In einer Ära, in der Fakten manipuliert und Machtstrukturen verstärkt werden, stellt sich die Frage, wie ein gutes digitales Leben aussehen kann. Der Digitale Humanismus kann als Antwort auf die entmenschlichenden Tendenzen von autoritärer Technokratie und Technofaschismus verstanden werden. In seinem Beitrag skizziert ERICH PREM die notwendigen Schritte zur Verwirklichung eines Digitalen Humanismus, beginnend mit der Vision eines besseren digitalen Lebens, der Entwicklung entsprechender Technologien und deren gesellschaftlicher Integration.
I. Einleitung
Wir erschaudern. Und das beinahe täglich. Wir erleben eine Zeitenwende, die über Jahrzehnte gefestigte Wertvorstellungen und Grundhaltungen zu annullieren scheint. Bereits die Postmoderne war als das Ende der Aufklärung interpretiert worden. Dieses Ende erfahren wir nun in einer ungeahnten Deutlichkeit; digital vermittelt, ubiquitär, zeitnah und partizipativ. Es spielt dabei keine Rolle, welchen Begriff wir dieser Epoche verleihen möchten, mögen wir sie den Anfang eines technokratischen Autoritarismus (Chayka 2025), eine Widergeburt des Technofaschismus (Minura 2011) oder die Begründung eines Neuheidentums (Snyder 2024) heißen.
Die derzeitige Phase der Annullierung weithin als selbstverständlich angesehener Werte ist eine Konterrevolution, in der digitaler Technologie eine zentrale Rolle zukommt. Diese Technologie macht es möglich, aufgeklärte Werte wie Tatsächlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Diskurs und Erkenntnis zu desavouieren. Sie kann dies auf mindestens dreifache Weise tun: sie kann Scheinfakten erschaffen, diese verbreiten helfen und Machtverhältnisse stärken, die wiederum Wissen und Diskurs angreifen. Das von Tim Berners-Lee bereits 2017 attestierte Systemversagen (Solon 2017) scheint nun eingetreten. In dieser aktuellen Phase der Entwicklung sind Ideale wie Menschlichkeit, Menschenwürde, Menschenrechte, Demokratie und ein für alle Völker geltendes Recht nicht mehr nur bedroht, sondern sie wirken, als wären sie aus der Welt gefallen. Es bedarf einiger Anstrengung, diese Ideen zu erinnern.
II. Definitionen des Digitalen Humanismus
Der Digitale Humanismus steht im Gegensatz zu inhumanen, entwürdigenden und menschenverachtenden Wirkungen digitaler Technologie. Er legt den Fokus auf das Menschliche im Menschen. Im Digitalen Humanismus geht es dabei aber, anders als in manchen historischen Humanismen, nicht um Essenzialismus. Es geht dem Digitalen Humanismus nicht um die Frage nach dem Wesen des Menschen. Diese Frage mögen Berufenere beantworten. Mit dem Menschlichen ist vielmehr Menschlichkeit gemeint. Es geht um Sorge und Erbarmen, Mitgefühl und Nächstenliebe. Diese Begriffe könnten nicht weiter von autoritärer Technokratie und digitalem Transhumanismus entfernt sein. Es sind Begriffe des Glaubens, die bisher nur wenig Eingang in die Theorie der Informatik gefunden haben. Am ehesten finden wir noch die Sorge als Grundwert feministischer Ethiken oder in der Technikphilosophie (Jonas 1979) sowie die Menschenzentriertheit in Theorien des Schnittstellendesigns.
Der Digitale Humanismus, der eigentlich ein Oost-Humanismus ist (Prem 2024; Coeckelbergh 2024), ist jedoch weit weniger nur am einzelnen Menschen orientiert als oberflächliche Kommentator*innen oft meinen. Im Digitalen Humanismus geht es vielmehr um das Ganze. Es geht ums Leben, das wir gemeinsam mit anderen Menschen gestalten und daher um die Gesellschaft. Viele Themen im Digitalen Humanismus sind zwar auch menschenzentriert, z. B. wenn es um Fragen digitaler Fairness, der Wirkung von IT-Systemen auf Arbeitende oder um die Erniedrigung durch den Verlust an Privatsphäre geht. Die großen Debatten sind aber primär gesellschaftlicher Natur. Der Digitale Humanismus wagt es, den massiven – auch digital forcierten – Individualismus kritisch zu hinterfragen und ihm mit gesellschaftlichen Konzepten entgegenzutreten.
Informationstechnologie, Künstliche Intelligenz und cyberphysikalische Systeme dienen nämlich nicht nur Individuen, sondern stellen das Nervensystem der Gesellschaft dar – und inzwischen auch einen Teil des Gehirns, sowie Beine und Hände. Das bedeutet, digitale Systeme verarbeiten heute nicht nur Informationen, sondern sie wirken auch physikalisch, schaffen Realitäten und haben drastische gesellschaftliche Wirkungen, die über die Einzelwirkungen auf Individuen hinausgehen. Zu diesen gehören beispielsweise, wie Tatsachen erfasst und verbreitet werden, wie gesellschaftlicher Diskurs und Meinungsbildung stattfinden und wie Handlungen einer Gesellschaft koordiniert werden. Zwar ist es richtig, dass wir die Wirkung sozialer Medien nicht überbewerten dürfen, dennoch sind sie bedeutende Instrumente in den Händen jener geworden, die über sie herrschen.
III. Die Realisation eines guten Lebens durch Digitalen Humanismus
Mit der Frage, wie denn eigentlich ein gutes Leben aussehen soll, beschäftigt sich seit Langem die Ethik. Sie wird oft missverstanden als eine Art Anleitung, Gutes zu tun. Was aber gut ist, hängt davon ab, welches Leben und Zusammenleben mit anderen wir anstreben und was wir daher als gut ansehen. Analog dazu muss die Kernfrage des Digitalen Humanismus sein, wie ein gutes digitales Leben aussieht. Aristoteles beantwortet die ethische Frage mit Blick auf das Wesen des Menschen und auf die Politik. Für Aristoteles geht es zunächst darum zu klären, wie es um das Wesen des Menschen bestellt ist und damit um den Menschen als rationales Wesen. Aristoteles betont aber auch, wie sehr der Mensch ein Leben in Gemeinschaft führt. Ethik und Politik sind daher nicht nur über die Wirkung von Handlungen auf andere verbunden, sondern sie sind transzendental verwandt, indem sie sich auf das soziale Wesen des Menschen beziehen.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem digitalen Leben. Die Diskussion darüber fokussiert heute vielerorts auf den einzelnen Menschen. Es werden Fragen nach Werten und Gerechtigkeit gestellt und ethische Prinzipien wie Nachvollziehbarkeit, Fairness oder die Gutartigkeit von Systemen gefordert. Aber die Frage nach dem digital guten Leben ist heute politischer denn je (Coeckelbergh 2024). Diese Frage können wir positiv oder negativ beantworten. Zu den positiven Antworten gehört beispielsweise, dass die meisten Menschen weder in Unterdrückung noch unter ständiger Überwachung leben wollen. Viele wollen gerne mitbestimmen, wie über die Regeln des Zusammenlebens bestimmt werden soll. Und vielen erscheint es als wichtig, die uns Führenden einfach und friedlich wieder loszuwerden, wenn sie sich als ungeeignet erweisen.
Wir brauchen daher eine Informationstechnologie, die die gesellschaftlichen Errungenschaften der Aufklärung nicht nur nicht gefährdet, sondern fördert und fortgesetzt weiterentwickelt. Wie wir dies in antikolonialer Weise und auch auf eine regenerative Art tun, ist eine weitgehend offene und daher stark diskutierte Frage. Um diese Frage nicht nur zu beantworten, sondern digitale Technologien zu erschaffen, die tatsächlichen Fortschritt darstellen, wird es aber nicht reichen, nur akademische oder technische Fragen zu beantworten. Für die Verwirklichung des Digitalen Humanismus bedarf es mindestens vier Schritte.

Abbildung 1 Vier notwendige Schritte für die Verwirklichung eines Digitalen Humanismus.
Um gesellschaftliche Wirkung zu entfalten, muss der Digitale Humanismus zuerst die Wünschenswertigkeit und Machbarkeit einer anderen als der aktuellen, besseren Informationstechnologie demonstrieren. Dazu gehört die schwierige Arbeit, eine Vision für ein gutes digitales Leben zu entwerfen. Der nächste Schritt besteht in der Überzeugungsarbeit, dass diese Vision realisiert werden kann. Die autokratische Perversion der Ideale des freien Internets hat zu einem Technopessimismus und Technofatalismus geführt, dessen Überwindung Kraft kosten wird. Ohne die Überzeugung, dass das Wesen digitaler Technik nicht grundsätzlich antiaufklärerisch oder autoritär ist und diese Technik daher verbessert werden kann, ist nicht damit zu rechnen, die notwendigen innovativen Kräfte für die dringenden Überarbeitung und den Neuentwurf digitaler Technologie zu gewinnen.
Drittens müssen neue Technologien entwickelt und weiterentwickelt werden. Allerdings muss nicht alles neu erfunden werden. Manches liegt bereits vor und wird bisher nicht ausreichend genutzt. Das kann daran liegen, dass es heute an Gelegenheiten fehlt, mit dieser besseren Technologie auch Geld zu verdienen oder schlicht an zu wenig bekannten Möglichkeiten bereits existierender digitaler Technologie. Zu diesen gehören etwa Technologien und Anwendungen, die die Privatsphäre respektieren; die Verfügbarkeit hochwertiger und robuster informatischer Systeme; Empfehlungssysteme, die Nutzende tatsächlich ermächtigen und vieles mehr.
Schließlich muss es gelingen, die Technologien auch tatsächlich zum Einsatz zu bringen. Regulierung wird an einigen Stellen nötig sein. Es ist aber unwahrscheinlich, ein gutes digitales Leben dadurch zu realisieren, dass wir nur Normen und Gesetze erlassen und mit hohen Strafen drohen. Zwar haben viele neue Technologien genau zu dieser Entwicklung geführt, wie etwa bei der Nukleartechnik oder nach der Entwicklung des Autos. Parallel dazu hat sich jedoch auch eine Technikmoral entwickelt, in der es z. B. angebracht ist, dem betrunkenen Freund den Autoschlüssel abzunehmen. Diese breite Moralität des Digitalen fehlt bisher fast völlig. Sie ist das Gegenteil davon, was Technologieführer meinen, wenn sie vorschlagen, schnell unterwegs zu sein und Dinge zu zerstören. Im Gegensatz dazu, müssen die Prinzipien eines digitalen Humanismus zu Prinzipien einer gewöhnlichen Geschäftstätigkeit werden.
IV. Conclusio
Im besten Fall gelingt es also, den Digitalen Humanismus als Wettbewerbsfaktor zu etablieren und damit Geld zu verdienen. Die schwierigste Herausforderung besteht daher mit Sicherheit darin, eine neue Technikmoral zu etablieren, die von einer breiten gemeinsamen Vorstellung über das gute Leben getragen wird und für weite Teile Gesellschaft selbstverständlich wird – so ähnlich wie es der Humanismus bereits einmal war.
Literatur
- Chayka, Kyle (2025): Techno-fascism comes to America. The New Yorker, online unter: https://www.newyorker.com/culture/infinite-scroll/techno-fascism-comes-to-america-elon-musk (letzter Zugriff: 07.03.2025).
- Coeckelbergh, Mark (2024): What is digital humanism? A conceptual analysis and an argument for a more critical and political digital (post)humanism, in: Journal of Responsible Technologies, 17, 10073. https://doi.org/10.1016/j.jrt.2023.100073.
- Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung, Berlin: Suhrkamp.
- Minura, Janis (2011): Planning for empire: Reform bureaucrats and the Japanese Wartime State, Ithaca: Cornell University Press.
- Prem, Erich (2024): Principles of digital humanism: a critical post-humanist view, in: Journal of Responsible Technologies, 17, 10075. https://doi.org/10.1016/j.jrt.2024.100075.
- Snyder, Timothy (2024): The new paganism: How the postmodern became the premodern. Talk at IWM Vienna [YouTube], online unter: https://www.youtube.com/watch?v=1Nr2Q2zGNC8 (letzter Zugriff: 07.03.2025).
- Solon, Olivia (2017): Tim Berners-Lee on the future of the web: The system is failing, online unter: https://www.theguardian.com/technology/2017/nov/15/tim-berners-lee-world-wide-web-net-neutrality (letzter Zugriff: 07.03.2025).

Erich Prem © Martin Kutschera
ERICH PREM
ist Chef FTI-Stratege und Geschäftsführer der eutema GmbH (www.eutema.com) und Obmann des Vereins für digitalen Humanismus. Erich Prem arbeitet wissenschaftlich in den Gebieten AI, Technikethik und Innovationsforschung. Er ist Philosoph (Uni Wien), Informatiker (TU Wien) und war Gastforscher am Massachusetts Institute of Technology sowie Wissenschafter am österreichischen Forschungsinstitut für Artificial Intelligence (OFAI) und an der Universität Wien (Technikphilosophie). Erich Prem unterrichtet Datenethik an der Universität Wien und Digitalen Humanismus an der TU Wiennach vielen Jahren Lehre in Embodied AI und Cognitive Science. Schwerpunkt seiner aktuellen Forschungsarbeit ist der Digitale Humanismus und die Ethik im Bereich digitaler Technologien.