Titanic gegen England: Antibritische Propaganda im Dritten Reich VON HEMMA PRAINSACK

Wie das geschichtliche Ereignis des Untergangs der Titanic von der nationalsozialistischen Führung gezielt für Propagandazwecke missbraucht wurde, schildert die Filmwissenschaftlerin und Redakteurin der ZUKUNFT, HEMMA PRAINSACK. Dabei skizziert sie die beispiellose Entstehungsgeschichte von Titanic und die ruchlosen Machinationen im NS-Propagandaministerium.

I. Einleitung

Anhand der deutschen Spielfilmproduktion Titanic aus dem Jahr 1942/43 arbeitet dieser Beitrag den Stellenwert von Film für das nationalsozialistische Terrorregime heraus und zeigt umgekehrt Einflussnahme und Wirkung nationalsozialistischer Filmpolitik auf das Filmschaffen im Dritten Reich. Die beispiellose Produktionsgeschichte von Titanic und seinem Regisseur Herbert Selpin liefern ein bemerkenswertes Abbild der Bedingungen innerhalb der Kulturindustrie, über Zensurentscheidungen, Machtverhältnisse und Einflussnahme in einer Diktatur und gleichgeschalteten Gesellschaft. Ebenso bietet die Entstehungsgeschichte des Films Einblicke über die abstrusen antibritischen Propagandaabsichten der nationalsozialistischen Führung. Schließlich soll verdeutlicht werden, dass Filme als wichtige Zeitzeugnisse ihrer Entstehungszeit herangezogen werden können und eine seriöse wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Film ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildung werden muss, in einer Zeit, in der Bewegtbilder einen unverhältnismäßigen Zeitkonsum markieren.

Abb. 1: DVD-Cover: Titanic (1943) Herbert Selpin © UFA

Mit dieser Fallstudie wird auf die politische Notwendigkeit verwiesen, Filmgeschichte und Medienpädagogik von früh an in unserem Bildungssystem zu verankern. Nicht zuletzt zeugen die jüngsten Ereignisse innerhalb einer österreichischen Regierungspartei, wie unverschämt dreist Medien beeinflusst, Meinung verordnet und Denkweisen der Bürger*innen darüber manipuliert werden. Daher muss es ein dringliches Anliegen werden, die Edukation auch auf die Herstellung und (Wechsel-) Wirkung von Bewegtbildern und Politik auszurichten.

II. Jahrhundertereignis

Es geschah in der Nacht des 14. April 1912, dass sich im Nordatlantik die bekannteste Schiffskatastrophe der Geschichte ereignete. Kein anderes Schiffsunglück hat je so viel Aufsehen erregt und Menschen weltweit und anhaltend mitgenommen. Die Titanic, der ikonische Dampfer der Reederei White Star Line, war bislang nicht nur das größte Schiff der Welt, sondern auch ein Sinnbild für höchste menschliche Schaffenskunst, Erfindungsreichtum, Technikfertigkeit und die Überwindung naturgegebener Grenzen. Bereits vor ihrer Jungfernfahrt wurde die RMS Titanic vom Mythos der Unbesiegbarkeit begleitet, als jenes Fortbewegungsmittel, welches Geschwindigkeit, absolute Perfektion und die Erhabenheit der Menschen über die Natur darstellte. Dies spiegeln auch die zahllosen Berichte der internationalen Presse wider, das Medieninteresse am Luxusdampfer und seinem Auslaufen in Southampton am 10. April 1912 mit über 2200 Menschen an Bord war enorm. Nur viereinhalb Tage sollte es dauern, bis der Mythos des unsinkbaren Schiffes ein für alle Mal ausgelöscht und die menschliche Hybris durch die Kollision mit Unterwassereis vermeintlich bestraft wurde.

Die Nachricht über den Untergang der Titanic und den Tod von über 1500 Passagieren sowie Besatzungsmitgliedern wurde weltweit mit ungebrochener Anteilnahme verfolgt und dominierte tagelang die Zeitungsblätter. Dieser unglaubliche Schiffbruch der Titanic lieferte ungemeinen Stoff für Erzählungen; in Literatur und Film findet sich die Geschichte über den Untergang des Luxusdampfers in zahlreichen Werken wieder. Besonders bemerkenswert erscheint hier, dass in Deutschland Ende der 1930er-Jahre gleich drei Romane über die Titanic veröffentlicht wurden: Titanensturz von Robert Prechtl (Wien: Saturn-Verlag 1937), Das blaue Band von Bernhard Kellermann (Berlin: Fischer 1938) und Titanic. Die Tragödie eines Ozeanriesen von Josef Pelz von Felinau (Berlin: Bong 1939).

III. Filmvorlage

Der 1895 in St. Pölten geborene Schriftsteller und Schauspieler, Josef Ritter Pelz von Felinau, verfasste im Alter von knapp 20 Jahren die Erzählung Der Untergang der ‚Titanic‘ – Ein melodramatisches Epos (Pelz v. Felinau ca. 1915), in deren Vorwort er angibt, die Erlebnisse der Schreckensnacht von Bord der Carpathia aus miterlebt zu haben. Jenem Schiff also, welches in den Morgenstunden des 15. April 1912 zur Unglücksstelle geeilt war und 705 Überlebende der Titanic aufnahm. In seinem Roman Titanic. Die Tragödie eines Ozeanriesen nimmt Felinau Abstand von der Behauptung, in der besagten Nacht selbst an Bord eines Schiffes im Nordatlantik gewesen zu sein, jedoch schreibt er dem Protagonisten seines Romans die Rolle des Augenzeugen zu. Max Dittmar-Pittmann nennt Felinau den Deutschen, der gleich zu Beginn angibt, einer der Offiziere an Bord der Titanic gewesen zu sein. Im Geleitwort zum Roman bezeugt Dittmar-Pittmann das darin Beschriebene als wahre Begebenheiten und die Dialoge als getreue Wiedergabe stattgefundener Gespräche an Bord des Schiffes. Es ist davon auszugehen, dass die Leser*innenschaft in der Entstehungszeit des Romans, also knapp dreißig Jahre nach dem Schiffsunglück, nicht mehr alle Namen der Offiziere von der Titanic erinnerte. Einen Offizier deutscher Herkunft oder namens Dittmar-Pittmann gab es auf der Titanic nicht, lediglich ist eine Namensgleichheit mit dem dritten Offizier Herbert Pitman zu erkennen. Felinaus Roman stellt die Jungfernfahrt der Titanic als eine von anglo-amerikanischen Aktienspekulant*innen getriebene Wettfahrt dar, die den gewinnsüchtigen Plutokrat*innen ein Vermögen einbringen sollte, sobald die Titanic den Weltrekord aufstellen und für die White Star Line das „Blaue Band“ gewinnen würde.

Als gierige und herzlose Wesen zeichnet Felinau die reichen Amerikaner*innen und Engländer*innen der ersten Klasse, die nur ihr Geld im Sinn haben. Kapitän Smith wird von ihnen angewiesen, die Geschwindigkeit der Titanic zu steigern und auf Kurs zu bleiben. Einzig der Offizier Dittmar-Pittman tritt als deutsches Korrektiv gegen die englischen Millionär*innen auf und warnt beständig vor den katastrophalen Folgen, sollte die Titanic in den gefährlichen Gebieten des Eismeeres ihre Geschwindigkeit nicht drosseln. Zudem verweist Dittmar-Pittman auf düstere Vorhersagungen, die das Schiff unaufhörlich begleiten würden und nicht außer Acht gelassen werden dürften. Durch die Figuren Lord Canterville und Eva Stevenson werden diese Verschwörungstheorien im Roman beständig untermauert. Bei Felinau wird der Untergang des Ozeanriesen zweifelsfrei als Folge von Fehlern und Vergehen der englischen Führung dargestellt und die Verantwortlichen der White Star Line sowie die Aktionär*innen am Tod von über 1500 Menschen als Schuldige ausgemacht. Mit diesen eindeutig antibritischen Motiven und verschwörerischen Zwischentönen, passte Felinaus Roman ins Schema genau jener nationalsozialistischen Prädestinationsfantasien, die sich auf Vorhersagen des Nostradamus über den Untergang Großbritanniens stützten. Somit lieferte der Roman von Felinau Stoff für die nationalsozialistische Filmversion der Titanic.

IV. „ProMi

Im Jahre 1926 richtete die NSDAP eine Reichspropagandaleitung ein, um die Bevölkerung gezielt auf die Vorhaben der Partei einzustellen und mithilfe der NS-Propaganda das kritische Bewusstsein der Öffentlichkeit zu lähmen. Öffentliche Medien wurden sukzessive der Kontrolle der NS-Führung unterstellt und ab 1933 in das aus der Reichspropagandaleitung entstandenen Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) eingegliedert. Innerhalb der Filmbranche wurde dieses Ministerium als das „ProMi“ bezeichnet. Joseph Goebbels, der die Propagandaleitung seit 1931 innehatte, wurde im März 1933 zum Reichsminister des RMVP und ab deren Eröffnung zum Präsidenten der Reichskulturkammer (RKK), welcher die Reichsfilmkammer (RFK) angehörte, erklärt.

Goebbels war durch und durch von der NS-Ideologie überzeugt und vehementer Verfechter der antisemitischen Weltanschauung. In der nationalsozialistischen Propaganda sah er „die Kunst, zu vereinfachen, zu wiederholen und niemand merken zu lassen oder gar zu zeigen, wie es gemacht wird“ (Hippler 1982: 194). Sein Zielpublikum war die durchwegs mittel- und bildungslose Masse, die er hoffte mit seiner „Kunst“ manipulieren zu können: „Die nationalsozialistische Propaganda hat von Anfang an sich stets an den einfachen Mann im Volk gewandt und nicht den Versuch unternommen, den Intellektuellen zu bekehren“ (Boeckle 1969: 389).

An dieser Stelle ist es von Bedeutung zu unterwstreichen, dass Goebbels keineswegs „Propagandagenie“ genannt werden darf, wie es heute noch oft in der Literatur über den Propagandisten zu lesen ist. Denn, jegliches von ihm selbst oder durch das von ihm kontrollierte RMVP produzierte Material über Goebbels, lassen dessen zwanghafte Anstrengungen erkennen, sich als omnipotenten und unerreichten Führer der Propaganda zu inszenieren. Nicht zuletzt ist der Verkauf der Rechte seiner Tagebücher an den Zentralverlag der NSDAP, die Franz Eher Nachfolger-Verlags-GmbH im Jahr 1936 und eine für später bestimmte Veröffentlichung, ein Indiz dafür, dass Goebbels bestrebt war, ein Bild von sich, seiner Macht und seiner unbedingten Nähe zu Hitler, die er sich in seinen Tagebüchern ausführlich zuschrieb, zu schaffen, wie er es in der Öffentlichkeit wahrgenommen haben wollte. In seinen Tagebüchern, in denen er fast jeden Tag zwischen 1923 und 1945 aufzeichnete, finden sich auch unzählige Einträge über Filme und die Filmindustrie. Diese geben Aufschluss über Goebbels’ Besessenheit vom bewegten Bild. Themenvorgaben, Einmischungen in laufende Produktionen, oder Beanstandungen nach Sichtungen der Rohfassungen durch den Minister, waren keine Seltenheit. Ebenso zeigen die Aufzeichnungen Goebbels’ Inkonsequenzen und Widersprüchlichkeiten beim Beurteilen von Filmen.

Als Reichsminister, Präsident der RKK und selbsternannter „Schirmherr“ des deutschen Films, war Goebbels der faktische Vorgesetzte aller Filmschaffenden. Mit seinen vermessenen Zukunftsplänen und Versprechungen, dass der deutsche Film „eine Weltmacht“ werden würde (Albrecht 1979: 26), sollte den Filmkünstler*innen ein Anreiz geboten werden, sich um den deutschen Film und die Propagandaabsichten des Regimes verdient zu machen. Jedoch müsse „die innere Größe der Gesinnung mit den äußeren Mitteln übereinstimmen“ (Albrecht 1979: 26) und Filmschaffende nur dann eine Arbeitserlaubnis erhalten, wenn sie sich als Mitglied eignen und der Reichsfilmkammer angehören. Künstler*innen jüdischer Herkunft konnten somit keine Anstellung mehr bekommen, nur im Sonderfall wurde eine Genehmigung durch das RMVP ausgestellt. Die neuen Anforderungen und das Arbeitsverbot für alle „nichtarischen“ Filmschaffenden hinterließen eine erhebliche künstlerische Lücke in der deutschen Filmindustrie, welche die Produktionsfirmen in gehörige Schwierigkeiten bei der Besetzung von Filmen brachte.

V. Titanic

In der Verfilmung nach der Romanvorlage Felinaus sollte das Publikum genau dreißig Jahre nach der Schiffskatastrophe von der Charakterlosigkeit und Habgier der Engländer*innen in einer nationalsozialistischen Lesart überzeugt werden. Mit dem von Goebbels als Prestigeprojekt gehandelten Filmvorhaben sollte auch das Können der deutschen Kinoindustrie unter Beweis gestellt werden. Für die Regie der Filmversion von Titanic wurde Herbert Selpin engagiert, seine Fähigkeiten im Umgang technisch schwieriger Filme hat er mehrfach unter Beweis gestellt und sich als Regisseur von Propagandafilmen wie Wasser für Canitoga und Carl Peters mit Hans Albers in der Hauptrolle oder Geheimakte WB1 neben die führenden Regisseure Veit Harlan, Wolfgang Liebeneiner, Gustav Ucicky oder Karl Ritter gereiht. Die Produktionsfirma Tobis stellte für Titanic mit drei Millionen Reichsmark ihr höchstes Produktionsbudget während des Krieges zur Verfügung und warb damit, viele Stars für den Film zu verpflichten. Darunter Hans Nielsen, als der deutsche Offizier an Bord – in der Filmversion Petersen genannt – Sybille Schmitz, Kirsten Heidberg, Otto Wernicke und Walter Steinbeck.

Als Drehbuchautor wurde auf Wunsch Selpins dessen Freund Walter Zerlett-Olfenius unter Vertrag genommen, der bereits mehrmals mit Selpin zusammengearbeitet hatte.


Portrait von Herbert Selpin © Österreichische Natonalbibliothek

Herbert Selpin beharrte einer möglichst realen Darstellung wegen darauf, die Außenaufnahmen der Titanic auf einem Dampfer und nicht im Studio zu drehen, was von der Tobis jedoch nicht vorgesehen war. Dennoch setzte Selpin, der als ehemaliger Boxer für seine Durchsetzungskraft und cholerischen Ausbrüche in der Branche bekannt war, seinen Willen durch und fand gemeinsam mit dem Architekten Fritz Maurischat in der in Gotenhafen (heutiges Gdynia) stationierten Cap Arcona ein passendes Schiff, welches während des Krieges der Kriegsmarine und einer U-Lerndivision als Wohngelegenheit diente.

Als Selpin im Mai 1942 die Dreharbeiten auf der Cap Arcona begann, mussten diese wegen Schlechtwetter und schaulustigen Marinesoldaten immer wieder unterbrochen werden. Zudem konnten Nachtaufnahmen nur bei Tag mit entsprechenden Filtern gedreht werden, da aufgrund der Gefahr von Fliegerangriffen ein Nachtdreh, bei dem etliche Scheinwerfer nötig gewesen wären, verboten war. Der Regisseur machte seinem Unmut über die Störungen bei einem Abendessen wütend Luft, er äußerte sich abwertend über Ritterkreuzträger und U-Bootoffiziere, die mit Manövern die Aufnahmen störten und machte Zerlett-Olfenius für das Chaos beim Dreh mitverantwortlich. Zerlett-Olfenius, der sich davor bereits wiederholt mit Selpin zerworfen hatte, nahm diese Aussagen zum Anlass, Selpin bei seinem Freund Hans Hinkel zu denunzieren. Hinkel war SS-Obersturmbannführer und höchstrangiger Offizier im RMVP. Im Laufe seiner Karriere häufte er eine Vielzahl an Positionen und Einfluss an: Leiter der Abteilung für Kulturpersonalien, Kulturverwalter Hitlers, Sondertreuhänder der Arbeit für die kulturschaffenden Berufe, ab 1940 Ministerialdirigent und später Ministerialdirektor, von 1938–1941 Leiter der Abteilung II A des RMVP, auch „Judenreferat“ genannt, ab 1941 Generalreferent für Reichskulturkammersachen, Hauptgeschäftsführer der Reichskulturkammer, ab 1944 Reichsfilmintendant und Vizepräsident der RKK. Nachdem Hinkel von der Angelegenheit erfahren hatte, sollte es nicht lange dauern, dass sich der Zwist zwischen dem Regisseur und Drehbuchautor innerhalb der Filmproduktion herumsprach und zur Angelegenheit im RMVP wurde.

Sich mehrfach über ungehorsame Filmschaffende beschwerend und diesen mit heftigen Konsequenzen drohend, war Goebbels bestrebt, auf dem Filmsektor ein Exempel zu statuieren. Selpin wurde am 30. Juni 1942 zu Goebbels ins „ProMi“ beordert, um dort zu seinen defaitistischen Aussagen Stellung beziehen. Als Selpin einem aufgebrachten Goebbels gestand, sich abwertend über die Kriegsmarine geäußert zu haben, ließ dieser Selpin wutschnaubend verhaften und in Untersuchungshaft stecken. In dieser erhielt der Regisseur die Mitteilung über den Ausschluss aus der Reichsfilmkammer, was ein Berufsverbot für den Künstler und schließlich Kriegsdienst bedeutete. Selpin setzte daraufhin seinem Leben durch Erhängen in der Zelle ein Ende. Nach dem Bekanntwerden des Selbstmordes, der von vielen angezweifelt und als Mord ausgelegt wurde und eine Empörungswelle unter Filmschaffenden auslöste, ließ Goebbels verlautbaren, dass der Name des Regisseurs weder am Set noch in der Presse genannt werden dürfe und eine Missachtung mit Strafverfolgung geahndet werden würde. Ende August 1942 übernahm Werner Klingle die Regie von Titanic und stellte den zur Hälfte durch Selpin gedrehten Film fertig. Im Frühjahr 1943 wurde Titanic von der Filmprüfstelle mit den Prädikaten „staatspolitisch wertvoll“ und „künstlerisch wertvoll“ ausgezeichnet. Dennoch, eine Premiere in Deutschland sollte Titanic nicht erleben, der Film wurde vorerst für die Aufführung in Deutschland zurückgestellt.

Eine Mutmaßung, weshalb Titanic während des Krieges nicht zur Uraufführung in Deutschland gelangte, war, dass die Panikszenen am Ende dem Publikum bei der immer aussichtsloser werdenden Kriegslage, nicht zugemutet werden konnten. Dem widerspricht jedoch, dass die Filmzensurbehörde die knapp drei Minuten dauernden Szenen panischer Menschen, die das sinkende Schiff verlassen wollen, hätte herausschneiden lassen können, wie es bei anderen Filmen mit Szenen geschah, die dem Publikum als nicht zuträglich erachtet wurden. Zudem kommt die antibritische Propaganda den ganzen Film lang zu tragen und in der Person des pflichtbewussten deutschen Offiziers an Bord sollte das Publikum ein den Werten der Nationalsozialisten entsprechendes Vorbild finden. Auch ist zu berücksichtigen, dass Titanic im Herbst 1944 in den von Deutschland besetzten Gebieten in Europa in die Kinos kam und die Panikszenen dem Publikum hier sehr wohl zugemutet wurden. Titanic wurde sogar einer der erfolgreichsten deutschen Produktionen in Europa. Eine Aufführung in Deutschland hätte den monetären Erfolg vervielfacht und der Tobis hohe Einspielergebnisse gebracht und das aufgewendete Produktionsbudget eingespielt. Ende 1944 versuchte die Tobis-Leitung, die Freigabe für Titanic innerhalb Deutschlands zu erwirken, jedoch wurde durch den Reichsfilmintendanten Hinkel mit 5. Dezember 1944 das Aufführungsverbot bestätigt.

Herbert Selpins Name war weder auf Kinoplakaten, Ankündigungen, Werbematerialien oder Programmheften angeführt. Dass Hinkel, der maßgeblich an der Verhaftung von Selpin beteiligt war, den Film nicht zu einer Premiere in Deutschland zulassen wollte und damit Erinnerungen an den Regisseur Selpin wecken würde, dürfte kein Zufall gewesen sein. Noch bemerkenswerter hinsichtlich des Filmverbotes erscheint, dass Felinau 1944 eine stark erweiterte Fassung seines Titanic-Romans als Wehrmachtausgabe verfasste und hierin seinen Protagonisten, den deutschen Offizier an Bord der Titanic, nicht mehr Dittmar-Pittmann nennt, sondern entsprechend der Filmfigur als Offizier Petersen auftreten lässt und damit der Filmversion nachkommt. Eine deutsche Uraufführung von Titanic fand erst nach dem Krieg im Februar 1950 in Stuttgart statt.

VI. Conclusio

Selpins letzter Film ist empfehlenswert, vor allem vor dem Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte und dem Wissen über die beabsichtigte Propaganda in Titanic. Dieses filmgeschichtliche Beispiel zeugt von der Notwendigkeit, Filme im Entstehungskontext zu betrachten und auch als eine Art Zeugnis ihrer Zeit, welche über politische, soziale, wirtschaftliche und ästhetische Wechselwirkungen Auskunft geben können, zu lesen.

Gerade heute, wo eine Vielzahl von Filmen gesehen wird, sollten wir uns vermehrt der Wirkung von Filmen bewusstwerden und ein Verständnis über Film und seine möglichen Absichten aneignen.

„Solange nicht alle Lehrbücher der allgemeinen Kunstgeschichte und der Ästhetik das Kapitel über die Filmkunst aufgenommen haben, solange diese Kunstgattung nicht auf den Universitäten und in den Mittelschulen als Pflichtgegenstand gelehrt wird, haben wir eine entscheidende Wendung der Entwicklungsgeschichte des Menschen in unserem Jahrhundert nicht in die Sphäre des Bewußten erhoben.“ (Balázs 1949: 9)

Diese Forderung von Bela Balázs behält auch Jahrzehnte später ihre Aktualität. 126 Jahre nach der ersten Filmvorführung sollte es eine politische Notwendigkeit sein, Film zum Gegenstand der Ausbildung zu machen.

HEMMA PRAINSACK

ist Film- und Theaterwissenschaftlerin. Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie derzeit zum Sensationsfilm im Umbruch zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Zuvor arbeitete sie in der Generaldirektion des Österreichischen Rundfunk und war bei zahlreichen Produktionen am Burgtheater Wien im Bereich Regie und Video tätig.

Literatur

  • Albrecht, Gerd (1979): Film im Dritten Reich, Karlsruhe: Schauburg Fricker.
  • Balázs, Béla (1949): Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien: Globus.
  • Boeckle, Willi A. (1969): Wollt Ihr den totalen Krieg? Die geheimen Goebbels-Konferenzen 1939–1943, München: dtv.
  • Pelz v. Felinau, Josef Ritter (ca. 1915): Der Untergang der Titanic. Ein melodramatisches Epos, Wien: Währinger Druck.
  • Pelz v. Felinau, Josef Ritter (1939): TITANIC. Die Tragödie eines Ozeanriesen, Berlin: Bong.
  • Fröhlich, Elke: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente. Teil I 1924–1941 und Teil II 1941–1945, München: K.G.-Saur.
  • Hippler, Fritz (1982): Die Verstrickung. Einstellungen und Rückblenden von Fritz Hippler, ehemaliger Reichsfilmintendant unter Joseph Goebbels. Auch ein Filmbuch …, Düsseldorf: Verlag Mehr Wissen.
  • Prainsack, Hemma M. (2013): So sank die Titanic. Antibritische Propaganda im nationalsozialistischen Spielfilm, Diplomarbeit, Universität Wien.