Der Beitrag von JEREMIAS JOBST gibt fundierte stadtsoziologische Einblicke in die Struktur und Genese des Stadtentwicklungsgebiets Seestadt Aspern und stellt für die Leser*innen der ZUKUNFT eine umfassende diesbezügliche Studie vor. Dabei stehen vor allem Fragen der Wohnumfeldmobilität im Mittelpunkt der Ausführungen.
1. Nachhaltige Mobilität & Nutzungsmischung in der Stadtplanung des 21. Jahrhunderts
Der urbane Raum sieht sich im 21. Jahrhundert mit einer Vielzahl sozialökologischer Herausforderungen konfrontiert, die maßgeblich auf nicht-nachhaltige Mobilitätspraktiken zurückzuführen sind (vgl. Manderscheid 2012: 552). Der Fokus liegt hierbei insbesondere auf dem motorisierten Individualverkehr, der externe Kosten wie Luftverschmutzung, Verkehrsstaus, Flächenversiegelung und soziale Desintegration verursacht und somit im Widerspruch zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung steht (vgl. Flade 2016: 473f). Insbesondere Großstädte stehen durch ihre dichte Siedlungsstruktur im Fokus globaler Klimaschutzmaßnahmen: Einerseits werden sie als Vorbild in Strategien zur Dekarbonisierung und Resilienzsteigerung betrachtet, andererseits sind sie selbst wachsende Emittenten mit beschränkten sozioökonomischen Anreizmöglichkeiten (vgl. UNFCCC 2015: 18).
Im Zuge der Stadtplanung wurden Leitbilder wie die „Stadt der kurzen Wege“ entwickelt. Diese zielen darauf ab, durch eine gezielte Nutzungsmischung und den Ausbau multimodaler Mobilitätssysteme die Abhängigkeit vom motorisierten Individualverkehr zu reduzieren. In der Seestadt Aspern in Wien – ein seit 2010 in Bau befindliches Stadterweiterungsgebiet – wird dieses Konzept auf einer großflächigen Entwicklungsfläche schrittweise implementiert, mit dem übergeordneten Ziel, die Mobilitätsmuster nachhaltig zu verändern und die Mobilitätsbedürfnisse der Seestädter*innen weitgehend auf Quartiersebene abzudecken. Der Bau der U-Bahn in das braune Feld, lange bevor etappenweise substanzielle Wohnungen errichtet wurden, unterstreicht bereits diesen planerischen Anspruch, Nutzungsmischung und nachhaltige Mobilitätskonzepte zu verbinden.
Die hier präsentierte empirische Untersuchung aus dem Jahr 2020 – basierend auf einer Masterarbeit (Jobst 2020) – widmet sich der Frage, ob und inwiefern die Konzeption dieses neuartigen städtischen Quartiers konkret die Mobilität der Seestädter*innen in Richtung Emissionsreduktion beeinflusst.
2. Nachhaltige Mobilität und Nutzungsmischung
Die Zunahme der gesellschaftlichen Beschleunigung und der daraus resultierenden Mobilitätsnachfrage hat tiefgreifende Auswirkungen – sowohl auf die globale Umwelt und das Klima sowie auch auf die Siedlungs- und Verkehrsstruktur moderner Städte. Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa (2016) beschreibt diese Beschleunigung als zentrale Dynamik der zweiten Moderne. In dieser Epoche werden Lebens- und Arbeitswelten durch technische und soziale Beschleunigung geprägt und deren Zeitstrukturen verändern sich. Diese Transformation geht jedoch mit negativen Externalitäten einher, die speziell im Hinblick auf die globalen Klima- und Energieziele zunehmend problematisch werden. Die anhaltende Dominanz des motorisierten Individualverkehrs und die anhaltende Begeisterung für immer schnellere und größere Autos veranschaulichen diese Entwicklung (vgl. Reckien et al. 2007: 340).
Soziologische Studien weisen darauf hin, dass die monofunktionale Bauweise, die durch die im 20. Jahrhundert vorangetriebene Suburbanisierung begünstigt wurde, eine zunehmende räumliche Zersiedelung sowie eine Verstärkung sozialräumlicher Disparitäten zur Folge hat (vgl. Rink/Banzhaf 2011: 447). Ein zentraler Ansatz für eine nachhaltige Stadtentwicklung besteht daher in der Förderung von Nutzungsmischung und polyzentrischen Siedlungsstrukturen, welche die Rahmenbedingungen für ressourcenschonende Mobilitätspraktiken verbessern sollen (vgl. Drilling/Schnur 2012a: 5). Das Konzept der Nutzungsmischung basiert auf der räumlichen Nähe und funktionalen Verzahnung unterschiedlicher Lebensbereiche wie Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Diese Nähe zielt darauf ab, alltägliche Wege zu verkürzen und die Attraktivität aktiver Fortbewegungsarten wie das Zu-Fuß-Gehen und Radfahren zu erhöhen. Empirische Erhebungen belegen, dass eine gut ausgebaute lokale Infrastruktur mit sozialen Treffpunkten und umfassenden Versorgungsangeboten das Mobilitätsverhalten der Stadtbewohner*innen signifikant in Richtung nachhaltiger Muster beeinflussen kann (vgl. Kulke 2012).
3. Aspern Seestadt: Ein Leuchtturm nachhaltiger Urbanisierung?
Die Seestadt Aspern ist eines der größten städtischen Entwicklungsareale Europas und wird vielfach als exemplarisches Fallbeispiel für nachhaltige Stadtplanung angeführt. Seit 2009 wird das ehemalige Flughafengelände im 22. Wiener Gemeindebezirk zu einem multifunktionalen Quartier ausgebaut, das langfristig rund 20.000 Bewohner*innen und 20.000 Arbeitsplätze aufnehmen soll (vgl. Stadt Wien 2015: 10). Die Stadt Wien verfolgt mit diesem Projekt eine umfassende Strategie der ressourcenschonenden Urbanisierung, die sowohl ökologische als auch soziale und ökonomische Aspekte gleichermaßen berücksichtigt (vgl. Stadt Wien 2015: 10). Der Fokus liegt insbesondere auf dem Aufbau klimafreundlicher Mobilitätsstrukturen und der Sicherstellung eines hohen Lebensstandards.
Der städtebauliche Masterplan stellt den zentralen Anknüpfungspunkt für die nachhaltige Ausrichtung der Seestadt Aspern dar. Er zielt auf eine integrierte und zugleich flexible Form der Quartiersentwicklung ab. Im Bereich der Mobilität werden vielfältige Maßnahmen ergriffen, darunter die Schaffung eines engmaschigen Netzes aus Rad- und Fußwegen, eine leistungsstarke Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr sowie die Implementierung innovativer Mobilitätsangebote wie Fahrrad- und Carsharing. Die Initiativen zielen darauf ab, den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren und gleichzeitig eine alltagsnahe und ressourcenschonende Mobilität zu fördern. Ergänzend dazu erfolgt eine konsequente Nutzungsdurchmischung von Wohnen, Bildung und Freizeit, sodass notwendige Wege für die Bewohner*innen kurz gehalten werden können und eine urbane Dichte entsteht, die hohe Aufenthaltsqualitäten begünstigt (vgl. Wien 3420 Aspern Development AG 2021).
Die Koordination dieser unterschiedlichen Anforderungen erfolgt auf institutioneller Ebene durch die Wien 3420 Aspern Development AG. Diese Entwicklungsgesellschaft vereint öffentliche und private Akteur*innen, wodurch eine rasche und zielorientierte Realisierung zentraler Infrastrukturvorhaben gefördert wird. In diesem Zusammenhang ist die frühzeitige Inbetriebnahme der U2-Verlängerung bis zur Station „Seestadt“ im Jahr 2013 hervorzuheben. Dadurch konnte das Areal bereits in einer frühen Bauphase effektiv in das Wiener U-Bahn-Netz integriert werden. In der internationalen Stadtforschung wird eine derartige vorausschauende Erschließung wiederkehrend als essenzieller Faktor für den Erfolg neuer Quartiere thematisiert (vgl. Knieling 2016). Die Seestadt Aspern versteht sich zudem als „Living Lab“, in dem diverse Akteur*innen – von Forschungsinstitutionen bis hin zu Start-ups und engagierten Bewohner*innen –
innovative Konzepte im Bereich Mobilität, Energie und Partizipation erproben. Die sukzessive Entwicklung bis in die 2030er-Jahre ermöglicht eine fortlaufende Evaluation und Anpassung der Maßnahmen an sich verändernde technische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Ob sich die Seestadt tatsächlich als umfassendes Vorzeigeprojekt etablieren kann, wird sich erst in der weiteren Entwicklung abschließend beurteilen lassen. Dennoch verdeutlicht sie bereits heute Grundzüge einer integrierten und nachhaltigen Stadtplanung, die in Europa zunehmend als maßgeblicher Orientierungsrahmen dient.
4. Forschungsdesign und Untersuchungsdimension der Studie
Die hier zusammengefasste Studie untersuchte, ob die als „smart“ und multifunktional konzipierte Seestadt Aspern tatsächlich zu kürzeren Wegen und einem nachhaltigeren Mobilitätsverhalten ihrer Bewohner*innen führt. Die Seestadt vereint am Reißbrett ein modernes Stadtleben, architektonische Verdichtung und ein umfassendes Freizeitangebot um einen künstlichen See und wirft damit die Frage auf, inwieweit solche baulichen Strukturen den motorisierten Alltagsverkehr reduzieren und nachhaltige Mobilitätsoptionen fördern können.
Besonders relevant wird die hier aufgeworfene Fragestellung durch die periphere Lage der Seestadt Aspern am Stadtrand Wiens, da das Konzept einer „Stadt der kurzen Wege“ zumeist mit zentralen Lagen assoziiert wird und somit ein potenzieller Widerspruch zwischen räumlicher Distanz und dem Ziel reduzierter Alltagsmobilität entstehen könnte. Gleichzeitig wird Aspern als „Smart City“-Leuchtturm vermarktet, wobei insbesondere der Einsatz digitaler Technologien, Sharing-Angebote und fortschrittlicher Infrastrukturen im Vordergrund steht. Vor diesem Hintergrund erscheint das Quartier als ideales Untersuchungsfeld, um zu überprüfen, ob die in den Planungsdokumenten formulierten Visionen in der Praxis Bestand haben oder überwiegend einem marketingorientierten Narrativ folgen.
Die hier präsentierte Analyse fußt auf dem Konzept der Wohnumfeldmobilität, welches sich an Joos (2012) orientiert. Dieses Konzept differenziert zwischen „objektiven“ Faktoren, wie der real vorhandenen Infrastruktur (z. B. Einzelhandel, medizinische Versorgung), und „subjektiven“ Aspekten, wie individuellen Präferenzen oder Routinen. Exemplarische Fragestellungen lauten: ob ein Supermarkt fußläufig erreichbar ist und für welche Wege die Bewohner*innen auf das Auto zurückgreifen müssen. Um ein umfassendes Bild der Mobilitätsentscheidungen zu gewinnen, zielt die Befragung sowohl auf die Einschätzung der Lebensqualität als auch auf die Einschätzung des infrastrukturellen Angebots in der Seestadt ab. Darüber hinaus werden die individuellen Mobilitätsentscheidungen und die dahinterstehenden Handlungsgründe erfasst.
Im Zentrum der Untersuchung stand die Frage, inwieweit die essenziellen Daseinsgrundfunktionen – etwa Einkaufen, ärztliche Versorgung, Arbeitsplatz oder Freizeitgestaltung – innerhalb der Seestadt gedeckt werden können. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Einrichtungen (z. B. Apotheken, Lebensmittelhandel, Cafés und Fitnessstudios) erfasst. Geschlossene Fragen dienten der Ermittlung von Frequenz, Entfernungen und genutzten Verkehrsmitteln, während offene Fragen ein tieferes Verständnis für individuelle Wünsche, Kritikpunkte und jene Umstände ermöglichten, unter denen längere Wege in Kauf genommen werden. So ließ sich beispielsweise nachvollziehen, ob das Fehlen eines Textilgeschäfts regelmäßig zusätzliche Fahrten verursacht oder ob Familien spezielle Mobilitätsbedürfnisse aufweisen, die vor Ort nicht hinreichend abgedeckt werden.
5. Besonderheiten der Datenerhebung
Ursprünglich war vorgesehen, Teile der Befragung vor Ort durchzuführen. Mit dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 erwiesen sich persönliche Interviews jedoch als nur schwer umsetzbar, sodass das Forschungsdesign auf Online-Plattformen verlagert wurde. Der Link zum Fragebogen wurde über verschiedene Facebook-Gruppen, die sich auf die Seestadt bezogen, verbreitet und erzeugte rasch Interesse, insbesondere bei digital affinen Bewohner*innen. Diese Vorgehensweise birgt jedoch die Gefahr einer Verzerrung der Ergebnisse, da Personen, die Social Media aktiv nutzen und über eine hohe Internetaffinität verfügen, eher zur Teilnahme neigen. Personen, die diese Kanäle nicht nutzen, wurden möglicherweise nicht berücksichtigt. Nichtsdestotrotz konnten rund 200 ausgefüllte Fragebögen erfasst werden, die einen umfangreichen Datensatz darstellen und für eine quantitative Analyse aufschlussreiche Einblicke in das Mobilitätsverhalten der Seestadt-Bewohner*innen ermöglichen.
6. Ergebnisse der Befragung in der Seestadt Aspern (2020)
Die durchgeführte Befragung vermittelt ein facettenreiches Bild der lokalen Bevölkerung und ermöglicht Einblicke in das soziodemografische Profil, die wahrgenommene Lebensqualität, die vorhandene Infrastruktur, das Mobilitätsverhalten sowie die diesbezüglichen Bedürfnisse der Befragten.
6.1 Die Seestädter*innen – Eine junge, gut gebildete und sozioökonomisch stabile Gemeinschaft
Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass der Großteil der Befragten das 40. Lebensjahr noch nicht überschritten hat, wobei insbesondere die Gruppe der 30- bis 39-Jährigen (36,5 %) signifikant vertreten ist. Personen ab 60 Jahren sind mit 4,2 % hingegen deutlich unterrepräsentiert. Der Frauenanteil beträgt 69,5 %, während 27,9 % männlich und 2,6 % divers sind. Eine signifikante Mehrheit von 84,9 % verfügt über die österreichische Staatsbürgerschaft. Zudem weist die Gruppe ein hohes Bildungsniveau auf: 53,2 % haben einen akademischen Abschluss und insgesamt 73 % besitzen zumindest die Matura. Dieses Profil deutet auf eine überwiegend gut ausgebildete, aufstrebende Bewohner*innenschaft hin, die mehrheitlich (62,6 %) in Vollzeit tätig ist. Ein signifikanter Anteil der Teilnehmenden ordnet sich in eine mittlere bis gehobene Einkommenskategorie ein, was auf einen vergleichsweise hohen Lebensstandard hindeutet.
6.2 Stärken und Schwächen des Wohnumfelds in der Seestadt
Die Evaluation der subjektiven Lebensqualität ergibt, dass 89 % der Befragten diese als „sehr gut“ oder „gut“ bewerten. Als besonders positiv werden die Ruhe, die weitläufigen Frei- und Grünflächen sowie die Kinderfreundlichkeit des Quartiers hervorgehoben. Bemerkenswert ist, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmenden bereits seit über vier Jahren in der Seestadt lebt, was auf eine gewisse Stabilität in der Wohnbevölkerung schließen lässt.
Gleichwohl äußert eine beträchtliche Anzahl der Befragten den Wunsch nach zusätzlichen Einrichtungen: 53,3 % der Befragten vermissen etwa ein Schwimmbad, 36 % wünschen sich ein Kino und 44 % eine Erweiterung des gastronomischen Angebots (z. B. Heuriger oder Bar). Diese Einschätzungen verdeutlichen, dass trotz hoher Zufriedenheit mit der Lebensqualität noch Potenzial für den Ausbau von Freizeit- und Versorgungsangeboten besteht, um die Attraktivität des Quartiers weiter zu steigern.
Die vorliegenden Daten deuten darauf hin, dass die infrastrukturell zur Verfügung gestellten Erholungsmöglichkeiten in der Seestadt auf breite Zufriedenheit stoßen. 73,3 % der Befragten äußerten sich äußerst positiv gegenüber dem Grünflächen- und Spielplatzangebot. Die Bewertung der Nahversorgung fällt hingegen heterogen aus. So sind 62,8 % der Befragten mit den Geschäften für den täglichen Bedarf zufrieden, wohingegen 24,5 % Unzufriedenheit mit den verfügbaren Dienstleistungen äußern. Als besonders problematisch wird das Fehlen von Textilgeschäften (25,8 %) und Drogerien (20,1 %) kritisiert.
Die Analyse der Befragungsergebnisse zeigt, dass die Bewohner*innen die Seestadt Asperninsbesondere für ihre ruhige, stadtrandnahe Lage (99 Nennungen) sowie die ausgedehnten Frei- und Grünflächen (66 Nennungen) schätzen. Des Weiteren wird der künstlich angelegte See als identitätsstiftendes Element wahrgenommen und trägt maßgeblich zum Erholungswert der Umgebung bei. Darüber hinaus wird ein starker nachbarschaftlicher Zusammenhalt hervorgehoben, der sich in vielfältigen Vernetzungs- und Unterstützungsformen innerhalb der Bewohner*innenschaft manifestiert.
Den positiven Aspekten stehen jedoch auch verschiedene Kritikpunkte gegenüber. So wird etwa ein Mangel an Parkmöglichkeiten beklagt, der das alltägliche Mobilitätsverhalten erschwert (38 Nennungen). Ferner wird der fehlende Einzelhandel für spezifische Bedürfnisse – insbesondere in den Bereichen Textilien und Drogeriewaren – als Defizit benannt. Darüber hinaus äußern manche Befragte Sorge über eine fortschreitende Versiegelung verbliebener Freiflächen, die dem in den Planungsdokumenten propagierten Prinzip der Grünraumqualität teilweise entgegenzustehen scheint.
6.3 Im Fokus: Wegdistanzen und Mobilitätsoptionen der Seestädter*innen
Gemäß dem Leitbild der Seestadt Aspern konstituiert das Prinzip der „Stadt der kurzen Wege“ eine zentrale Zielsetzung. Eine Analyse der vorliegenden Befragungsergebnisse ergibt jedoch eine ambivalente Bilanz: 53,4 % der Alltagswege zur Deckung der Grundbedürfnisse werden innerhalb des Quartiers zurückgelegt. Unter diesen innerörtlichen Wegen dominieren Fußwege (43,1 %), gefolgt von öffentlichen Verkehrsmitteln (31,6 %). Der Anteil der Fahrten, die mit dem Auto absolviert werden, liegt bei 17,3 %.
Insbesondere für kürzere Distanzen von unter 500 Metern präferieren 84,6 Prozent der Befragten den Fußweg. Bei größeren Besorgungen, etwa im Donauzentrum, wird hingegen von 46,4 % der Befragten der Pkw genutzt. Für längere Strecken, insbesondere in andere Wiener Gemeindebezirke, wird die U-Bahn mit einem Anteil von 31,4 % als bevorzugtes Verkehrsmittel gewählt.
Die Resultate der durchgeführten Erhebung legen dar, dass ein signifikanter Anteil der befragten Bewohner*innen über Ressourcen für nachhaltige Mobilität verfügt. 88 % der Seestädter*innen in der Befragung besitzen eine Jahreskarte für den öffentlichen Verkehr, während 81,6 % ein eigenes Fahrrad nutzen. Darüber hinaus gewinnen kollaborative Mobilitätsformen, wie beispielsweise das Fahrrad-Sharing, zunehmend an Bedeutung. Rund 50 % der Befragten nutzen solche Angebote, insbesondere für kürzere Distanzen innerhalb des Quartiers.
6.4 Arbeitsmobilität als zentraler Treiber für „weite Wege“
Ein wesentlicher Faktor, der die konsequente Umsetzung des Konzepts der kurzen Wege hemmt, ist die limitierte Anzahl an verfügbaren Arbeitsplätzen innerhalb des Quartiers. In der Konsequenz sind zahlreiche Bewohner*innen gezwungen, täglich in andere Stadtteile zu pendeln. In Anbetracht dessen erlangt die gute Anbindung an das U-Bahn-Netz eine zentrale Bedeutung. Eine Intensivierung von Homeoffice-Modellen könnte einen wichtigen Beitrag zur Reduktion der Pendlerwege leisten. Neben den längeren Wegdistanzen zum Arbeitsplatz werden auch Textilgeschäfte, Einkaufszentren und Möbelhäuser als häufige Treiber für weite Wege genannt.
Die exemplarisch angeführten Ergebnisse demonstrieren die Stärke von „kurzen Wegen“ in der Seestadt, um eben nachhaltige Mobilitätsoptionen zu fördern. Es zeigt sich, dass 53,4 % der Alltagswege zur Deckung grundlegender Bedürfnisse innerhalb des Quartiers 10 zurückgelegt werden, wobei rund 43,1 % der Befragten diese Wege bevorzugt zu Fuß bewältigen, während 31,6 % öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Der Pkw wird von 17,3 % der Befragten als primäres Verkehrsmittel genutzt, während 8 % das Fahrrad einsetzen.
Diese Verteilung verdeutlicht einerseits die Relevanz fußläufiger Erreichbarkeit in der Seestadt, verweist jedoch andererseits darauf, dass trotz grundsätzlich guter infrastruktureller Voraussetzungen ein signifikanter Anteil der Bewohner*innen weiterhin auf motorisierten Individualverkehr zurückgreift. Als spezieller Treiber dafür ist die fehlende Nähe von Arbeitsplätzen zu nennen.
7. Fazit: Die Aspern Seestadt: Ein städtebaulicher Leuchtturm mit Entwicklungspotenzial
Die vorliegende Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass die Seestadt Aspern trotz ihrer insgesamt positiven Bewertungen hinsichtlich Infrastruktur und Lebensqualität – mit Stand 2020 – weiterhin Entwicklungspotenziale aufweist. Insbesondere lassen sich drei zentrale Handlungsfelder identifizieren, in denen durch gezielte Maßnahmen die Attraktivität des Quartiers nachhaltig gesteigert werden kann.
7.1 Erweiterung des Infrastrukturangebots – insbesondere für die Freizeit
Die Datenanalyse legt nahe, dass spezifische Einrichtungen, wie Textilgeschäfte, größere Einkaufszentren oder spezialisierte Freizeitangebote, derzeit nur unzureichend vorhanden sind. Insbesondere der Wunsch nach einem Schwimmbad, einem Kino sowie ergänzenden gastronomischen Angeboten (z. B. asiatische Restaurants, Pubs und Bars) wurde vielfach geäußert. Eine gezielte Ansiedlung der genannten Einrichtungen könnte demnach zu einer Steigerung der Attraktivität des Standorts sowie einer Stärkung der lokalen Bindung der Bewohner*innen führen.
7.2 Reduktion der Arbeitsmobilität – Neue Arbeitsplätzen & Homeoffice
Die begrenzte Anzahl an Arbeitsplätzen vor Ort bedingt, dass ein signifikanter Anteil der Beschäftigten nach wie vor längere Pendelstrecken zurücklegen muss. In der Konsequenz wird bei einem signifikanten Anteil der Seestädter Bevölkerung der Griff zum motorisierten Individualverkehr und somit zum gesteigerten Energieverbrauch evident. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, erscheint es sinnvoll, lokale Arbeitsmöglichkeiten zu fördern und gemäß „New Work“ Homeoffice-Angebote auszuweiten. Eine Reduktion des täglichen Pendler*innenverkehrs wäre demnach nicht nur im Sinne der Nachhaltigkeitsziele, sondern auch in Bezug auf die Lebensqualität im Quartier zu begrüßen.
7.3 Förderung sozialer und kultureller Angebote
Ein erheblicher Anteil der Bewohner*innen nimmt soziale und kulturelle Aktivitäten weiterhin außerhalb der Seestadt in Anspruch. Eine gezielte Stärkung lokaler Veranstaltungen, Begegnungsorte und Freizeitangebote könnte demnach nicht nur die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls im Quartier fördern, sondern auch eine Verringerung des motorisierten Verkehrs bewirken. Eine vermehrte Nutzung nachhaltiger Mobilitätsoptionen wäre eine unmittelbare Folge.
Langfristig ließe sich das Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“ durch die stärkere Integration von Arbeits-, Freizeit- und kollaborativen Mobilitätsangeboten weiter festigen. Empirische Studien, wie etwa das Stadtentwicklungsprogramm „Smarter Together“ im Wiener Stadtteil Simmering, demonstrieren, dass eine enge funktionale Vernetzung dieser Bereiche eine signifikante Wirkung auf das Mobilitätsverhalten sowie die Lebensqualität der Bewohner*innen ausübt.
8. Die Seestadt Aspern – Ein Erfolgsmodell mit Vorbildfunktion für andere Stadtentwicklungsprojekte in Europa
Die Seestadt Aspern zeichnet sich durch eine zukunftsorientierte Planung aus, in der nachhaltige Mobilität, eine durchdachte Mischung unterschiedlicher Nutzungen und eine hohe Lebensqualität miteinander verknüpft werden. Zugleich wird ersichtlich, dass eine kontinuierliche Beobachtung und Anpassung an soziale und ökonomische Veränderungen essenziell ist, um den Bedürfnissen einer modernen, heterogenen Bewohner*innenschaft gerecht zu werden. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der Infrastruktur und Mobilitätsangebote spielt dabei eine Schlüsselrolle, um eine fortwährende Anpassung an die Lebensrealitäten der Bewohner*innen zu gewährleisten.
Die gezielte Optimierung der Verzahnung von Verkehrs- und Freizeitangeboten, sozialer Infrastruktur und lokaler Wirtschaft lässt das Potenzial der Seestadt als lebenswerter und zugleich ressourcenschonender Stadtteil weiter ausschöpfen. Die Seestadt Aspern hat das Potenzial, ein inspirierendes Vorbild für ähnliche urbane Transformationsprozesse zu werden und zu demonstrieren, wie eine nachhaltige Wohn-, Arbeits- und Freizeitgestaltung in einem aufstrebenden Quartier erfolgreich umgesetzt werden kann.
Dieser Artikel beruht auf der Masterarbeit von Jeremias Jobst. Vgl. online unter: https://utheses.univie.ac.at/detail/57861 (letzter Zugriff: 01.06.2025).
JEREMIAS JOBST
ist Sozioökonom und Stadtsoziologe. In seinem berufsbegleitenden Doktoratsstudium an der JKU widmet er sich den sozioökonomischen Transformationsprozessen am Wohnungsmarkt in Wien. Er ist Teamleiter für Verkehrs-, Wohnungs- und Wirtschaftspolitik beim VÖWG. Weitere Informationen online unter: https://jku.academia.edu/JeremiasJobst. Kontakt: jeremias.jobst@voewg.at.
Literatur
Manderscheid, Katharina (2012): Mobilität, in: Eckardt, Frank (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 551–570.
Manderscheid, Katharina (2022): Soziologie der Mobilität, Bielefeld: transcript, online unter: https://www.utb.de/doi/epdf/10.36198/9783838555812 (letzter Zugriff: 01.06.2025).
Flade, Antje (2016): Verringerung der sozialen Kosten des Verkehrs, in: Schwedes, Oliver (Hg.): Handbuch Verkehrspolitik, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 473–494.
UNFCCC (2015): „Adoption of the Paris Agreement“. United Nations Framework Convention on Climate Change, online unter: https://unfccc.int/resource/docs/2015/cop21/eng/l09r01.pdf (letzter Zugriff: 01.06.2025).
Joos, Martina (2012): Wohnumfeldmobilität, in: Kemper, Franz-Josef (Hg.); Die Stadt der kurzen Wege. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 103–143.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Reckien, Diana et al. (2007): CO2-Emissionen und Mobilität im urbanen Raum, in: Klimawandel und Stadtentwicklung: 340–342.
Rink, Dieter/Banzhaf, Ellen (2011): Urbane Zersiedelung und Flächeninanspruchnahme, in: Stadtökologische Entwicklungen im 21. Jahrhundert: 447–450.
Drilling, Matthias/Schnur, Olaf (2012): Quartiere als Knotenpunkte nachhaltiger Stadtentwicklung, in: Stadtplanung und soziale Nachhaltigkeit: 5–10.
Kulke, Elmar (2012): Die Stadt der kurzen Wege: Mobilitätskonzepte im urbanen Raum. Studie zur Quartiersentwicklung in Berlin.
Stadt Wien (2015): Seestadt Aspern – Entwicklungsbericht. Magistratsabteilung für Stadtentwicklung: 10, vgl. online unter: https://www.wien.gv.at/stadtplanung/aspern-seestadt (letzter Zugriff: 01.06.2025).
Projekt „Smarter Together“ (Wien-Simmering): Stadtentwicklungsprogramm zur Förderung nachhaltiger Mobilität und Nutzungsmischung.
Wien 3420 Aspern Development AG (2014): Masterplan aspern Seestadt. Wien.