„Uns muss jedes Kind gleich viel wert sein …“. Interview mit Gerhard Schmid VON GERHARD SCHMID

Die Redaktion der ZUKUNFT hat GERHARD SCHMID, den Bundesbildungsvorsitzenden der SPÖ, anlässlich unserer Themenausgabe 100 Jahre Bildung für Wien um ein Interview gebeten, in dem auch er das Rote Wien aktualisiert, indem er unter anderem betont, dass der Klassenkampf in unseren Schulklassen beginnt.

Alessandro Barberi: Lieber Gerhard, die österreichische Sozialdemokratie erinnert nach etwa 100 Jahren auf verschiedenen Ebenen an die Bildungspolitik des Roten Wien. Was bleibt von der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Bildungspolitik, die etwa mit dem Namen Otto Glöckel verbunden ist?

Gerhard Schmid: Von Otto Glöckel nehmen wir mit, dass im Mittelpunkt aller pädagogischen Bestrebungen das Kind bzw. die Jugendlichen stehen müssen. Wir nehmen auch mit, dass die modernsten pädagogischen und psychologischen Errungenschaften in den pädagogischen Alltag einzubauen sind, immer vor dem Hintergrund, Bildungsbarrieren abzubauen und die Chancengleichheit unabhängig vom sozialen Status der Eltern zu verwirklichen.

A. B.: Mit dem Wiener Karl-Marx-Hof fand in Wien auch die große Tradition des Austromarxismus ihren architektonischen Niederschlag. Was bleibt aus Deiner Sicht und im Blick auf die sozialdemokratische Bildungspolitik der Gegenwart von Denkern wie Rudolf Hilferding oder Max Adler?

Gerhard Schmid © Alexander Müller

G. S.: Das Wichtige in der Pädagogik Otto Glöckels und die Prinzipien von Rudolf Hilferding, Max Adler oder Otto Bauer und ihrer Mitstreiter*innen, die zu ihrer Zeit die bedeutendsten Theoretiker*innen ihrer wissenschaftlichen Disziplinen waren, ist, dass im Hintergrund ihrer Handlungen eine ideologische Programmatik stand, deren Ziel es schon damals war, Bildungsbarrieren abzubauen und dem Grundsatz der klassenlosen Gesellschaft zu entsprechen. Der „Neue Mensch“ sollte ja gerade durch Bildung hergestellt werden. Heute können wir derartiges nur anstreben und erreichen, wenn wir Bildungssackgassen öffnen und der Reproduktion von Bildungschancen entgegenwirken (damit sich z. B. Familien von Akademiker:innen hinsichtlich der Bildungstitel nicht nur selbst reproduzieren). Es ist sehr wichtig, ein breites Angebot an Bildungsmöglichkeiten entlang der Vielfalt von Begabungen zu schaffen und gleichzeitig die sozialen Unterschiede durch entsprechende Investitionen in das Bildungssystem auszugleichen. Die Entwicklung eines Kindes und eines Jugendlichen darf nicht von der sozialen Stellung und Ausbildung der Eltern abhängig sein. Nur eine gleiche Bildung ist auch die beste Bildung für unsere Kinder und Jugendlichen.

A. B.: Du meinst also auch, dass unser Bildungssystem soziale Klassenunterschiede in unseren Schulklassen nach wie vor auf das Härteste reproduziert?

G. S.: Viele Studien zeigen, dass der Reproduktionsfaktor in Bildungskarrieren sehr hoch ist. Haben die Eltern Matura, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder Matura haben, eine sehr große. Und das überträgt sich natürlich auf Studien- und andere Bildungsabschlüsse. Daher ist es wichtig, diese Klassenunterschiede auszugleichen, und zwar erstens durch eine Verdichtung der Angebote, zweitens durch den Abbau von Bildungsbarrieren und drittens durch begleitende soziale Stützmaßnahmen. Mit der Einführung der Berufsreifeprüfung, die sich vor allem an die Absolvent*innen des dualen Ausbildungssystems richtet, ist ein guter Schritt in die richtige Richtung gemacht worden.

A. B.: Wo siehst Du die größten bildungspolitischen Herausforderungen für Wien, aber auch für ganz Österreich?

G. S.: Eine der großen Herausforderungen für die Bildungspolitik – vor allem in den urbanen Ballungsräumen, also vor allem in Wien – sind die Folgen der Migration. Das betrifft vor allem die Probleme, die mit der Sprachkompetenz verbunden sind. Hier muss massiv in kleine Klassen und Gruppenformen investiert werden und das ist mit Kosten verbunden. Diese Aufwendungen sind entsprechend sicherzustellen. Denn nur wenn wir uns in konzentrierter und guter Form um jedes einzelne Kind und jeden einzelnen Jugendlichen kümmern können, wird es möglich sein, diese großen Herausforderungen zu meistern. In diesem Zusammenhang dürfen auch die soziale Situation und Umgebung der Kinder und Jugendlichen und andere Bereiche wie Wohnen und Gesundheit nicht außer Acht gelassen werden. Schule ist niemals von den gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen losgelöst, also auch nicht isoliert zu betrachten! Das wurde gerade angesichts der Pandemie im Rahmen des Homeschoolings deutlich. Die technologische Ausstattung, also die Hardware der Unterrichtsmittel, ist ein großes Thema und hier sind massive Investitionen notwendig, um auch im Bereich der Technologien gleiche Voraussetzungen für alle zu schaffen.

A. B.: Die Sozialdemokratie fordert seit jeher – und auch das seit Otto Glöckel – Gesamtschulen und Ganztagsschulen im Sinne der Bildungsgleichheit und stößt dabei immer wieder auf konservative und reaktionäre Widerstände, die ein selektives und elitäres Bildungssystem erhalten wollen. Wie könnte aus Deiner Sicht dieser immer wiederkehrende Zirkel durchbrochen werden?

G. S.: Bei den Ganztagsschulen sind wir ein gutes Stück weitergekommen und können das auch mit dem modernen pädagogischen Konzept der verschränkten Ganztagsschule verbinden, so dass auch am Nachmittag – nach entsprechenden Ausgleichsphasen – unterrichtet wird. Hinsichtlich der Gesamtschule ist die Ausgangslage nach wie vor klar und unmissverständlich. Die Trennung der Bildungswege in Österreich ist auch im internationalen Vergleich zu früh und alle entwicklungspsychologischen und vergleichenden Studien in diesem Zusammenhang zeigen das eindeutig. Leider ist es uns noch immer nicht gelungen, eine breite Mehrheit in der Bevölkerung zu gewinnen. In den urbanen Räumen hat sich aber eine Entwicklung in Richtung AHS ergeben. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dieses bildungspolitische Ziel nach wie vor auf der Agenda der Sozialdemokratie stehen muss und es für uns wichtig ist, auch im gesamten gesellschaftspolitischen Spektrum Bündnispartner*innen zu gewinnen.

Gerhard Schmid © Alexander Müller

A. B.: Du setzt Dich als Pädagoge in allen Wortbedeutungen für ein soziales und demokratisches Bildungssystem ein. Warum schafft es die SPÖ dann z. B. nicht – in Erinnerung an Hertha Firnberg – die durch den Bolognaprozess abgeschaffte studentische Mitsprache wieder zum Thema zu machen (und in der Folge auch umzusetzen)? Wie stehst Du mithin zum Gedanken der Drittelparität auf allen Ebenen des Bildungssystems?

G. S.: Die Demokratisierung der Bildungsprozesse ist uns vor allem im tertiären Bereich ein ganz wichtiges Anliegen. Mit dem Schulunterrichtsgesetz von 1974 unter der Ägide von Fred Sinowatz ist es uns gelungen, ein höheres Maß an Demokratisierung auch in die schulischen Prozesse zu bringen. Hertha Firnberg hat es geschafft, eine Demokratisierung der Hochschulen und Universitäten voranzubringen. Unter konservativer Bildungspolitik hat es auch hier deutliche Rückschritte gegeben. Sozialdemokrat*innen müssen dieses Ziel selbstverständlich weiterhin mit großer Leidenschaft und Energie verfolgen. Und es ist wichtig, auch den Mittelbau an den Universitäten und Hochschulen wieder zu stärken. Und sollte die Sozialdemokratie in diesem Bereich wieder Verantwortung übernehmen, so muss die Demokratisierung des Bildungssystems eine der prioritären Zielsetzungen sein.

Ein weiteres Themenfeld, mit dem wir uns auch nachdrücklich zu beschäftigen haben, sind die massiven Privatisierungstendenzen im tertiären Bildungsbereich. Hier verschieben sich gerade die Strukturen und wir haben dafür zu sorgen, brutale Exklusion und Elitenbildung zu verhindern.

A. B.: Welche pädagogischen Modelle stehen dem Lehrenden Gerhard Schmid vor Augen, wenn er Bildungspolitik betreibt? Denkst Du dabei etwa an ein Unterrichten „auf gleicher Augenhöhe“ oder an Selbstermächtigung und Partizipation?

G. S.: Natürlich ist Unterrichten auf Augenhöhe etwas Wichtiges, aber ganz zentral ist die Vermittlung des emanzipatorischen Ansatzes. Demokratiebildung, politische Bildung und auch Fragen der Ethik müssen einen zentralen Raum in Lern- und Bildungsprozessen einnehmen. Auch im Sinne des seinerzeit von Fred Sinowatz entwickelten Grundsatzerlasses der politischen Bildung ist es wichtig, junge Menschen zu aufrechten Demokrat*innen und aktiven Staatsbürger*innen zu erziehen bzw. sie mit jenen Instrumenten und Werkzeugen auszustatten, die ihnen Mitsprache und Partizipation erst ermöglichen.

A. B.: Eine Frage nach Deinem eigenen Bildungsweg: Wie hat sich Dein Studium der Pädagogik oder auch Deine Lehrtätigkeit an der PH Wien und der Universität Wien auf Deine Bildungspolitik ausgewirkt?

G. S.: Das Studium der Pädagogik an der Universität hat sicher viele interessante Aspekte aufgezeigt, war aber doch sehr theoretisch angelegt. Hier war das Studium der Pädagogik an der Berufspädagogischen Akademie von großer Bedeutung, weil die Anwendung pädagogischer Modelle und deren praktische Umsetzung im Mittelpunkt standen. Aber grundsätzlich ist es wichtig, in Lehrer*innenbildung und -ausbildung, aber auch in Fortbildung zu investieren. Dabei ist in Österreich vor allem der Bereich der europäischen Bildung zu kurz gekommen. Hier haben wir wie bei der politischen Bildung insgesamt großen Nachholbedarf und es waren vor allem konservative Regierungen, die Fortschritte massiv gebremst haben. Es wurde diesbezüglich wenig in Lehrer*innenbildung und Unterrichtsmaterialien, also etwa gute Schulbücher, investiert.

A. B.: Welche Auswirkungen hat der Digitale Humanismus auf das Bildungssystem und wie können wir humanistische Werte im digitalen Zeitalter unmittelbar und zwischenmenschlich leben?

G. S.: Der Digitale Humanismus ist heute ein unabdingbares Element von Lern- und Bildungsprozessen. Wir leben in einer digitalisierten Zeit, das zu leugnen bzw. wegzudiskutieren ist sinnlos. Wir müssen auch hier darauf achten, dass alle die gleichen Chancen vorfinden, die gleichen Zugänge, die gleiche Grundbildung. Natürlich müssen auch alle die technologische Möglichkeit haben, die entsprechende Hardware einzusetzen, denn auch hier offenbaren sich große soziale Unterschiede wie mit dem Begriff Digital Divide eingehend diskutiert wurde. Die Aufgabe der Sozialdemokratie muss es also sein, diese sozialen Unterschiede auch in der Bereitstellung der entsprechenden technologischen Möglichkeiten auszugleichen. Uns muss jedes Kind gleich viel wert sein und es ist notwendig, auch entsprechend zu investieren. Dabei müssen wir die digitale Entwicklung immer mit den Grundsätzen des Humanismus in Verbindung bringen, denn im Sinne eines humanistischen Bildungsideals ist es wichtig, die modernen Formen der Digitalisierung auch im Sinne der Menschen, für die Emanzipation der Menschen, aber auch für ihre soziale Sicherheit einzusetzen.

Gerhard Schmid © Alexander Müller

A. B.: Wie denkst Du, wird sich die Wiener Bildungslandschaft 100 Jahre nach dem Roten Wien auf dem Weg in die ZUKUNFT entwickeln?

G. S.: Die Wiener Bildungslandschaft wird auch in 100 Jahren eng mit der Entwicklung dieser Stadt in Verbindung stehen müssen, wenn wir den international anerkannten Status, eine der lebenswertesten Städte der Welt zu sein, erhalten wollen. Wenn wir diesen Ruf beibehalten wollen, dann müssen wir vor allem ins Bildungssystem investieren, in den Schulausbau, in die Ausstattung und in die Hardware. Wir müssen auch politisch Druck auf den Bund ausüben, damit die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden bzw. auch Lehrer*innen über eine bestmögliche Ausbildung verfügen. Die Werte eines Otto Glöckel, untrennbar mit den sozialdemokratischen Grundprinzipien verbunden, haben in den letzten 100 Jahren, bzw. in den demokratischen Jahren davon, neue Akzentuierungen erfahren und wurden im Sinne der jeweiligen Zeit angepasst. In ihren wesentlichen und fundamentalen Zügen sind sie aber unverändert geblieben und das sollten wir auch im Rahmen der nächsten 100 Jahre in Erinnerung rufen und behalten.

GERHARD SCHMID ist ehemaliger SPÖ-Bundesgeschäftsführer und Bundesbildungsvorsitzender der SPÖ. Er ist Bezirksparteivorsitzender in Hietzing, Mitglied des Wiener Gemeinderates und Landtags sowie Hochschulprofessor an der Pädagogischen Hochschule des Bundes in Wien.

ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg, Wien und St. Pölten. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion Wildganshof (Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/.