Renaissance der Großmachtpolitik. Neoimperialistische Politik im multipolaren System VON RAPHAEL SPÖTTA

Was bedeuten Neokolonialismus und Neoimperialismus heute? Wie steht diese Politik in der Praxis in Zusammenhang mit Großmachtpolitik und Interessensdurchsetzung? Der Leiter der Projektgruppe Sicherheitspolitik der Jungen Generation in der SPÖ, RAPHAEL SPÖTTA, diskutiert in dieser Ausgabe der ZUKUNFT aktuelle Entwicklungen in diesem Bereich und politische Ansätze verschiedener Staaten in Europa.

I. Einleitung

Im Wiener Weltmuseum, inmitten des imperialen Ambientes des ersten Wiener Gemeindebezirks, gibt es eine Dauerausstellung, in der die Rolle Österreich-Ungarns im kolonialen System kritisch reflektiert wird. Im Zentrum dieser Ausstellung: die berühmte „Federkrone von Moctezuma“, bei der es sich um einen farbenprächtigen Kopfschmuck eines aztekischen Priesters handeln soll. Eine Verbindung zum vorletzten aztekischen König Motecuzoma Xocoyotzin ist wahrscheinlich nicht gegeben. Dennoch ist die Federkrone Anlass für diplomatische Verstimmungen zwischen Mexiko und Österreich. Mexiko fordert bereits seit Jahren die Rückgabe des Artefakts von Österreich. Bislang weigert sich Österreich mit Verweis auf die fehlende Transportfähigkeit der Federkrone.

Die Federkrone ist eine der wenigen kolonialistischen Altlasten, die die Republik Österreich von der Habsburgermonarchie geerbt hat – konkret über die spanische Linie des Hauses Habsburg. Das Artefakt wurde Ende des 16. Jahrhunderts auf Schloss Ambras als Teil einer Kuriositätensammlung katalogisiert. Die Federkrone ist eine Erinnerung an die koloniale Vergangenheit Europas per se. In Österreich selbst muss man nach Spuren des Kolonialismus suchen – sieht man von einer Interpretation der Herrschaft über die ehemaligen Kronländer in Osteuropa als „Kolonialherrschaft“ ab. Der europäische Kolonialismus hatte für einige hundert Jahre System und ist erst seit den 1960er-Jahren offiziell zu Ende.

Inoffiziell allerdings besteht nach wie vor ein oftmals kolonialistisch verstandenes Verhältnis zwischen ehemaligen „Kolonien“ und Europa. Das beginnt bei der ersten neuzeitlichen Welle des Kolonialismus in Lateinamerika, wie anhand des Streits über die Rückgabe der Federkrone ersichtlich wird, bis hin zu wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeitsverhältnissen afrikanischer Staaten, die auf das 19. und 20. Jahrhundert zurückgehen. Manche würden argumentieren, dass der Kolonialismus selbst eigentlich nie wirklich geendet hat – insofern könne auch nicht von einem „Neokolonialismus“ gesprochen werden. Gleichzeitig ist die heutige Politik nicht mit der grausamen Unterdrückung in Amerika und Afrika in der Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert zu vergleichen (Ziai 2012). Und doch scheint es so, als hätten manche europäischen Staaten den Gedanken der Einflussnahme in ehemaligen „Kolonien“ nicht aufgegeben.

Doch nicht nur das. Auch Staaten wie die Russische Föderation oder auch die Türkei betreiben eine vergleichbare Politik der offenen Einflussnahme, einschließlich des Mittels der militärischen Gewalt. Während die Großmachtpolitik europäischer Staaten, die neokolonialistische oder auch neoimperialistische Politik in den letzten Jahrzehnten nicht immer sichtbar war, kehrt sie in den vergangenen Jahren immer stärker, immer offener und auch immer dreister zurück in den Vordergrund.

II. „Und plötzlich sind wir in Afrika“

November 2017 erklärte der damals frischgebackene französische Präsident Emmanuel Macron in einer Rede vor Student*innen in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos, dass Frankreich unzerstörbare Bindungen mit dem afrikanischen Kontinent habe. Afrika sei ein Teil von Frankreichs Erinnerung, seiner Kultur, seiner Geschichte und seiner Identität – eine Stärke, die Macron kultivieren und als Asset in die Beziehungen zwischen Frankreich und Afrika einbringen wolle (vgl. Cohen 2022). Dass der afrikanische Kontinent zentral für die französische Außen- und Sicherheitspolitik ist, war bereits vor 2017 evident. Paris unterhält mit einer Vielzahl an afrikanischen Hauptstädten beste Beziehungen, insbesondere mit den dortigen Machthaber*innen, vertritt wirtschaftliche, finanzielle und politische Interessen– und trägt diese Beziehungen auch auf die europäische Ebene.

Im Jahr 2015 wurde dies besonders deutlich. Frankreich, durch sein militärisches Engagement im Nahen Osten und im Sahel exponiert und damit ein attraktives Ziel für islamistisch motivierte Attentate, wurde am 13. November 2015 zum Ziel eines Terroranschlags durch Islamisten des sogenannten „Islamischen Staates“, bei dem insgesamt 130 Menschen getötet und 683 weitere zum Teil schwer verletzt wurden. Dieser Terroranschlag hat in der Europäischen Union eine Welle der Solidarität mit Frankreich ausgelöst. Als erster Staat überhaupt berief sich Frankreich auf den Artikel 42 (7) des Vertrags der Europäischen Union – die Beistandsklausel. Der damalige französische Staatspräsident François Hollande verstand diesen Schritt vor allem politisch, mit dem Ziel, die europäischen Partner*innen aufzurütteln, was die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus betrifft.

Spätestens mit 2015 wurde Frankreich zu einem der hauptsächlichen Treiber der GSVP, der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Dies liegt einerseits an der Unterstützung, die Frankreich durch seine europäischen Partner*innen zuteilwurde – und daran, dass es davon überzeugt ist, dass es nur gemeinsam mit den anderen europäischen Staaten gelingen wird, eine französische Großmachtstellung zu erhalten oder wiederzuerlangen. Frankreichs Ziel im Rahmen der GSVP ist also die Durchsetzung seiner eigenen Interessen. Der ehemalige österreichische Diplomat Stefan Lehne drückte es folgendermaßen aus: „Frankreich will genuin ‚mehr Europa‘, aber nur, falls das nicht ‚weniger Frankreich‘ bedeutet.“ (vgl. Lehne 2012: 13) Infolgedessen vertritt Europa bisweilen stark französisch geprägte Positionen – und diese konzentrieren sich auf den französischen Einfluss in Afrika. Das führt zu einer vergleichsweise interventionistischen Politik der Europäischen Union in Nordafrika und im Sahel. Wie es Angela Merkel im Zuge ihrer Rede bei der Bundeswehrtagung 2018 ausdrückte: „Und plötzlich sind wir in Afrika […]“ (Merkel 2018).

III. Unsichtbarer Kolonialismus

Wohlmeinend könnte man argumentieren, dass der Einsatz europäischer Kräfte auf Drängen Frankreichs als Unterstützung der lokalen Regierungen und Behörden beim Kampf gegen den Terrorismus verstanden werden kann. Eine Maßnahme, die der Stabilisierung der Region dient und damit auch der lokalen Bevölkerung zugutekommt. Weniger wohlmeinende Betrachter*innen könnten meinen, Frankreichs Politik in diesem Rahmen zielt vor allem darauf, seinen eigenen Einfluss in Nordafrika zu erhalten und die Europäische Union zu diesem Zweck zu nutzen.

Die französische Afrikapolitik, die „Françafrique“ ist durch einen enorm paternalistischen Zugang Frankreichs gegenüber den ehemaligen Kolonien gekennzeichnet. Im Rahmen der „Françafrique“ versuchte man auf vielerlei Arten Einfluss zu nehmen und Frankreichs Position als Hegemon in Afrika zu erhalten. Dies erfolgte durch feste Wechselkurse lokaler Währungen gegenüber dem Franc, verschiedene Kooperationsabkommen, persönliche, informelle Netzwerke und nicht zuletzt einer stark interventionistischen Politik – die Beteiligung an Wahlfälschungen und Putschversuchen inklusive.

Verschiedene französische Präsidenten versprachen zwar einen Neuanfang, laut einem Interview der Deutschen Welle mit Ian Taylor, Professor für afrikanische Politik der University of Saint Andrews, sei dies jedoch „mittlerweile nicht mehr als ein Ritual“ (Fröhlich 2020). Tatsächlich ist eine Beziehung zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien entstanden, die für die jeweiligen Gesellschaften bestenfalls als toxisch und lähmend beschrieben werden kann. Die informellen Netzwerke zwischen der französischen Politik und verschiedenen afrikanischen Staaten existieren jedoch noch immer und das Interesse an Veränderung ist auf beiden Seiten gering. Das liegt auch daran, dass die politische Elite in den ehemaligen französischen Kolonien privat von diesem Abhängigkeitsverhältnis profitiert. Im Gegenzug erhält Frankreich teilweise exklusiven Zugang zu Rohstoffen und einen oftmals privilegierten Zugang zu Staatsaufträgen.

IV. Europa als Beifahrerin

Aufgrund dieser vielfältigen Interessen – im Jahr 2020 waren insgesamt 1.100 französische Konzerne und 2.100 Tochtergesellschaften in Afrika tätig und Frankreich hat nach Großbritannien und den Vereinigten Staaten die drittmeisten Investitionen getätigt – ist Paris eindeutig in einer (europäischen) Führungsrolle, was Afrika betrifft. Eine Situation, die einer geopolitischen Europäischen Union nicht gefallen kann, denn einerseits nutzt Frankreich den europäischen Rahmen für seine neokoloniale Politik in Afrika und andererseits müssten gesamteuropäische Interessen im Vordergrund stehen. Das bedeutet einen Einsatz für Frieden, Stabilität und solide wirtschaftliche Entwicklung. Interessen, die mit den französischen nur so weit konformgehen, als französische Unternehmen davon profitieren.

V. „Ein einiges Ganzes“

Die Existenz derart vitaler wirtschaftlicher Interessen und die Tatsache, dass Paris in Afrika eine enorm interventionistische Politik betreibt, exponieren Frankreich. Die Präsenz französischer Truppen und französischer Unternehmen und das enorme Investitionsvolumen sowie das Bestehen von Konflikten eröffnet anderen Akteur*innen den Raum, gegen die französischen Interessen vorzugehen. In erster Linie ist das die Russische Föderation. Russland und Vladimir Putin haben in der Vergangenheit eine außerordentliche Fähigkeit dafür an den Tag gelegt, mit vergleichsweise geringem Mitteleinsatz maximale Ergebnisse zu erzielen. In den separatistischen Gebieten Südossetien und Abkhazien (beide Georgien), in Syrien und bis 2022 in der Ostukraine wurden russische Soldat*innen in limitierter Zahl und mit spezifischen Zielen eingesetzt – genug, um die russischen Interessen zu wahren.

In Mali ist die Situation eine Ähnliche. Seit Beginn des Jahres sind hunderte Söldner*innen der sogenannten „Wagner-Gruppe“ in dem westafrikanischen Land tätig. Bis vor Kurzem hieß es vonseiten Malis noch, dass es sich dabei bloß um russische „Militärausbilder“ handele. Verschiedene Berichte zeigen jedoch, dass Wagner weit mehr tut, als die malischen Streitkräfte auszubilden. Immer wieder ist die Rede von Massakern, die gemeinsam mit malischen Soldat*innen begangen werden, davon, dass die zivile Bevölkerung regelrecht terrorisiert wird und von Akten hybrider Kriegsführung. So soll Wagner-Personal unweit eines französischen Stützpunktes massenweise Leichen verscharrt haben, um ein Massengrab zu inszenieren (Der Spiegel 2022) und Frankreich zu beschuldigen, Massaker an der Zivilbevölkerung verübt zu haben. Offiziell bestreitet Russland eine Beteiligung am Mali-Einsatz Wagners. Wagner sei lediglich ein Privatunternehmen und stehe nicht mit dem Kreml in Verbindung, so etwa der russische Außenminister Lavrov (Kurier 2022).

VI. „Spezialoperation“

Diese Strategie betreibt Russland bereits seit Jahren mit Erfolg. Die Ukraine ist hierfür das Paradebeispiel. Russland wollte eine stärkere Westintegration der Ukraine, vor allem in die NATO, verhindern. Das wurde mit der Annexion der Krim und dem offenen Konflikt im Donbas erreicht. Die NATO nimmt keine Staaten auf, in denen ein Konflikt schwelt. Schon gar nicht, wenn eine der Konfliktparteien Russland ist. Würde man das tun, könnte der betroffene Staat, in diesem Fall die Ukraine, sofort um Beistand der NATO nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ersuchen. Das würde einen Konflikt zwischen NATO und Russland auslösen. Damit konnte Russland mit relativ limitierten Mitteln das Maximum an Wirkung erzielen – eine Verhinderung der NATO-Integration der Ukraine. Die EU-Integration verhinderte man mit wirtschaftlichem und politischem Druck auf die jeweilige politische Führung des Landes, so auch 2014, aber ein EU-Beitritt der Ukraine stand seit 2014 eigentlich nie wirklich zur Debatte.

Umso verblüffender war es für die meisten Beobachter*innen, dass sich der Kreml im Februar 2022 zu einem groß angelegten militärischen Angriff auf die Ukraine entschloss. Am 24. Februar 2022 kündigte Putin den Beginn einer sogenannten „Spezialoperation“ in der Ukraine an, die mehrere Ziele verfolgte: „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“, bald auch „Neutralität“ (Kirby 2022). Übersetzt bedeutet das, Russland strebt in der Ukraine nach einem militärischen Sieg über die ukrainischen Streitkräfte, de facto die Entwaffnung des Landes, einem Regime Change und einer Garantie, dass die nachfolgende ukrainische Regierung jegliche Bemühungen unterlässt, der NATO beizutreten. Mittlerweile scheint sich Russland vor allem auf den östlichen Teil der Ukraine zu konzentrieren.

VII. Das Zarenreich

Über die Motive des Kremls kann nur spekuliert werden. Warum fand die Invasion genau am 24. Februar statt? Gab es keine Opposition in der russischen Regierung gegen die Invasionspläne? Hat Putin tatsächlich geglaubt, die russischen Soldat*innen würden begrüßt werden wie die Wehrmacht 1938 in Österreich? Tatsache ist, dass Russland mit seinem Handeln gegenüber seiner westlichen Nachbarn viel an politischem Einfluss eingebüßt hat. War das Ziel, dass eine Pufferzone zwischen der NATO und Russland entsteht, ist Putin spektakulär daran gescheitert. Mit Ausnahme Estlands und Lettlands teilt Russland nur unwesentliche Grenzen mit NATO-Staaten (die Region Kaliningrad einmal außen vorgelassen). Als Pufferzone fungiert Belarus und bis 2022 auch die Ukraine. Mit der Invasion erreichte Putin nur, dass sich die Ukraine um eine EU-Mitgliedschaft bemüht und sowohl Schweden als auch Finnland nun der NATO beitreten möchten.

Russlands Politik gegenüber Osteuropa zeigt ein gewisses Anspruchsdenken. Als Großmacht nimmt es sich Moskau heraus, die Orientierung osteuropäischer Staaten beeinflussen zu können, ebenso wie deren innere Angelegenheiten. Entfernt sich ein Staat zu weit von Russland, fürchtet Moskau um seine Einflusssphäre, dann wird es tätig. Obwohl Staaten laut verschiedener Abkommen über die europäische Sicherheitsarchitektur sehr wohl das Recht haben, ihre Bündnisse frei zu wählen, wird aus dieser souveränen Außenpolitik allzu bald eine erzwungene Entscheidung – zwischen Russland auf der einen und Europa und den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite. Es ist unbestritten russische Politik, osteuropäische Staaten zur Not auch mit Gewalt von der NATO fernzuhalten. Obgleich die Skepsis Russlands gegenüber den USA und der NATO verständlich sein mag – immerhin wurde Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion de facto von einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik ausgeschlossen – erhebt Russland den Anspruch, die Politik seiner Nachbarstaaten auf eine Art und Weise zu beeinflussen, die frappierend an die Versuche der Einflussnahme des russischen Reichs im 19. Jahrhundert erinnert.

Mag der Schluss naheliegen, dass Russland eine revisionistische Politik betreibt, die auf die Wiederherstellung der Sowjetunion abzielt, wäre dieser unvollständig. In der Ära der Sowjetunion war das Gebiet des heutigen Russlands von einer Pufferzone an befreundeten bzw. verbündeten „Satellitenstaaten“ umgeben. Insofern kann durchaus eine Parallele zur aktuellen Situation gezogen werden. Allerdings folgt das heutige Russland keinerlei „linken“ politischen ideologischen Strängen, im Gegenteil. Vladimir Putins Herrschaft ist durch eine Kooperation mit der russisch-orthodoxen Kirche, durch eine nationalistische Ideologie und einen staatlichen Konservatismus geprägt, der sich gegen Liberalismus und Gleichberechtigung (etwa im Bereich LGBTIQ+) richtet. Dass diese (nationalistische) Ideologie auch Einfluss und den Wunsch nach Kontrolle über Osteuropa nach sich zieht, ist anhand des Beispiels der Ukraine evident. Nicht umsonst schrieb Vladimir Putin in einem Essay davon, dass Russ*innen und Ukrainer*innen eigentlich „ein und dasselbe Volk“ seien (Putin 2021).

VIII. Osmanischer „Ausbruch“

Ein paar Monate nach dem erfolglosen Putschversuch in der Türkei, genauer gesagt am 10. November 2016, hielt der türkische Staatspräsident Erdoğan bei einem Festakt zum 78. Todestag des Republikgründers Atatürk eine Rede. Die Türkei, so sagte er damals, könne „nicht auf 780.000 Quadratkilometern eingesperrt werden“ (Kleine Zeitung 2016). Mag sich Erdoğan damit auch auf die türkische Diaspora bezogen haben, beschreibt diese Aussage erschreckend präzise die türkische Außenpolitik seit 2016. Die Türkei greift immer wieder auf das historische Bild des Osmanischen Reiches zurück und unterstreicht damit ihre regionalpolitischen Ambitionen, denen sie seit einigen Jahren verstärkt Ausdruck verleiht.

Die Türkei hat es mit dieser stark auf militärische Mittel abstellende Politik geschafft, zu einem wesentlichen Faktor der regionalen Beziehungen zu werden. Die Türkei, immerhin nach den USA jener NATO-Staat mit der größten Truppenstärke (lässt man nukleare Kapazitäten außer Acht), bringt sich durch seine aktive regionale Rolle in verschiedene Konflikte ein, isoliert sich auf diese Weise jedoch auch selbst. Der Konflikt mit dem NATO-Partner Griechenland und dem EU-Mitglied Zypern erzeugt Spannungen sowohl in der NATO als auch in der EU, seine aktive Rolle im Konflikt zwischen Armenien und Azerbaijan und in Syrien erzeugt Misstöne zwischen Ankara und Moskau und der Konflikt mit den Kurd*innen sorgt für Spannungen mit Washington. Die Kurd*innen haben den Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ wesentlich mitgetragen – ein potenzielles militärisches Vorgehen der Türkei gegen diese Partner*innen der USA kann von diesen nicht einfach hingenommen werden.

Unter Präsident Erdoğan intervenierte die Türkei mehrfach in Syrien – etwa zur Schaffung einer „Pufferzone“ in Nordsyrien, zur Einnahme der Stadt Afrin und zur Kontrolle der syrischen Provinz Idlib (Bellut and Levent 2019). Darüber hinaus griffen Anfang 2020 türkische Streitkräfte in den Bürgerkrieg in Libyen ein (ORF 2020) und im selben Jahr unterstützte Ankara Azerbaijan im Krieg mit Armenien um Nagorno-Karabakh (Ülgen 2020). Hinzu kommen seit Längerem bestehende türkische Gebietsforderungen gegenüber Zypern sowie das Eindringen in griechische bzw. zypriotische territoriale Gewässer und – für Österreich besonders relevant – ein wesentlich stärkeres Engagement in Südosteuropa.

IX. Schnittstelle

Trotz dieser gewissen politischen Isolation ist es der Türkei gelungen, sowohl zur Ukraine als auch zu Russland ein konstruktives Verhältnis zu wahren. Damit kommt Ankara innerhalb der NATO eine Sonderrolle zu, die es auch für diplomatische Initiativen genutzt hat, um Gespräche über einen Waffenstillstand zu führen. Der Krieg in der Ukraine hat die Türkei erneut zu einem potenziell wichtigen Player gemacht. Andererseits kann sich die Türkei eine klare Parteinahme gegen Russland aus wirtschaftlichen Gründen kaum leisten. Angesichts einer Inflationsrate von über 150 Prozent im Juni (Mayer-Rüth 2022) ist die Frage, inwieweit die regionalpolitischen Ambitionen von Präsident Erdoğan nachhaltig umsetzbar sind.

X. Schlussfolgerungen

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ist eine Rückkehr der (europäischen) Großmachtpolitik feststellbar. Diese Form der neoimperialistischen Politik äußert sich in verschiedenen geografischen Räumen und auf verschieden Arten. In Nordafrika dient sie etwa zum Erhalt der (französischen) Wirtschaftsinteressen und soll die Staaten des Sahel stabilisieren. In Osteuropa betreibt Russland eine offen revisionistische, neoimperialistische Politik zur eigenen Interessensdurchsetzung. Auch die Türkei versucht, eigene Interessen immer stärker auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.

Allerdings ist ebenfalls zu bemerken, dass die Struktur der internationalen Beziehungen erneut in Richtung der Bipolarität tendiert. Sowohl Russland als auch die USA vertreten die eigenen Interessen in verschiedensten geografischen Räumen – sie haben die Fähigkeiten und Kapazitäten hierzu – und kommen so mit anderen Staaten in Konflikt, die neoimperialistische bzw. neokolonialistische Interessen haben. Der Krieg in der Ukraine hat diese Tatsache offen aufgezeigt und beeinflusst nicht nur das Verhältnis Russlands zum Westen. Russland hat in den vergangenen Jahren immer stärker damit begonnen, aktiv eigene Interessen zu wahren und oftmals auch opportunistisch die Interessen des Westens zu untergraben.

Aktuell bedeutet Multipolarität, dass größere Mächte mit Regionalmächten in verschiedenen Politikbereichen und geografischen Räumen in Konkurrenz stehen. Hierbei bestehen ein ungleiches Kräfteverhältnis und ein großer Unterschied bezüglich der Kapazitäten. Großmächte sind zu Engagement in verschiedensten Bereichen imstande und ihre Politik beeinflusst die meisten internationalen Vorgänge. Regionalmächte hingegen beschränken sich zumeist auf Aktivitäten innerhalb ihrer jeweiligen Region und Aktivitäten, die weit darüber hinausgehen, wie die Intervention der Türkei in Libyen, sind eher die Ausnahme.

Inwiefern sind diese Arten neoimperialistischer Politik, so man sie denn als solche bezeichnen will, vergleichbar? Alle diese Politiktypen ergänzen einander, überlagern einander und verfolgen ähnlich gelagerte Interessen. Die Politik Frankreichs beispielsweise zielt auf den Gewinn ökonomischen Einflusses ab, Russland möchte sich politischen Einfluss sichern und die Türkei zielt ebenfalls auf möglichst viel Einfluss ab. Zumeist sind auch militärische Elemente in unterschiedlichem Ausprägungsgrad involviert: UN- und EU-Missionen in Afrika sind etwas völlig anderes als der regionale Interventionismus der Türkei oder der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine.

Zusammengefasst bedeutet neoimperialistische Politik heute nicht mehr, zu versuchen, ein Imperium zu errichten, in dem auch formal alle Entscheidungen in einer distanzierten Hauptstadt getroffen werden. Vielmehr geht es nach wie vor zwar um Interessensdurchsetzung, dies jedoch auf eher indirekte und inoffizielle Art und Weise. Funktioniert dies auch mittels ökonomischen Drucks, werden die meisten neoimperialistischen Staaten diesen anwenden. Sind hingegen militärische Mittel aus deren Perspektive vonnöten, werden sie diesen unter verschiedenen Voraussetzungen ergreifen. Manche Staaten tun das eher als andere.

Literatur

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Ülgen, Sinan (2020): A Weak Economy Won’t Stop Turkey’s Activist Foreign Policy, Foreign Policy, online unter: https://carnegieeurope.eu/2020/10/06/weak-economy-won-t-stop-turkey-s-activist-foreign-policy-pub-82935 (letzter Zugriff: 28.08.2022).

Ziai, Aram (2012): ,Neokoloniale Weltordnung? Brüche und Kontinuitäten seit der Dekolonisation‘, Kolonialismus, 62. Jahrgang (44–45/2012), pp. 23–30, online unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/146977/neokoloniale-weltordnung-brueche-und-kontinuitaeten-seit-der-dekolonisation/ (letzter Zugriff: 28.08.2022).