„Es braucht eine neue Menschenrechtsbewegung für einen digitalen Humanismus“ VON MUNA DUZDAR UND BERNHARD MÜLLER

In unserem Interview mit MUNA DUZDAR wird der momentane Status des Menschrechtsschutzes im Allgemeinen und im Besonderen in Bezug auf Soziale Medien besprochen. Hier werden insbesondere das Phänomen des „Hasses im Netz“, sowie der Angriff digitaler Überwachungsstaaten thematisiert. Dabei steht die Frage im Raum, was die Sozialdemokratie auch international zum Schutz unabdingbarer Rechte von Menschen tun kann.

Bernhard Müller: Menschenrechte sind in der öffentlichen Wahrnehmung ein präsentes Thema, wenn es um autokratische Regime oder Staaten geht, deren Systeme nicht jenen der Vorstellung westlicher Prägung entsprechen. Weniger häufig wird gefragt, wie es um die Menschenrechte in demokratischen Ländern steht, die teilweise sogar Mitglied der Europäischen Union sind. Was ist Ihre Wahrnehmung dazu?

Muna Duzdar: Menschenrechte stehen heute im politischen Diskurs in der Defensive. Es gibt immer häufiger politischen Druck, beispielsweise die Genfer Flüchtlingskonvention von 1955 auszuhöhlen. Abseits davon werden Menschenrechte allerdings nur mehr im Zusammenhang mit Schutzsuchenden assoziiert, und es wird nicht erkannt, dass eine Erosion dieser auch die Grundrechte der in Österreich Lebenden gefährden würde. Wenn heute für Menschenrechte eingetreten wird, dann fühlen sich die wenigsten Arbeiter*innen und Angestellten in Österreich davon angesprochen, als ob es hier lediglich um den Schutz von anderen ginge. Meistens wird an Fremde gedacht; dass allerdings unsere Demokratie auf Grundrechten aufgebaut ist, fällt aus dem Fokus. Daher wäre es wichtig, hier wieder Bewusstsein dafür zu schaffen, was Menschenrechte sind und wer aller davon profitiert, nämlich wir alle. Leider ist es den rechten Bewegungen gelungen, Menschenrechte als linkes Projekt zu brandmarken, und damit öffentlich und medial als Minderheitenprogramm dazustellen.

B. M.: Sind Sie als Sozialdemokratin zufrieden, was den Einsatz Ihrer Parteienfamilie für den Erhalt bzw. das Erkämpfen von Menschenrechten anbelangt? Böse Zungen behaupten, einst hat man diesbezüglich an sozialdemokratische Vorkämpfer*innen für Menschenrechte gedacht, heute eher an ehemalige sozialdemokratische Premierminister, die nach ihrem Ausscheiden im Sold von Autokraten stehen.

M. D.: Die Arbeiter*innenbewegung ist eine Bewegung gewesen, die historisch eine Vorkämpferin für Demokratie und Freiheit war, so gesehen ist die Arbeiter*innenbewegung eine Menschenrechtsbewegung gewesen. Sei es der Kampf für soziale oder auch politische Freiheitsrechte, die Sozialdemokratie stand immer auf der Seite der Demokratie. Heutzutage akzeptiert die Sozialdemokratie meines Erachtens viel zu leichtfertig Anlassgesetzgebungen und Gesetzesänderungen, die schleichend in rechtsstaatliche Prinzipien eingreifen. Es ist natürlich nicht leicht gegen Stimmungen in der Bevölkerung aufzutreten, wenn beispielsweise nach einem Kriminalfall nach strafrechtlichen Verschärfungen geschrien wird. Dennoch darf sich die Sozialdemokratie nicht von populistischen und populären Stimmungen leiten lassen, insbesondere wenn es um menschen- und rechtsstaatliche Grundsätze geht. Erinnern wir uns noch daran, dass einst ein sozialdemokratischer Justizminister für die Utopie einer gefängnislosen Gesellschaft eingetreten ist? Wer würde es im heutigen Kontext noch wagen, so einen Satz auszusprechen, ohne von einer Hass- und Diffamierungskampagne heimgesucht zu werden; und dies, wo nachweislich erwiesen ist, dass die Kriminalitätszahlen in den letzten Jahrzehnten gesunken sind.

B. M.: Sie waren als Staatssekretärin auch für Digitalisierung zuständig. Was zählen die Rechte der Menschen im digitalen Zeitalter der Überwachungsstaaten und wie kann man diese überhaupt noch schützen?

M. D.: Die Menschenrechtserklärungen sind in einer Zeit vor der Digitalisierung unserer Gesellschaft entstanden, daher müssen die Menschenrechte auf unser digitales Zeitalter erweitert und angepasst werden. Wir betreten in vielen Bereichen Neuland. Heute stehen wir gigantischen Internetkonzernen gegenüber, welche Abermillionen und -milliarden von Daten und Datensätzen auf ihren Servern gespeichert haben, Stichwort Big Data. Das große Geschäft liegt heute in der Verwertung, Analyse und dem Verkauf von Daten. Google, Apple etc. wissen mehr über uns als wir über uns selbst wissen. Unsere täglichen Aktivitäten in den sozialen Netzwerken sind für alle Ewigkeiten gespeichert. Der technische Fortschritt kann im Interesse und zum Nutzen der Menschen eingesetzt werden, er kann aber auch – wie wir aus der Geschichte wissen – gegen die Menschen und die Menschenrechte eingesetzt werden, Stichwort Überwachung. Es braucht daher eine neue Menschenrechtsbewegung, die hier ansetzt wie zum Beispiel auf der Basis des Wiener Manifests für Digitalen Humanismus (vgl. https://dighum.ec.tuwien.ac.at/wp-content/uploads/2019/07/Vienna_Manifesto_on_Digital_Humanism_DE.pdf).

B. M.: Social Networks sind oft vieles, nur nicht sozial: Stichwort „Hass im Netz“. Die fortschreitende Digitalisierung ermöglicht die Verbreitung von Diffamierungen, Unwahrheiten und Hetze, wie es einst die sprichwörtlichen Stammtische niemals geschafft hätten. Sie gehören als Frau und Migrantin zwei Gruppen an, die besonders häufig von Hass und Hetze betroffen sind. Was müssen Ihrer Meinung nach, sozialdemokratische Antworten darauf sein?

M. D.: Nicht nur zu erklären, man sei gegen Hass und Hetze. Das ist zu wenig. Wer das Internet von Hass befreien möchte, muss daran arbeiten, die Menschen in unserer Gesellschaft digital zu mehr Zivilcourage zu ermächtigen, den Diskurs im Internet gegen Hass zu führen. Die digitale Selbstermächtigung kann im Rahmen von Ausbildungen erlernt werden. Wenn sich Gruppen von Menschen zusammenschließen, um Zivilcourage zu zeigen, so ist dies auch in der digitalen Welt möglich. Natürlich braucht es gesetzliche Veränderungen, aber nicht solche, die darin bestehen, jedes Jahr das Strafausmaß für Gesetzesverstöße zu erhöhen, sondern gesetzliche Bestimmungen, die die großen Internetgiganten mehr in die Pflicht nehmen, wenn beispielsweise hetzerische Inhalte nicht gelöscht oder sehr spät gelöscht werden.

B. M.: Abschließend: Sie wurden familiär, in Ihrer Ausbildung, politisch und beruflich sehr international geprägt. Was bedeutet Internationalität für Sie persönlich und was – aus Ihrer Sicht – für die Sozialdemokratie?

M. D.: Es tut mir im Herzen weh, dass die Sozialdemokratie vor mehr als einem Jahrzehnt das internationale Sekretariat aufgegeben hat. Es ist ein Signal dafür, dass internationale Politik keine Priorität in der Sozialdemokratie hat. Während die Erosion der Menschenrechte und des Rechtsstaates – auch angesichts der weltweiten Sicherheitsbedrohungen – weiter schleichend voranschreiten, wäre meines Erachtens die einzige Alternative dazu, diesem Trend etwas entgegenzusetzen, indem man politische Stabilität in der Welt und insbesondere in den umliegenden Regionen Europas schafft. Das geht nur mit viel Diplomatie und politischem gemeinsamen Willen und nicht mit nationalstaatlichen wirtschaftlichen Einzelinteressen in der Region, und auch nicht mit militärischen Interventionen. Die Destabilisierung der Regionen im Nahen Osten, in Nordafrika, die Entstehung von „failed states“ und die vielen Kriege, sowie Bürgerkriege, sind der Nährboden für Terror und terroristische Organisationen, welche Europa bedrohen. Die Reaktion darauf darf nicht der Abbau von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen sein, sondern eine wirkliche Friedenspolitik, die politische und wirtschaftliche Stabilität in den Regionen um Europa herum schafft.

Dieses Interview erschien in einer früheren Version erstmals in: Müller, Bernhard/Weinstabl, Constantin (Hg.) (2021): Sozialdemokratische Außenpolitik. Historisches Selbstverständnis und aktuelle Ausblicke, Wien: Promedia, 325–328.

SOZIALDEMOKRATISCHE AUSSENPOLITIK

HG. VON BERNHARD MÜLLER UND CONSTANTIN WEINSTABL

Wien: Promedia

360 Seiten | € 23,00

ISBN: 978-3853714843

Erscheinungstermin: August 2021

MUNA DUZDAR hat an der Universität Wien Rechtswissenschaften und an der Sorbonne Paris Internationales Recht studiert. Von 2016 bis 2017 war sie Staatssekretärin für Diversität, Öffentlichen Dienst und Digitalisierung im österreichischen Bundeskanzleramt und bis 2019 Abgeordnete zum Nationalrat.

BERNHARD MÜLLER studierte Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien sowie postgradual Public Management in Linz/Wels. Von 2005 bis 2015 war er Bürgermeister der Statutarstadt Wiener Neustadt und ist aktuell Generalsekretär von Urban Forum – Egon Matzner-Institut für Stadtforschung.