In seinem Beitrag untersucht WOLFGANG WEIN die Gefahren der aktuellen Wissenschaftsfeindlichkeit und bestimmt dabei die Argumentationsstrategien der Antiscience. Dabei steht die Selbstzerstörung westlicher Rationalität genauso zur Debatte wie die Tatsache, dass Wissenschaft nach wie vor eine überlegene Form der vernünftigen Weltdeutung darstellt.
I. Einleitung
Während in den Chatrooms des Internets der Krieg zwischen Impfgegner*innen und Befürworter*innen tobt und sich Argumente zunehmend auf unbelegte oder sogar gefälschte Daten und „Fakten“ stützen, bahnt sich eine weitere Radikalisierung an: nämlich Wissenschaft und Vernunft überhaupt zu bekämpfen. Es geht also nicht mehr darum, bizarre Theorien durch erfundene bzw. aus dem Zusammenhang gerissene Daten zu propagieren, sondern es erfolgt unter dem Titel Antiscience der Angriff ins geistige Zentrum der westlichen Kultur und auf ihre Rationalität.
In den asiatischen Ländern, welche ihren sensationellen Aufstieg der letzten 40 Jahre gerade durch Wissenschaft, Technik, Informatik, Ordnung und hohe Leistungsstandards errungen haben, schüttelt man verwundert die Köpfe und fragt sich: „Has the West lost it?“, wie der Bestseller von Kishore Mahbubani lautet.
Laut seriösen Umfragen glauben aktuell ca. 30 % der Deutschen an Verschwörungstheorien. In Österreich glauben laut einer repräsentativen Umfrage 45 % der Bevölkerung, dass man mit Wünschelruten Störungen auspendeln kann, 30 % von ihnen, dass Homöopathie gleich wirksam ist wie wissenschaftliche Medizin und 29 % der Bevölkerung, dass man sein Haus energetisch reinigen kann. Wen wundert es dann, dass sich etwa ein Drittel der Bevölkerung beharrlich weigert, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen und Impfungen generell in Frage stellt?
Viele fragen sich jetzt verblüfft: Wie ist so etwas im 21. Jahrhundert möglich? Dabei tritt die Antwort darauf klar zutage: Seit den 1980er-Jahren wurden irrationale Strömungen, mystische Medizin, asiatische „Weisheit“, „Denken aus dem Bauch“, sowie Technologie- und Wissenschaftsfeindlichkeit von zahlreichen Seiten und Medien eifrig hochgejubelt, schick und gesellschaftsfähig gemacht und noch schlimmer – mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auf eine Stufe gestellt.
II. Zur Erfolgsgeschichte der westlichen Rationalität
Aber gehen wir kurz zurück zum Anfang der Erfolgsgeschichte des Westens. Seit dem 16. Jahrhundert machten geniale Denker in Europa, teils unter großer Gefahr für ihr Leben, drei wichtige Entdeckungen: Erstens, dass es mithilfe von Mathematik und Geometrie gelingen kann, neues, sicheres Wissen zu erlangen. Von Galileo stammt der berühmte Satz: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben“. Zweitens entdeckte René Descartes, der Begründer der westlichen Philosophie der Moderne, des Rationalismus und der analytischen Geometrie sowie des Brechungsgesetzes des Lichts, dass sich die Mathematik mittels des „angeborenen Verstandes“ unter Verwendung eines „streng methodischen Vorgehens“ so auf physikalische Probleme anwenden ließ, dass man zuvor rätselhafte Vorgänge in der Natur evident erklären konnte. Und drittens vertraten englische Denker wie Francis Bacon und Thomas Hobbes die Auffassung, dass man alle neuen Ideen, Modelle und Theorien in „empirischen Versuchen“ und „Experimenten“ nachweisen müsse, um eben die Entwicklung hohler Scheintheorien und mystischer Luftschlösser zu verhindern. Von Hobbes stammt der berühmte Satz: „Die Vernunft ist der Schritt, die Mehrung der Wissenschaft der Weg und die Wohlfahrt der Menschheit das Ziel“. Schließlich entdeckte Immanuel Kant, dass man, auf die Vernunft basierend, ein gerechtes und aufklärerisches Moralsystem selbstbestimmter Individuen gründen kann und diese Gedanken, gemeinsam mit jenen etlicher berühmter französischer Denker, führten zur Deklaration der Menschenrechte vom August 1789.
Der universelle Erfolg der Vernunft, der Wissenschaften und die Wertschätzung von Intelligenz und Spitzenleistungen führte auf allen Gebieten zu dem phänomenalen kulturellen und wirtschaftlichen Aufstieg westlicher Demokratien. Dieser erfolgreiche Weg wurde eben genau gegen Aberglauben, irrationale Strömungen und mystische Naturmedizin beschritten. Das durchschnittliche Alter der Menschen betrug damals 30 Jahre und liegt heute nach dem Siegeszug der Wissenschaft bei 80 Jahren.
III. Der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus
Massiv unterbrochen wurde diese Entwicklung durch den Nationalsozialismus. Hier wurden Vernunft und Wissenschaft systematisch verdammt, während die „Vorsehung“ des Führers, das „Schicksal“, die Astrologie, asiatische Praktiken, die Homöopathie und eine Reihe abstruser physikalischer Lehren, wie die „Welteislehre“ und die „Hohlwelttheorie“ hoch im Kurs standen. Hermann Rauschning zitiert Hitler folgerichtig aus seinen Gesprächen:
„Wir stehen am Ende des Zeitalters der Vernunft. Der selbstherrlich gewordene Geist ist eine Krankheit des Lebens geworden. … Der Gedanke einer freien, voraussetzungslosen Wissenschaft konnte nur im Zeitalter des Liberalismus auftauchen. Er ist absurd.“ (Gespräche mit Hitler, Europa Verlag 1973: 210)
Besonders bekämpft wurde die Relativitätstheorie Albert Einsteins, welche in der eleganten Formel E=mc2 die Struktur unseres Kosmos beschrieb. Gegen diese „jüdische Physik“ versuchte man eben Konzepte wie die „Welteislehre“ geltend zu machen. Die Vertreibung der jüdischen Physiker hatte allerdings auch den Effekt, dass die Alliierten siegreich blieben. Wissen und Intelligenz kann man herabwürdigen und vertreiben. Man zahlt dafür aber einen Preis. Rauschning beschrieb die geistigen Unterläufe der NSDAP um 1933 so:
„Alle diese kleinen, verwachsenen Sehnsüchtigen, die keine rechte Erfüllung finden: Nacktkulturisten, Vegetarianer, Edengärtner, Impfgegner, Gottlose, Biosophen, Lebensreformer, die ihre Einfälle verabsolutieren und eine Religion aus ihrer Marotte machen, lassen heute ihre geheimen Wünsche in die vielen Gaszellen des Riesenluftballons der Partei einströmen … Für alle Zukurzgekommenen ist der Nationalsozialismus der Traum von großer Magie‘.“ (208f)
Diese Verbindung von Germanenkult, Esoterik und Wissenschaftsfeindlichkeit ist heute in Neonazi-Kreisen wieder sehr aktuell. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte wieder große Begeisterung für die Möglichkeiten der Wissenschaften und deren Ergebnisse, das Penicillin, die Mondlandung, die Concorde, erste Computer und immer bessere Autos verdeutlichten dies.
IV. Die Wende zur Unvernunft
Die große Wende zur Unvernunft fand dann allerdings in den 1980er-Jahren statt. Tiefere Ursache dieser umfassend geistigen und gesellschaftlichen Wende waren drei Entwicklungen: Erstens, der umfassende und vollständige Zusammenbruch des „realen Sozialismus“. Der Kampf gegen den Kapitalismus wurde nun im Westen unter neuen Vorzeichen fortgesetzt, weil dieser angeblich die Umwelt und den Menschen schädige. Bekämpft wurden nun „die (Pharma-)Konzerne“, die Technik, die „kalte“ Vernunft, das nur rationale Wissen. Für diese post-marxistische Ausrichtung waren vor allem Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mit ihrem Werk Die Dialektik der Aufklärung von zentraler Bedeutung. Ihre im Exil verfasste These, dass instrumentelle Vernunft die Natur schände und in der technischen Perfektion der Massenvernichtungslager des Nationalsozialismus diese instrumentelle Vernunft die Aufklärung selbst ad absurdum geführt habe, liegt der subtilen Technik- und Wissenschaftsskepsis zugrunde. Ihr Denkfehler ist, dass mit dem Nationalsozialismus in Wahrheit der Irrationalismus an der Macht war, welcher sich massiv der Technik bediente, um seine irrationalen und mystischen Ziele zu erreichen. Diese post-marxistischen Strömungen vermengten sich um 1980 mit den neuen Konzepten französischer Philosophen wie Foucault, Lyotard und Derrida und führten zu der als Postmoderne bezeichneten Mode, unter deren Einfluss unsere Epoche geistig noch immer steht.
Michel Foucault stellte alle gesellschaftlichen Institutionen unter den Generalverdacht der Machtausübung. Also ein Krankenhaus, ein Gefängnis, eine psychiatrische Klinik werden nicht als Einrichtungen betrachtet, welche so organisiert sind, dass sie einen bestimmten vernünftigen Zweck erfüllen, sondern es wird ausschließlich untersucht, inwiefern Macht ausgeübt wird. Und so kann man natürlich alle gesellschaftlichen Strukturen, welche aus einem guten Grund aufgebaut wurden in Frage stellen und damit natürlich auch jene, in denen wissenschaftlich gearbeitet und geforscht wird (Pink Floyd: „we don’t need no education, teacher leave them kids alone“).
Und wenn man diesen Verdacht immer weitertreibt, dann muss es ja auch Mächte hinter diesen Mächten geben und man landet am Ende bei Verschwörungstheorien, weil der Verdacht ja nie endet! Der gute Grund der Maßnahmen – etwa einen Patienten mit Herzinfarkt mittels Monitorings zu überwachen – wird zu einer suspekten Handlung, genauso, wie eine von Ärzten empfohlene Impfung nur als Machtdemonstration des Staats gedeutet wird.
Zweitens haben sich die Vorstöße von Paul Feyerabend vielleicht noch verheerender ausgewirkt. Feyerabend war ein Schüler Karl Poppers in London und ein hervorragender Experte der empiristischen Tradition, also einer den Wissenschaften sehr zugewandten Strömung, zu welcher auch der Wiener Kreis zählte. Aber Feyerabend erkannte grundlegende Probleme in diesen Philosophien – welche auch tatsächlich bestehen – aber er zog daraus nur den einen Schluss, dass sicheres Wissen und Wissenschaft prinzipiell nicht möglich sind. Er drückte dies mit dem Slogan aus: „anything goes“ und versuchte, mit „anarchistischer Freude“ in seinen Büchern zu zeigen, dass Galileo in Wahrheit mit seinem heliozentrischen Weltbild nicht richtiger lag als die Kirche mit dem geozentrischen Modell und dass die Behandlung eines Hexenheilers mit Voodoo-Methoden der eines Arztes völlig gleichzusetzen ist – „anything goes“. Dieser von Feyerabend initiierte Relativismus im Verein mit den postmodernen Ansätzen öffnete die Büchse der Pandora und eine Flut von Schriften erschien, in welchen Vernunft und Wissenschaft herabgewürdigt und alles Nichtvernünftige verherrlicht wurde z. B. Böhme/Böhme: Das Andere der Vernunft, 1983, oder Peter Sloterdijk: Die Kritik der zynischen Vernunft, 1983, u. v. a. m.
Drittens trat eine neue Strömung aus der Hippie-Kultur Kaliforniens auf, das New Age, in dem eine Wendezeit (Fritjof Capra, 1982) beschworen und mystische Bewusstheit mit Wissenschaft gleichgesetzt wurde. Gleichzeitig nahm man bestimmte ungelöste Probleme und Unschärfen in der Quantenphysik zum Anlass, mystisches Denken mit der Wissenschaft gleichzustellen (Fritjof Capra: Das Tao der Physik, 1987). Immer bessere, wissenschaftliche Medizin wurde nicht als Ziel, sondern als das Problem dargestellt und Die Nemesis der Medizin (1981) von Ivan Illich, eifrig in alternativen Lesezirkeln studiert.
V. Von Telepathie und Esoterik
Schließlich brachen alle Dämme und eine Flut populärwissenschaftlicher Schriften, Life-Style-Magazine, Wochenendbeilagen, Fernsehsendungen („Uri Geller“) propagierten völlig unwissenschaftliche Praktiken: Bach-Blüten-Therapie, Telepathie, Mondphasen, Homöopathie, Astrologie, Wiedergeburtslehren, Verherrlichung der Kulte und Praktiken der Entwicklungsländer, Kartenlegen, Körperkult, Pendeln, Feng Shui, Schutzkreise um Krankenhäuser etc., welche – und das ist entscheidend! – im alltäglichen Leben den wissenschaftlichen Methoden völlig gleichgestellt wurden. Während die wissenschaftlichen Methoden einem Haftungsanspruch unterliegen, werden die „alternativen“ und „komplementären“ Methoden kaum hart angefasst und überprüft, außer im Fall von Todesfällen bei „Heilern“ (Fall Hamer).
Esoterik-Shops sprieß(t)en allerorts und wer heute in einem Buchgeschäft im Abschnitt Philosophie sich umsieht, findet fast ausschließlich esoterische Machwerke: „Heile dich selbst“ und „Denken aus dem Bauch“. Auch Intelligenz wird heute generell nicht geschätzt und gegenüber einer sogenannten „emotionalen Intelligenz“ herabgewürdigt. Es ist wenig bekannt, dass Intelligenz gut messbar, zu 60% angeboren, in einer Glockenkurve in der Bevölkerung verteilt und in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich ausgeprägt ist. Die entscheidende Wichtigkeit der menschlichen Intelligenz wird bestritten, gegenüber Gefühlen herabgewürdigt und relativiert, – dann haben aber alle Angst vor der Artificial Intelligence – warum eigentlich, wenn Intelligenz so nutzlos ist?
VI. Bürger*innen zweier Welten
Das gesellschaftspolitische Problem besteht nun darin, dass wer unwissenschaftlichen und esoterischen Methoden ernsthaft anhängt (Nicht nur als schicke Bobo-Marotte, um sich auf Partys wichtig zu machen.), Bürger*in zweier Welten wird.
Auf der einen Seite, beim Starten des Autos, bei der Kontrolle des Bankkontos, beim Mobiltelefon oder im Beruf vertraut man den Gesetzen der Physik, der Chemie, der Informatik, aber beim eigenen Körper und in der Medizin lebt man in einem Paralleluniversum von Strahlen, Strömen, wandernden Seelen oder Schutzkreisen. Und in diesem Paralleluniversum lebt eben seit ca. 40 Jahren zunehmend ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung! Das bleibt so lange unbemerkt, solange die Wirtschaft gut läuft und keine Pandemie auftritt. Sobald sich das aber ändert – und die Corona-Pandemie ist ein klares Beispiel dafür – ist einem ein gutes Drittel der Bevölkerung geistig „abhanden“ gekommen! Und das hat großen Einfluss auf alles.
VII. Von Skeptiker*innen, Relativist*innen, New-Age-Gläubigen und Google-Expert*innen
Die Grundlage aller Wissenschaft ist die Rationalität, das heißt das vernünftige, logische Nachdenken über Fragen und Probleme, um sinnvolle Lösungen und neue, bessere Technologien zu entwickeln. Die zwei Grundpfeiler dieses vernünftigen Denkens sind Allgemeinheit und Notwendigkeit. Allgemeinheit bedeutet, dass man sich nicht am subjektiven Gefühl eines Stromschlags oder der Empfindung eines elektrischen Funkens orientiert, sondern durch beharrliches Nachdenken und Versuche allgemeine Maße und Gesetze formuliert wie Volt, Kilowattstunden oder z. B. das Ohm’sche Gesetz des Widerstands: R = U/I. Notwendigkeit bedeutet, dass die Fläche eines Kreises in der Ebene immer r2 π beträgt, ganz egal, wie genau der Kreis auf dem Papier oder der Tafel gezeichnet ist – die Formel hat universelle Geltung. Notwendigkeit drückt das logisch „Zwingende“ in den funktionalen Zusammenhängen einer Sache aus.
Aufgrund solcher Notwendigkeit funktionieren z. B. die Apps in Ihrem Smartphone. Genau diesen zwei Grundpfeilern der Wissenschaft gilt der Angriff der Postmodernen und Postmarxisten seit den 1980er-Jahren und der Neonazis. Die Wissenschaftsfeindlichkeit und Naturmystik der Nazis hat sich mit der Industrie- und Kapitalismusfeindlichkeit der Linken in einer gefährlichen, antidemokratischen Dynamik verbunden.
Hierbei gibt es vier Haupttypen: 1. Postmoderne Skeptiker*innen, 2. postmoderne Relativist*innen, 3. postmoderne New-Age-Gläubige und 4. selbstermächtigte Google-Expert*innen. Letztere sind ein neues Phänomen, weil diejenigen, die einen Suchbegriff in Google eintippen können, von der tiefen Überzeugung getragen sind, damit selbst Expert*innen aller Wissenschaften geworden zu sein.
Man gibt z. B. den Suchbegriff „Totimpfstoff“ in Google ein und sucht sich dann aus den ca. 180.000 Treffern etwas heraus, wo hingegen Virologen, Epidemiologen, Fachärzte, Mikrobiologen generell Ahnungslose sind, die sich selbst nicht auskennen und ohnehin nur von der Industrie bezahlt werden. Sie überheben sich immer mehr in anmaßender Weise selbst zu „Querdenkern“. Was alle vier Typen von „Querdenker“ gemeinsam haben ist, dass sie alles besser wissen, aber für den Fortschritt der Menschheit leisten sie genau nichts!
Wie erkennen Sie nun die Vertreter der vier genannten Richtungen? Machen Sie beim nächsten Tischgespräch mit Bekannten einfach folgenden Versuch: Äußern Sie Sorge, dass das Niveau des österreichischen Schulsystems mit seinen 5.300 Schulversuchen ständig absinkt und bekräftigen Sie diese Sorge mit den Ergebnissen der PISA-Studien, wonach die Ergebnisse für Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften in Österreich seit 2012 kontinuierlich absinken.
Sie werden nun folgende idealtypischen Antworten erhalten:
1. Der/die postmoderne Skeptiker*in: „Also der Sohn meiner Nachbarin ist mit seiner Schule sehr zufrieden.“ Es wird also ein einzelner Fall hervorgehoben, welcher erstens erfunden, zweitens aber ein Zufall sein kann und drittens kann die Zufriedenheit mit der Schule ja gerade darin liegen, dass man sich nicht anstrengen muss. Ein unüberprüfbarer Einzelfall („Singularität“) hat die Ergebnisse einer umfassenden Studie entwertet.
2. Der/die postmoderne Relativist*in: „Das mag schon so sein, aber es gibt doch so viele wichtige Dinge in der Entwicklung eines jungen Menschen, Mathematik und Naturwissenschaft sind nicht alles im Leben“. Es werden also die konkreten, besorgniserregenden Daten relativiert und damit beiseite gewischt.
3. Der/die postmoderne New-Age-Gläubige: „Viel wichtiger ist, dass die Kinder sich in die Seele der Bäume einfühlen können und das Sonnengebet im Yoga kennen.“ Wieder sind die Daten völlig egal.
4. Der/die selbstermächtigte Google-Experte/Expertin wird Ihnen in Sekundenschnelle kritische Berichte über die PISA-Studien aus dem iPhone zaubern, womit die Testergebnisse wiederum entwertet sind.
Was all diesen Einwänden grundsätzlich gemein ist, ist, dass sie das eigentliche Problem herabwürdigen und damit mögliche Korrekturen oder Verbesserungen verhindern. Vielleicht stimmen ja die Ergebnisse, und es wäre an der Zeit das Leistungsniveau der Schulen zumindest in die Nähe der bereits führenden asiatischen Länder zu bringen? Diese Handlungsoption geht aber verloren, wenn die vier beschriebenen Typen in einer Demokratie in der Überzahl sind. Immer wird das allgemeine und notwendige Argument durch den Einzelfall, die Relativierung oder den Wechsel der Bezugsebene zu Fall gebracht.
Die Impfdebatten zeigen, dass schon ein Drittel der Bevölkerung mit solch defizienten Denkmustern genügt, um die Gesellschaft zu lähmen und permanent im Kreis gehen zu lassen!
VIII. Warum die Wissenschaft überlegen ist
Was ist nun der Anspruch der Wissenschaft und warum ist sie all diesen Ansätzen grundsätzlich überlegen? Natürlich ist es beschämend, im 21. Jahrhundert und nach dem Siegeszug der Wissenschaften zum Wohle der Menschen in allen Bereichen, vor allem in der Medizin, diese heute verteidigen zu müssen. Aber die Geschehnisse der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus sind ein warnendes Beispiel, dass gesichert geglaubtes Wissen zugunsten völlig irrationaler, absurder und wissenschaftsfeindlicher Glaubensweisen und Verschwörungstheorien (damals „Dolchstoßlegende“) über Bord geworfen werden kann, wenn die Mehrheit der Wähler*innen letzteren verfällt.
Der erste große Unterschied besteht in der Herangehensweise der Wissenschaft. Die Haltung der grundsätzlichen Vorurteilsfreiheit ist für Wissenschaftler*innen verpflichtend. Eine Studie wird Testergebnisse liefern, sie können positiv oder negativ sein, aber diese muss man zur Kenntnis nehmen. Während also der Führer den richtigen Weg einfach weiß, der Eiferer alles sucht, was seinen Glauben stützt und die New-Age-Gläubige der Stimme ihres Bauchgefühls lauscht, so versuchen Forscher*innen eine möglichst vorurteilsfreie Haltung gegenüber den Daten und Fakten einzunehmen. Dies ist ein sehr wichtiger, oft unterschätzter Unterschied!
Das Kernstück der Wissenschaft ist jedoch ihre Methode. Diese beruht auf folgendem schematischen Ablauf: Es tritt ein Problem auf. Die richtig formulierte Frage ist, wie schon Platon darlegte, der Schlüssel zur Lösung des Problems. Ist die leitende Frage schlecht gestellt, ergibt sich auch keine gute Antwort. So kann man den Erscheinungen Blitz und Donner zwei Göttern zuweisen, aber einem intelligenten Menschen würde auffallen, dass der zeitliche Unterschied zwischen Blitz und Donner kleiner wird, je näher das Gewitter kommt und konstant größer, je weiter das Gewitter sich entfernt. Das ließe die Frage entstehen, ob es sich nicht in Wahrheit um nur ein einziges Geschehen handelt, bei dem sich sichtbarer und hörbarer Effekt zeitlich unterscheiden usw.
Aus solchen Fragestellungen wird dann eine Hypothese formuliert, eine wissensgeleitete Vermutung. Glaubt man jedoch an Blitz- und Donnergott, dann tritt diese entscheidende Frage gar nicht auf, man bleibt in der mythischen Welt gefangen. Entscheidend ist nun der nächste Schritt, das Experiment, die Studie. Relativ einfach ist dies in der Physik, wenn man mit soliden Materialien (z. B. den unterschiedlich großen Metallkugeln Galileos) leicht wiederholbare Versuche durchführen kann. Besonders schwierig ist dies dort, wo es sich um sehr komplexe oder schwer zugängliche Bereiche handelt. Aus diesem Grund sind die Angriffe der Antiscience-Bewegung dort fokussiert, wo solche Bedingungen herrschen, also in der Teilchenphysik und in der Medizin.
IX. Von der Medizin
Ich konzentriere mich nun auf den Bereich der medizinischen Forschung, weil dies heute ein besonders umkämpftes Feld darstellt. Das Problem besteht darin, dass jeder Mensch individuell geistig-körperlich von den anderen verschieden ist, die biochemischen Grundfunktionen gleichzeitig bei jedem Menschen jedoch weitgehend ident sind. Menschen empfinden subjektiv Therapien unterschiedlich, z. B. bei Schmerzen, dennoch benötigt man allgemein anwendbare diagnostische Verfahren, Operationstechniken und Medikamente. (Diese sind heute zwar noch nicht individualisiert angepasst, doch in der Krebstherapie beginnt dies gegenwärtig.) Hier kommt uns nun die Statistik entscheidend zur Hilfe, denn man kann biologische Phänomene in Verteilungskurven überführen, durch welche man einen sehr verlässlichen Zugriff auf alle biologischen Phänomene erhält.
Bei den klinischen Studien kommt es vor allem auf die Auswahl und den Vergleich optimal zufallsverteilter Stichproben an. Um dies zu erreichen, ist es essenziell, alle möglichen Störfaktoren auszuschließen, welche das Ergebnis verzerren können. Einen systematischen Störfaktor nennt man „Bias“ und einen solchen gilt es, um eben möglichst objektiv sein zu können, unter allen Umständen zu vermeiden. Ein Bias liegt z. B. vor, wenn man eine Studie in einem Gebiet durchführt, wo eine bestimmte Grunderkrankung vorherrscht und dadurch das eine Medikament schlechter abschneidet als die Vergleichssubstanz. Dadurch wird das Ergebnis verzerrt. Die zweite Form einer systematischen Verzerrung, ist der „Confounder“. Dieser schleicht sich eher bei epidemiologischen Studien ein. Dabei wird ein beobachteter Zusammenhang bei der Zielvariablen als kausal gedeutet, obwohl der Zusammenhang durch einen zweiten, nicht-kausalen verursacht wird. Eine Studie könnte z. B. finden, dass Menschen die viel Vitamin C nehmen, häufiger an Muskelverletzungen leiden. Dies liegt aber nicht kausal am Vitamin C, sondern daran, dass diese Menschen eventuell auch mehr Fitness betreiben und sich dabei häufiger verletzen.
Besonders viel Verwirrung richten solche Confounder in den gegenwärtigen Impfdebatten an, weil ständig Äpfel mit Birnen verglichen werden und die selbstermächtigten Google-Expert*innen, den Confounder in den Daten nicht bemerken und die zugrundeliegende Statistik nicht verstehen.
X. Von Falsifikationen und Paradigmen bei Karl Popper, Ernst Cassirer und Thomas Kuhn
Das Grundprinzip der Versuche und Studien richtet sich heute nach der Wissenschaftstheorie Karl Poppers, welcher 1937 aus Österreich emigrierte. Popper schlug im Gegensatz zum Wiener Kreis vor, dass die Experimente bzw. Studien nicht zu einer Verifizierung (dem beweisenden Nachweis, dass etwas richtig ist), sondern nur zur Falsifizierung eines Sachverhaltes führen können. Popper meint also, dass wir – im Gegensatz zum Führer, zum Eingeweihten und zu den selbstermächtigten Google-Expert*innen – uns nie 100 % sicher sein können, dass ein gefundenes Ergebnis nicht doch irgendwann als unrichtig erkannt werden wird (falsifiziert). Die Wissenschaft geht, im Gegensatz zum weitverbreiteten Vorurteil nicht von einem autoritären und unverrückbaren „Schulwissen“ aus, sondern räumt ganz im Gegenteil die Möglichkeit von Irrtümern bewusst ein! Aus diesem Grund ist der Prüfplan einer Studie wie eine doppelte Verneinung angelegt: vergleicht man die Wirkung eines neuen Medikaments mit einem alten, dann ist die Versuchsannahme, dass zwischen beiden kein Unterschied besteht. Und genau diese Annahme versucht man dann zu falsifizieren, also als falsch zu erweisen. Wenn es also falsch ist, dass kein Unterschied besteht – dann besteht eben einer und das Ausmaß und die Sicherheit des Ergebnisses wird statistisch quantifiziert. Eine Hypothese gilt so lange als bewährt, solange sie nicht durch neue Daten falsifiziert wird. Doch selbst hier wird eine Fehlermöglichkeit von bis zu 5 % eingeräumt. Die Wissenschaft ist also ergebnisoffen, kann aber in einem Bereich von 95 % relativ sichere und beständige Ergebnisse liefern. Auch wenn vieles an Poppers Theorie später korrigiert oder verworfen werden musste, so bleibt dieser essenzielle Gedanke der kritischen, ergebnisoffenen Erfahrung bestehen, welcher ja schon jener Immanuel Kants war. Damit ist man sehr gut gefahren und hat all das erfunden und hergestellt, was Skeptiker*innen, Relativist*innen und New-Age-Adept*innen gerne verwenden: iPhones, Computer, Autos, Uhren, Flugzeuge, Haushaltsgeräte, Veganes zu allen Jahreszeiten.
Durch die kontinuierliche, methodische Arbeit der Wissenschaft entsteht allmählich eine Ordnung, welche sich in Klassifikationen, wie z. B. der Tafel der Elemente, ausdrückt und durch welche das Gebäude der Wissenschaft ständig robuster und umfassender wird. Den Feinden der Vernunft ist diese intelligente Ordnung ein Gräuel und deshalb verwenden sie jedes noch ungelöste Problem und jede vorübergehende Kontroverse als Hebel, um das Gebäude ins Wanken zu bringen und dann in einem Zug gleich den Reichstag zu stürmen, um zu „alter Weisheit“ und zur „Vorsehung“ des Führers zurückzukehren.
Der wissenschaftliche Forschungsprozess ist nicht das Werk menschenfeindlicher, mathematikbesessener, kalter Technokrat*innen, sondern ein hochkreativer, imaginativer und emotional fordernder Prozess, wie man den Biografien berühmter Forscher*innen unschwer entnehmen kann. Neues Wissen entsteht auch durch neue Interpretationen und Perspektiven und so sind grundlegende Einsichten auch durch eine radikale „Drehwendung“ etablierter Sichtweisen zustande gekommen, durch einen Paradigmenwechsel, worauf Ernst Cassirer und später Thomas Kuhn hingewiesen haben!
Ein letzter Punkt noch zur Publikation und Kommunikation von Studiendaten. Hier kann es zu Missinterpretationen durch Sensationshascherei und ungenaue Berichte kommen. Gegenwärtig hat man die festgelegten Regeln des Wissenschaftsbetriebs bewusst außer Kraft gesetzt, um so schnell wie möglich die neuesten Erfahrungen mit Corona-Therapien zu teilen. Dabei gelangen auch Daten an die Öffentlichkeit, welche nicht durch den vorgeschriebenen Review durch ein Editorial Board der wissenschaftlichen Journale gingen und oft aus kleinen, unkontrollierten Studien stammten. Solche Publikationen führen teilweise zu Kontroversen, welche Wasser auf die Mühlen der Antiscience-Bewegung sind. Dennoch wurden hochwirksame Impfungen statt wie früher in zehn, in nur einem Jahr entwickelt! Wissenschaft lernt eben kontinuierlich dazu, lernt aus Fehlern.
XI. Conclusio
Die aktuellen Angriffe auf die Wissenschaft – Antiscience – welche mit den Feindseligkeiten gegen die Medizin, die Ärzt*innen und die Pharmaindustrie begannen, werden jetzt auf die gesamte Wissenschaft ausgeweitet. Es ist Teil einer Strategie, die liberalen westlichen Demokratien zu schwächen, und die Basis der Aufklärung und der demokratischen Gesellschaft, nämlich die allgemein verständliche, transparente und auf Beweisen basierende Wahrheitsfindung und das vernünftige miteinander Diskutieren, durch Polarisieren, Fake-News, ständiges Bekritteln von allem und jedem, überhebliche Besserwisserei, Schwarz-Weiß-Denken, aggressive Diffamierung und letztlich Gewalt zu ersetzen. Aber wie schon Abraham Lincoln sagte: „You can fool all the people some of the time and some of the people all the time, but you cannot fool all the people all the time.“
WOLFGANG WEIN
ist Arzt und promovierte auch in Philosophie. Bisher erschienen: Das Irrationale – Entstehungsgeschichte und Bedeutung einer zentralen philosophischen Kategorie (1997), Angst und Vernunft (2017), Visual Turn – Platon – Descartes – Kant – Cassirer. Die Wende von Empirismus, Analytischer Philosophie und Naturalismus zu einem modernen, rationalistischen Neukantianismus (2018). Träger des Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse. Vgl. auch die Internetseite online unter: https://www.kant-cassirer-neukantianismus.eu/.
Editorische Notiz
Die Redaktion der ZUKUNFT dankt der Illustrierten Neuen Welt und dabei insbesondere Frau Dr.in Joanna Nittenberg herzlichst für die Erlaubnis, diesen Beitrag von Wolfgang Wein aus der Ausgabe 04/2021 (Teil 1) und 01/2022 (Teil 2) der INW wiederveröffentlichen zu dürfen. Auf Wunsch des Autors, dem wir ebenfalls zu Dank verpflichtet sind, wurde auf eine Anpassung an den Zitierstil der ZUKUNFT verzichtet.
Teil 1 auch in der Online-Ausgabe 04/2021 der INW unter: https://www.neuewelt.at/fileadmin/user_upload/4_21.pdf
Teil 2 auch auch in der Online-Ausgabe 01/2022 der INW unter: https://www.neuewelt.at/fileadmin/user_upload/1_2022.pdf
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