, das wieder näher an die sozialdemokratischen Bildungsorganisationen und die Partei herangeführt werden sollte. Dabei steht ganz im Sinne des Austromarxismus die Aktualität von Bruno Kreiskys Klassenbegriff vor Augen, der das Interview auf allgemeiner ideologischer Ebene rahmt.
Welche programmatische Ausrichtung die ZUKUNFT sichern könnte, diskutiert dann Thomas Koppensteiner. Denn in einer Zeit, in welcher der herrschende Diskurs durch neoliberale Dogmen geprägt ist, kann die Sozialdemokratie nur dann wieder bestimmende Kraft werden, wenn es ihr gelingt, eben diesen Diskurs zu verändern und die Hegemonie seiner antisozialen Strategie zu brechen. Koppensteiner fordert daher eine inhaltliche Positionierung der Sozialdemokratie und eine intensive Diskussion möglicher Allianzen und Bündnisse auf breiter gesellschaftlicher Ebene und mit politischen Gruppierungen, die bereits jetzt im österreichischen Nationalrat vertreten sind. Der Beitrag Koppensteiners ist getragen von der Überzeugung, dass eine Renaissance der Sozialdemokratie in Österreich möglich ist, und dass es die SPÖ zu einem guten Teil selbst in der Hand hat, diese Renaissance herbeizuführen.
Friedrich Klocker geht es dann ebenfalls um eine Neuorientierung der Sozialdemokratie, wenn er betont, dass die Reduktion der Vielfalt und Breite politischer Themen auf Randthemen die Sozialdemokratie nach und nach in die politische Bedeutungslosigkeit führt. Seine Überlegungen beinhalten auch eine Erklärung für den Verlust der Gestaltungsmöglichkeit in allen relevanten Bereichen der Politik. Klocker diskutiert dabei Themen wie Arbeit, Chancengerechtigkeit oder die digitale Revolution und liest in diesem Zusammenhang die letzte Publikation von Sahra Wagenknecht aus kritischer Perspektive. Anlässlich unseres Jubiläums wünscht sich der Autor insgesamt, dass die ZUKUNFT ein geeignetes Medium ist, um derartige Fragen in der gesamten Palette der Themen breit und offen zu diskutieren; so wie dies in der Vergangenheit auch der Fall war und im doppelten Sinn des Wortes in der ZUKUNFT sein sollte.
Eingehend diskutiert auch Thomas Nowotny mit seinem Beitrag Gemeinsinn und gesellschaftlicher Zusammenhalt die jüngste Publikation von Sahra Wagenknecht und fasst zusammen, wie die Politikerin der LINKEN Positionen vertritt, die dem „Völkischen“ und der AfD entsprechen, was ihr schon einen Antrag auf Parteiausschluss eingebracht hat. Dabei distanziert er die vorurteilsbeladenen Attacken gegen „die Lifestyle-Linke“ und „die Linksliberalen“, um die in diesem Buch diagnostizierte Zerstörung von Solidarität auch in den Ressentiments von Wagenknecht auszumachen. Der Autor thematisiert in diesem Zusammenhang rechtspopulistische Extreme und verteidigt die Europäische Union gegen nationalistische Kleinkrämerei. Wagenknecht und die populistische, nationalistische Rechte sind sich dabei auch durch den Gebrauch einer die Gegner*innen herabwürdigenden, denunziatorischen Sprache ähnlich, durch welche diesen Gegner*innen der Anspruch auf Seriosität entzogen wird. Wagenknecht hat damit eben jene Spaltung vertieft, die sie doch eigentlich überwinden wollte, so Nowotny.
Im Sinne einer so vor Augen stehenden ideologischen Diskussion ist es uns anlässlich von 75 Jahren ZUKUNFT ein Anliegen, die integrationspolitischen Überlegungen von Sieglinde Rosenberger zu präsentieren. Denn: Integration gelingt, Integration scheitert, Integration ist heftig politisiert, Maßnahmen betreffen eher Kultur und Religion, denn Struktur. Wie könnte eine zukünftige Integrationspolitik angelegt sein, um Teilhabe, Zugehörigkeit und Chancengleichheit, aber auch soziale Kohäsion als Gesellschaft zu erreichen? Welche Politik braucht es, um Verhältnisse zu gestalten, die teilhabendes Verhalten und Handeln ermöglichen? Die Autorin versucht sich in einer pointierten und konzisen Beantwortung dieser Fragen und legt so ebenfalls einen Grundstein für neuartige sozialdemokratische Programmatiken, die wir nur zu gerne in der Zukunft der ZUKUNFT diskutieren wollen.
Dass Kultur und Bildung immer schon Themen waren, die in der ZUKUNFT viel Platz hatten, belegt am Ende dieses Hefts unser Fund aus den Archiven der ZUKUNFT. Denn anlässlich der vorliegenden Jubiläumsausgabe haben die Redaktionsmitglieder Hemma Prainsack und Thomas Ballhausen mit Vom Wellengang unserer Literatur einen passenden, exemplarischen Artikel aus den Anfängen der Zeitschrift als Wiederabdruck ausgewählt und mit einer kritischen Einleitung versehen: Im Zentrum des historischen Essays vom Mai 1946 und aus der Feder von Otto Koenig stehen wiederkehrende Fragen um den Stellenwert der Literatur, den Bezügen und Traditionen zur Literaturgeschichte und den Perspektiven der Künste, die das Publikum in einer Form gesamtgesellschaftlicher Mitverantwortung ansprechen wollen – oder auch sollen.
Auch unsere Bildstrecke besteht aus einer Serie, die wir in unseren Archiven gefunden haben. Vom Deckblatt der ersten Ausgabe der ZUKUNFT aus dem Jahr 1946, das am Cover zu sehen ist, führt der visuelle Weg u. a. zu den Deckblättern von Der Kampf oder der Arbeiter-Zeitung. Dass die Frauenfrage im Pressewesen der Sozialdemokratie eine eminente Rolle spielte, belegen des Weiteren die ersten Seiten von Die Unzufriedene und Die Frau. So rahmt auch der Bogen unserer Bildstrecke unser 75-jähriges Bestehen und lädt dazu ein, die Geschichte der ZUKUNFT in die Zukunft zu tragen.
Denn 75 Jahre ZUKUNFT sind auch 75 Jahre Diskussion über Politik, Gesellschaft und Kultur im Rahmen der Sozialdemokratie. Wir hoffen deshalb, dass unsere Jubiläumsausgabe Sie anregt, über die letzten und die nächsten 75 Jahre Sozialdemokratie nachzudenken und verweisen deshalb abschließend auf unser jüngst erstelltes Online-Archiv https://diezukunft.at/archiv/ …
Wir senden Ihnen
herzliche und freundschaftliche Grüße,
Hemma Prainsack und Alessandro Barberi
HEMMA PRAINSACK ist Redakteurin der ZUKUNFT, war im Produktionsbetrieb beim Österreichischen Rundfunk sowie am Theater im Bereich Regie sowie Videogestaltung tätig und arbeitete in der Generaldirektion des ORF.
ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der ZUKUNFT, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/
Inhalt
6 Festschrift für die ZUKUNFT
VON CASPAR EINEM
8 Das sozialdemokratische Pressewesen
VON HELMUT KONRAD
14 Die Zukunft der ZUKUNFT
VON CHRISTIAN ALBERT
18 Wir müssen die Klassen immer wieder
in Frage stellen …
INTERVIEW MIT GERHARD SCHMID
26 Zur Renaissance der Sozialdemokratie in
Österreich
VON ALEXANDER KOPPENSTEINER
34 „Lifestyle-Linke“ versus „Breitband
Sozialdemokratie“
VON FRIEDRICH KLOCKER
38 Gemeinsinn und gesellschaftlicher Zusammenhalt
VON THOMAS NOWOTNY
42 Integrationspolitik in der Zukunft
VON SIEGLINDE ROSENBERGER
46 Vom Wellengang unserer Literatur
VON OTTO KOENIG
AUSGEWÄHLT UND MIT EINER EINLEITUNG VERSEHEN VON
THOMAS BALLHAUSEN UND HEMMA PRAINSACK