Immanuel Kant und der ewige Frieden VON INGRID NOWOTNY

In ihrem philosophischen Essay ruft INGRID NOWOTNY Kants Schrift Zum ewigen Frieden ins Gedächtnis – ein Text, der unabhängig seiner Kürze eine lange Wirkung entfaltet hat. Über historische Kontexte und die lebendige Auseinandersetzung mit der Verpflichtung zu einem Denken der Aufklärung kann hier einer der zentralen Texte des „Königsbergers“ kennengelernt werden, der insbesondere heutzutage wieder von besonderer Aktualität ist.

Drohend erhebt sich die Gefahr vor unserem Blicke und eine Zukunft eröffnet sich,
in der Gut und Blut der Völker im Abgrund versinken.
Im Namen dieser, die leiden und darben, schieben wir die Verantwortung für das Unheil,
das im Zuge ist, denen zu, die diesen Schritt unternommen,
der uns ins schrecklich Bodenlose führt.

(Aus: Die Arbeiterzeitung, Ausgabe vom 24. Juli 1914)

Arbeiter und Arbeiterinnen! Parteigenossen! […]
Erst in schweren Zeiten offenbart sich unsere Kraft.
Da muß sich unsere Treue, unsere Opferwilligkeit bewähren.
Zeit, daß es auch in unseren Reihen keine Fahnenflucht gibt.
Daß auch die Männer des Klassenkampfes
bis zum letzten Atemzug zu ihren Fahnen stehen!“

(Aus: Die Arbeiterzeitung, Ausgabe vom 28. Juli 1914)

Und so zieht das deutsche Volk einig in den Kampf
um die Bewahrung seines staatlichen und nationalen Denkens.
Auf der anderen Seite elende Spekulanten, Schacherkoalitionen,
denen jede sittliche Idee fehlt.
Hier ein einig kraftvoll bewegtes Volk:
die Weltgeschichte müßte den Lauf rückwärts nehmen,
wenn den Deutschen nicht ihr Recht würde.

(Aus: Die Arbeiterzeitung, Ausgabe vom 25. August 1914)

I. Einleitung

Einige Hundert Kilometer von uns entfernt tobt ein blutiger Krieg. Wir sehen fassungslos zu, unser Seelenzustand ist Betroffenheit, Entsetzen, Hilflosigkeit. Unser aktives Tun beschränkt sich auf humanitäre Hilfe – so wichtig und absolut geboten sie ist, so wenig darf sich die Sozialdemokratie scheuen, nach den Wurzeln des Übels zu suchen und Position beziehen.

Einfach die eine Seite des Angriffskrieges zu beschuldigen und der anderen die Opferrolle zuzubilligen ist zu wenig – so zutreffend und wahr diese Konstellation wohl sein mag.

Man sollte meinen, die Abscheu vor dem Krieg, dieser Geißel der Menschheit, dieser Furie, sei in unserer Generation nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts so tief verwurzelt, dass nur eines zu gelten hätte: Schluss damit. Mord und Blutvergießen rechtfertigen niemals den Verlust an Macht, Land und Reichtum.

Krieg – die Bilder der entwurzelten Kinder rauben uns kurz den Schlaf, wir können nur hoffen, dass die Welle der Hilfsbereitschaft nicht der Befriedigung des eigenen Egos dient. Nachhaltigkeit wird in anderem Zusammenhang oft bemüht, hier kommt die Probe aufs Exempel: Wird die Empathie mit den Verzweifelten, Geschlagenen und Flüchtenden ebenso schnell enden wie gegenüber den syrischen Flüchtlingen?

Wo bleibt – wenn schon nicht die Humanität – so doch wenigstens die Vernunft? Auch die Sozialdemokratie ist ein Kind der Aufklärung: Sapere aude – habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Solidarität, die Grundwerte der Sozialdemokratie, sind auf dem Boden der Aufklärung entstanden und sollen durch kritisches Denken ständig überprüft und weiterentwickelt werden.

II. Die Dialektik der Aufklärung

Es gab und gibt Kritik an der Aufklärung. Geht sie nun wirklich so tief, dass wir vergessen, unseren Verstand zu gebrauchen und diesen Konflikt analytisch sine ira et studio zu durchdenken? Ich gebe zu, Zorn und Eifer kann man angesichts der Grausamkeit nicht unterdrücken.

Theodor W. Adorno (1903–1969), Max Horkheimer (1895–1973) und Jürgen Habermas (*1929) haben uns – der 1968er-Generation – die Doppelgesichtigkeit und die Gefahr der Aufklärung aufgezeigt; ihre Dialektik der Aufklärung kann hier nicht abgehandelt werden, so not das täte. Nur so viel: Auch die Vernunft braucht zur Durchsetzung die Akzeptanz ihrer Ideen, und diese Akzeptanz ist wieder nur mit einer gewissen Autorität zu erreichen, und sei es nur durch nachdrücklich geäußerte Überzeugungskraft.

Ich will hier nur das simple Beispiel der Schule anführen. Niemand wird bezweifeln, dass die Einführung der Schulpflicht untrennbar mit dem Gedanken der Aufklärung verbunden ist, die Menschen aus ihrer Unwissenheit herauszuführen, ihren Verstand zum Gebrauch der Freiheit zu wecken. Genau so haben wir aber erfahren, dass Schule nur mit Über- und Unterordnung zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen funktioniert, lange Jahre sogar ein Tummelplatz des psychischen Drucks auf Kinder war und hoffentlich nicht mehr ist.

Die Antwort und die Folge auf die Dialektik der Aufklärung war das antiautoritäre Menschenbild, die Demontage von Hierarchien und unterdrückerischen Verhältnissen. Diesbezüglich hat es einen Fortschritt seit 1968 gegeben. Allerdings: Noch sind Hierarchien vorhanden, versteckt unter anderen Strukturen. Ich nehme hier als Beispiel den blühenden Wirtschaftsliberalismus, der Abhängigkeit unter anderen Vorzeichen schafft als die seinerzeitigen autoritären Strukturen.

Ist der Traum von der Aufklärung ausgeträumt ebenso wie der von der antiautoritären Gesellschaft? Dies ist vehement zu verneinen, denn von beiden ist viel geblieben: Von der Aufklärung der Fortschritt der Menschheit, von der antiautoritären Bewegung unsere viel freiere Gesellschaft als noch vor 50 Jahren.

III. Immanuel Kant – Zum ewigen Frieden

Diese einleitenden Sätze über die Aufklärung und ihren Stellenwert heute mögen vielleicht als redundant aufgefasst werden, leiten aber zum eigentlichen Anliegen über: Trotz – oder wegen – der Kritik an der Aufklärung sollten wir uns auf einen der Größten dieser Geisteshaltung besinnen: Immanuel Kant (1724–1804). Er hat eines der klügsten Werke, ein Büchlein von 60 Seiten, geschrieben, keiner Sozialdemokratin und keinem Sozialdemokraten sollte es unbekannt bleiben, gerade jetzt.

Es trägt den Titel Zum ewigen Frieden. Ein Wirtshaus trug diesen Namen; das Wirtshausschild gab auch gleich die nähere Erklärung: unterhalb der Schrift die Abbildung eines Friedhofes. Kant war nicht unbedingt der Finsterling, er hatte eben auch – schwer zu glauben – Sinn für Humor.

Haben die französischen Aufklärer noch enzyklopädisch über Gott und die Welt räsoniert und die Revolutionäre blutig für ihre Ideen gekämpft, so hat sich Kant genau da in erstaunlichem Realitätsbewusstsein und auch in Voraussicht einem pragmatischen Thema gewidmet: 1795, sechs Jahre nach der französischen Revolution, mitten in den Revolutions- und Koalitionskriegen, noch vor den großen Napoleonischen Feldzügen nach Spanien und Russland, in einer Welt, die von Eroberung, Kriegsführung und Heldentum nur so berauscht war, schreibt er ein Werk, nicht über den Krieg, sondern über den Frieden. Ausgerechnet in Preußen, im preußischen Königsberg, wo man meinen möchte, Preußen sei der Inbegriff des militaristischen Staatswesens. Wohl richtig, Friedrich der Große und seine Vorgänger haben mit ihren Kriegen diesen Ruf auch sehr geschürt. Preußen war aufgerüstet und im Siebenjährigen Krieg ein übler Aggressor (Einmarsch in Schlesien; österreichischer Erbfolgekrieg gegen Maria Theresia).

Doch dies ist nur die eine Seite Preußens gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Es war auch ein fortschrittlicher Staat, ein Staat der Aufklärung, er hat politisch Vertriebenen eine neue Heimat gegeben, so etwa unseren schändlich behandelten Salzburger Exulanten. Voltaire war am preußischen Hof ein kongenialer Gesprächs- und intellektueller Streitpartner, wir dürfen nicht vergessen, dass Preußen eben zu dieser Zeit ein liberaler Staat war, verglichen mit der erstarrenden Habsburgischen Monarchie.

Das war der Boden für Kants Alterswerk über den ewigen Frieden; er schrieb es in seinem 71. Lebensjahr, damals galt das als hochbetagt. Vielleicht mit ein Grund für die Emotionslosigkeit und Distanziertheit dieser Abhandlung, straff strukturiert, kein Wort zu viel, kein Pathos, kein Schnörkel, manchmal eine uns schwer verständliche, altertümliche Sprache, aber das ist der Zeit geschuldet, wehe es macht sich eine*r dran, es zu „aktualisieren“. Gerade diese Schlichtheit ist seine Stärke.

Kant hat seinen Grundsatz „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ wirklich angewendet, wo andere blind ihre Ideologien mit wenig bedachter verbaler oder auch realer Aggression und Gewalt ohne Rücksicht auf die menschlichen Verluste verfolgten. Auch hat er den kategorischen Imperativ, die Maxime, danach zu handeln, was allgemein als Gesetz gelten kann, wirklich gelebt. Einfach ausgedrückt, handle so, wie du willst, dass man dir gegenüber handelt, oder noch einfacher, was du nicht willst, dass man dir tu, füge auch keinem anderen zu. Frieden war geradezu der ideale Anknüpfungspunkt und Prüfstein für diesen Grundsatz: Wer möchte schon Krieg gegen sich und wie hast du es mit dem Krieg gegen andere?

IV. Zu Inhalt und Aufbau des Buches

Kern der Abhandlung ist die Frage, wie kann Frieden gestiftet und erhalten werden. Seine Grundstruktur spiegelt einen völkerrechtlichen Vertrag wider. Kant wählt diese Form bewusst, um klarzumachen, dass Grundlage jedes tragfähigen Friedens eine verbindliche und dauerhafte Vereinbarung zwischen einem, mehreren und vielen Staaten sein muss. Pacta sunt servanda, wir halten uns an das, was wir ausgemacht haben. Wer dagegen verstößt, setzt Unrecht. Über Details kann man streiten, dürfen jedoch keineswegs den Vertrag in seinem Bestand gefährden (salvatorische Klausel). Lösungen müssen im Geist des Vertrages gefunden werden.

Der erste Abschnitt enthält sechs Präliminarartikel, Verbotsgesetze als unabdingbare Voraussetzungen für den Frieden, der zweite Abschnitt enthält grundlegende, konkrete rechtliche Erfordernisse und Vorgaben, formuliert als Definitivartikel für den Erhalt des Friedens. Die altertümliche Sprache soll nicht vom Lesen abhalten.

Die sechs Präliminarartikel

  1. Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der dem geheimen Vorbehalt des Stoffs für einen künftigen Kriege gemacht werden.

Klingt verklausuliert, heißt aber nichts anderes als dass Waffen-Niederlegen noch nicht den Kriegsgrund beseitigt und weiter die Gefahr besteht, dass beim nächsten kleinen Anlass wieder aufeinander losgegangen wird.

  • Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleich viel) von einem anderen Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können.

Das bedarf keines Kommentars: Der Staat und seine Bürger sind keine Sache und daher unveräußerlich. Adel, Dynastien, Heirat zum Herrschaftserwerb sind abzulehnen.

  • Stehendes Heer (miles perpetuus) soll mit der Zeit ganz aufhören.

Auch kein langer Kommentar: Wenn der Nachbar die Aufrüstung sieht, bekommt er Angst und rüstet auch auf. Die Spirale des Wettrüstens dreht sich bis zum Gleichgewicht des Schreckens.

  • Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.

Mit Staatshändel ist natürlich Krieg gemeint. Zum Krieg führen braucht man drei Dinge: Geld, Geld und wieder Geld. Kriegskredit aufnehmen, heißt Krieg führen. Außerdem macht sich der Schuldner vom Gläubiger anhängig.

  • Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staates gewalttätig einmischen.

Die Souveränität eines Staates muss respektiert werden. Innere Unruhen rechtfertigen kein Eingreifen. Der Friedensbruch durch die Intervention wiegt schwerer als Gesetzlosigkeit im Inneren eines Staates.

  • Es soll sich kein Staat mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind, Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats (perduellio) in dem bekriegten Staat.

Damit ist Staaten verboten, im Krieg Mittel anzuwenden, die nie verziehen werden können und immer wieder zu neuen Ressentiments und Gewalt führen. Es gibt Beispiele genug, wo Kriege nur aus Rache und Vergeltung für vergangenes Unrecht und Gräuel ohne konkreten neuen Grund weiter schwelen (Beispiel: Balkan, Amselfeld, oder Armenien Aserbaidschan). Hier ist in Ansätzen das vorher nicht gekannte Verbot von Kriegsverbrechen angesprochen. Erst viel später wird das Problem in der Haager Landkriegsordnung und in den Genfer Verträgen aufgegriffen.

Die drei Definitivartikel

1. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.

Mit „republikanisch“ sind die Begriffe Freiheit, Unterordnung unter das Gesetz und Gleichheit vor dem Gesetz angesprochen. Kein Teil der Gesellschaft, auch nicht die Obrigkeit darf über dem Gesetz stehen. Ein Gottesgnadentum oder ein L’état-c’est moi gibt es nicht.

Kants Verhältnis zur Demokratie in unserem modernen Sinn ist noch einer Diskussion bedürftig. Natürlich gab es damals noch nicht das allgemeine gleiche geheime Wahlrecht, für Frauen schon gar nicht. Was er aber glasklar und vorausschauend gefordert hat, ist die Vorgabe von Regeln. Jeder muss vorhersehen können, woran er ist, nur das schafft Sicherheit. Feststehen muss, wer diese Regeln gibt und dass jeder sich an ordnungsgemäß zustande gekommene Regeln halten muss – niemand kann sich’s richten, wie es ihm passt.

Rechtsstaat, das ist die unabdingbare Forderung für das friedliche Zusammenleben in einen funktionierenden Staat und erst recht für eine gedeihliches Miteinander der Völker. Grundlage ist eine Verfassung, ein Regelwerk, in dem die Befugnisse, die Rechte und Pflichten der Herrschenden und Beherrschten genau festgelegt sind, und zwar nach dem Prinzip der Gewaltenteilung: Gesetzgebung (Parlament), Verwaltung (Regierung, Administration) und Gerichtsbarkeit, eine unabhängige Institution, die sagt, was rechtens ist.

2.         Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein.

Frieden bedeutet, dass die Staaten von einem losen Naturzustand in einen Rechtszustand zueinander übergehen – wieder kommt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das Einhalten von Regeln zum Tragen, wie oben dargelegt, nunmehr auf internationaler Ebene. Kant nimmt damit die Gründung des Völkerbundes vorweg.

3.         Das Weltbürgerrecht soll auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt werden.

Jeder Mensch soll ein Besuchsrecht in jedes andere Land haben, ein Niederlassungsrecht ist damit aber nicht verbunden.

Zusätze:

Erster Zusatz: Von der Garantie des ewigen Friedens

Die Erreichung des Ziels Frieden setzt den Gebrauch der Vernunft voraus: Das natürliche Bedürfnis, sich vor den Interessen der anderen zu schützen, führt dazu, dass sich jeder die Einhaltung allgemeiner Regeln wünscht. Das gilt – wie ausgeführt auch für das Miteinander der souveränen Staaten.

Zweiter Zusatz: Geheimer Artikel zum Ewigen Frieden

Hier sagt Kant etwas Problematisches: Die legitim Herrschenden, die Frieden machen, sollen nicht unbedingt alles einer öffentlichen und kontroversiellen Diskussion unterziehen. Wenngleich so manche Medienschlacht oder niveauloser Shit-Storm unserer Zeit dem Recht geben könnte, ist Kants Forderung hier nur aus der Zeit zu verstehen, die noch nicht reif war für Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Pressefreiheit und Transparenz. Was aber bleibt ist die Forderung, wer sich öffentlich äußert, möge dies mit Verantwortung für die Sache und mit Respekt vor der Meinung des anderen tun.

Anhänge: Über die Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden

Frieden setzt voraus, dass sich alle gemeinsam der Rechtsordnung unterstellen. Das ist umso leichter umzusetzen, je weniger die Politik – „misshellig“ – von den moralischen Vorstellungen der Rechtsunterworfenen abweicht, also nicht etwas vorschreiben will, was als schlecht erachtet wird. Die moralischen Vorstellungen sollen mit dem Recht möglichst übereinstimmen, es sollen also keine Misshelligkeiten zwischen Politik und Moral entstehen.

Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe

Hier stellt Kant die Forderung, dass der Politiker sich an die Moral hält und nicht umgekehrt, sich nicht anmaßt, die Moral vorzugeben, denn dies könnte leicht in diktatorisches Verhalten abgleiten.

V. Die Rezeption von Kants Schrift

Soweit zum wesentlichen Inhalt von Kants großer Schrift. Manches an Kants Gedanken mag realitätsfern, ja utopisch klingen. Und dennoch: Die Gedanken Kants waren fruchtbar. Die Rezeption blieb nicht auf philosophische Kreise beschränkt. Schon zur Zeit der Publikation führte sie zu intensiver öffentlicher Diskussion: die Schrift erreichte schnell mehrere Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stand die politische Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Französischen Revolution und mit den folgenden Kriegen im Vordergrund. Wie sieht Kant die Revolution und die Republikanisierung, wie steht er zu den Menschenrechten und wie weit ist von ihm eine Veränderung in den deutschen Staaten zu erwarten?

Von Friedrich Schlegel (1772–1829) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) kam jakobinische Kritik: Der Demokratiebergriff sei zu eng und die Staatsformenlehre dulde nach wie vor absolutistische und despotische Herrschaft. Friedrich Gentz, der Berater Metternichs und Sekretär der Heiligen Allianz, lehnte Kants Gedanken einer vertraglichen Übereinkunft vehement ab und sah allein im Gleichgewicht der Kräfte den Weg zur Friedenssicherung – ein Gedanke, der im Ergebnis des Wiener Kongresses seinen Niederschlag fand.

Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) konnte dem Gedanken einer Übereinkunft der Völker nichts abgewinnen. Sicherheit sei daraus nicht zu erwarten, weil staatliche Souveränität unvereinbar ist mit Verpflichtungen gegenüber überstaatlichen Institutionen. Im Ergebnis hält er damit den Krieg als Mittel zur Streitbeilegung zwischen den Staaten für unumgänglich.

Das labile Metternich’sche Gleichgewicht hielt noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert. Die Formierung der Nationalstaaten im Laufe der zweiten Hälfte brachte hingegen einen Rückschlag in der Rezeption der Friedensidee Kants: Nationalismus steht einem verpflichtenden oder auch nur selbstbindenden Bekenntnis der Staaten zu einer übergeordneten Friedensregelung entgegen. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Zuge nationaler Einigungen (Italien; Deutschland) oder umgekehrt im Zuge des Zerfalls von Großreichen in kleine nationale Einheiten (Balkan; Osteuropa) geben ein Bild davon. Kant wurde geradezu verteufelt als Feind des neu entstehenden Nationalbewusstseins der Völker und der Beendigung von Fremdherrschaft. Er muss sich auch dem Vorwurf aussetzen, die zivilisatorische Überlegenheit der europäischen Staaten zugunsten einer weltbürgerlichen Gleichberechtigung zu missachten.

Kant wurde nicht nur von den Nationalisten abgelehnt; für das reaktionäre Österreich des 19. Jahrhunderts war er der Inbegriff alles dessen, was das feudal-konservative Staatswesen stören konnte. Sein Kritizismus war mit Zensur und Klerikalismus schlicht unvereinbar. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, als sich die Rückständigkeit der Monarchie in vielen Bereichen manifestierte und vielen kritischen Geistern bewusst wurde, entwickelte sich in Wien – spät aber doch – der Neukantianismus, der bis in die Anfänge der Republik lebendig blieb.

VI. Der Weg zum Völkerbund und zu den Vereinten Nationen

Im Gegensatz dazu gewinnt in den USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts Kant an Boden, insbesondere seine Idee, Frieden durch übernationale Übereinkunft zu sichern, zumal die Vereinigten Staaten durch einen freiwilligen Zusammenschluss souveräner Staatsgebilde überhaupt erst entstanden sind. Der Gedanke eines Völkerbundes mit einer übernationalen Instanz nach dem Muster des Supreme Court wird in Ansätzen formuliert und findet 1918 auch Eingang in Wilsons 14-Punkte-Programm (so Erwin Mead in Organize the World von 1889).

Deutlich wird die Handschrift Kants bei den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907: Resultat war ein „Ständiger Schiedshof“, wohl keine obligatorische, aber immerhin eine ad hoc zusammentretende fakultative Schiedsgerichtsbarkeit. Reale Bedeutung erlangte die Haager Landkriegsordnung, eine Anlage zu den Haager Friedensabkommen: Nicht der Krieg an sich wird angesprochen, sondern das Verhalten im bereits eingetretenen Kriegsfall, so z. B. der Umgang mit Kriegsgefangenen oder Verhalten in besetzten Gebieten – es ist rein humanitäres Völkerrecht.

Erst nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs wurde Kants Forderung nach einer Übereinkunft der Staaten zur Sicherung des Friedens und sein Ruf nach einem „Völkerrecht“ ernsthaft, wenngleich ohne den erhofften Erfolg, wieder aufgegriffen: 1920 wurde der Völkerbund mit Sitz in Genf gegründet, mit dem Ziel bei internationalen Konflikten zu vermitteln, Streit durch Anrufung eines Schiedsgerichtes beizulegen und die Abrüstung zu fördern. 1922 trat der so geschaffene internationale Gerichtshof zusammen; seine Anrufung im Konfliktfall war nicht obligatorisch, so dass seine Wirkung von Vornherein beschränkt bleiben musste. Der Völkerbund ist jedoch nicht an sich selbst gescheitert, sondern der Druck von außen, die Gewalt des Faschismus und des Nationalsozialismus war zu übermächtig.

Was blieb, war der direkte Weg von der Auflösung des Völkerbundes hin zur Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1946, einem Zusammenschluss von souveränen Staaten zu einem Völkerrechtssubjekt. Der Name Kants wurde wenig bemüht, doch der Bezug zu seiner Schrift Zum Ewigen Frieden liegt auf der Hand.

Hans Kelsen (1881–1920) – schon im kalifornischen Exil – befasste sich intensiv mit der Charta der Vereinten Nationen. Kernpunkt seiner Forderungen war die Abkehr von der freiwilligen Schiedsgerichtsbarkeit des Völkerbundes und die Einrichtung einer obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit. Friedenssicherung sollte nicht in der Programmatik stecken bleiben, sondern durch Rechte und Pflichten durchsetzbar werden. Hier mögen ihm die Erfahrungen mit der Formulierung der österreichischen Bundesverfassung hilfreich gewesen sein – war er doch auch der geistige Vater der Einsetzung eines unabhängigen Verfassungsgerichts in Österreich, eine Errungenschaft, die bis heute als Vorbild für alle demokratischen Staaten gilt.

So wird offenbar, dass die Charta der Vereinten Nationen und noch mehr die Verfassung der Europäischen Union den Gedanken Immanuel Kants folgen: Es schließen sich Staaten zu einem Vertragswerk zusammen und sprechen sich gemeinsam für ein geregeltes, damit für ein friedliches Zusammenleben aus. Das ist per se ein gewaltiger Fortschritt der Menschheit.

Es hat zwar lange gedauert, Rückschläge und blutige Perioden blieben nicht ausgespart, auch die Zukunft ist ungewiss, doch die geistige Grundlage, der von Kant in die Welt gesetzte, damals unerhörte Gedanke einer Friedenssicherung durch Übereinkunft ist nicht mehr rückgängig zu machen

Und dennoch: Nach wie vor werden die Gedanken Kants mit Füßen getreten. Zwei Staaten sind aneinandergeraten – der eine, der Aggressor, ist weit davon entfernt, ein Rechtsstaat zu sein. An seiner Spitze steht ein selbstherrlicher Despot, gegen den sich im Inneren niemand wehren kann, oder will. Es gibt keine demokratische Willensbildung, keine gegenseitige Kontrolle zur Mäßigung. Es fehlen die rechtsstaatlichen Strukturen, um dem Machtrausch ein Ende zu bereiten. Der andere Staat, wir können mit Fug und Recht vom Opfer sprechen, ist auch noch kein gefestigter Rechtsstaat; die wechselnden Regime der jüngeren Vergangenheit haben nicht zur Festigung der ukrainischen Demokratie und ihrer staatlichen Institutionen beigetragen. Es liegt auf der Hand, dass dadurch der Widerstandswille und das reale Widerstandspotenzial nur auf schwachen staatlichen Strukturen steht.

Die potenzielle Einschaltung einer internationalen Institution zur Streitbeilegung ist damit mehr als ungewiss. Der Fortschritt und damit auch Grund zu Hoffnung bestehen allein darin, dass bestehende Zusammenschlüsse, wie die Europäische Union, sich auf gemeinsame Sanktionen verständigt haben und dass diese auch Wirkung zeigen.

VII. Conclusio

Die weitere, wenig optimistische Conclusio: Im gegenwärtigen Konflikt werden nach wie vor wesentliche Forderungen Kants missachtet, so dass man wieder einmal – wie es die großartige Historikerin Barbara Tuchmann schon vor 50 Jahren ausgedrückt hat – von der Torheit der Regierenden sprechen kann: Auf beiden Seiten scheint der klare Blick auf die realen Möglichkeiten und Auswirkungen eines längeren Kampfs getrübt. Wir sind weder ausgewiesene Kenner*innen der Geschichte und der Politik der beiden Staaten, noch des Kriegshandwerks, sodass hier nur der Hoffnung Ausdruck zu geben ist, Humanität möge über Macht und Zerstörungswut siegen. Vielleicht können wir als Sozialdemokrat*innen etwas dazu beitragen, und wenn es nur unsere eigene Bewusstseinsbildung im Sinne des Ewigen Friedens von Immanuel Kant ist.

INGRID NOWOTNY

ist Juristin und war nach ihrer Zeit als Universitätsassistentin an der Universität Linz in Wien im Arbeits- und Sozialministerium im Bereich Arbeitsmarktpolitik in leitender Funktion für Legistik, Arbeitslosenversicherung und Ausländerbeschäftigung tätig. Seit ihrer Pensionierung ist sie Vorsitzende der SPÖ-Bildungsorganisation des Bezirks Wien-Hietzing.

Literatur

Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Ditzingen: Reclam.

Mead, Erwin (1889): Organize the World, Boston.

Eberl, Oliver/Niesen, Peter (2011): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Frankfurt am Main: Berlin.

Tuchman, Barbara (2001): Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam, Frankfurt am Main: Fischer.