Warum das Theater überleben wird, welche Potenziale es bereithält und weshalb man einfach nicht nicht politisch sein kann – über diese Themen und auch über die Bildstrecke zur aktuellen Ausgabe spricht die ZUKUNFT-Redakteurin HEMMA M. PRAINSACK mit der erfolgreichen österreichischen Regisseurin CHRISTINA GEGENBAUER.
Hemma Prainsack: Ist Theater Utopie?
Christina Gegenbauer: Theater ist ein Möglichkeitsraum und er bietet auch die Möglichkeit zur Utopie. Theater kann Utopie bleiben, aber es kann auch die Gesellschaft verändern – dann entsteht aus einer Utopie eine neue, hoffentlich bessere Welt.
H.P.: Wie verhält sich Deine Arbeit mit Schauspieler*innen und unterschiedlichen Generationen?
Ch. G.: Ich konzentriere mich ausschließlich auf den Inhalt des Stückes und auf das, was ich umsetzen will. Das erarbeite ich im Vorfeld sehr sorgfältig. Ich interessiere mich für die Menschen, für die Arbeit und das, was sie hineinbringen in den Probenprozess. Und darüber entsteht das Vertrauen in die gemeinsame Arbeit. Ich habe einen Geschmack und Sinn für die Atmosphäre der Produktion, und ich kenne die Richtung, in die ich mit der Arbeit gehen will. Der Weg ist das Ziel, das ist gültig, die Richtung ist vorgegeben. Man kann sich sehr schnell in der Recherche rundherum verlieren, unter welchen Voraussetzungen und mit welcher Motivation ein Text entstanden ist. Für mich geht es darum, wie ich den Text heute wahrnehme, wie ich ihn heute interpretiere und was mich jetzt daran interessiert. Der aktuelle Moment allein zählt – und wie das heutige Publikum die Produktion aufnimmt. In den Theaterproduktionen setze ich kein Vorwissen voraus. Ich mache Theater für alle.
H.P.: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine heftige Debatte, ob das neue Medium Kino das Theater verdrängen würde. Ein Jahrhundert später hat sich mit dem Aufkommen der digitalen Medien und den Möglichkeiten des Internets das Zuschauer*innenverhalten und auch -bedürfnis drastisch verändert. Warum braucht der Mensch (noch) das Theater?
Ch. G.: Dieses 2000 Jahre alte Medium wird auch die nächste Pandemie überleben. Ich bin mit dem Theatervirus infiziert, weil die leibliche Kopräsenz von Akteur*innen und Publikum und das kollektive Erleben eine wahnsinnige Faszination ausüben. Theater hat viele Funktionen: Es ist eine gute Wahrnehmungsschule, eine Übung für Empathie, ein Raum, der Denkanstöße liefert für Debatten, Theater ist ein Ort für Reflexion, für Unterhaltung. Theater beeinflusst die Gedanken- und Gefühlswelt. Und – es ist auch ein ritueller Raum, in dem jedes Mal die gleichen Regeln gelten und es bei jedem Besuch dieselben Abläufe gibt. Es ist jene autopoietische Feedbackschleife, nach Erika Fischer-Lichte, proaktiv Teil an etwas zu haben, nicht nur Adressat*in zu sein. Jede*r weiß, dass alles, jedes Husten, jedes Kramen in der Tasche, Handyläuten oder Rascheln eines Zuckerlpapiers einen Einfluss hat auf das, was auf der Bühne passiert und das, was andere wahrnehmen. Jeder Lacher beeinflusst die Stimmung. Darum ist nicht jeder Abend gleich, kann nicht jeder Abend gleich sein, weil immer andere Leute im Zuschauerraum sitzen. Eine Wechselwirkung findet statt.
H.P.: Heiner Müller meinte in Bezug auf Zuschauer*innen, „die Interpretation ist die Arbeit des Zuschauers, die darf nicht auf der Bühne stattfinden. Dem Zuschauer darf diese Arbeit nicht abgenommen werden. Das ist Konsumismus, dem Zuschauer diese Arbeit abzunehmen, das Vorkauen. Das ist kapitalistisches Theater. Aber es ist das vorhandene und das übliche.“ Ist das Deines Erachtens noch gültig?
Ch. G.: Ja! Es wäre für mich sehr langweilig, wenn etwas vorgekaut wird. Es ist für mich wichtig, immer Raum für die Fantasie der Zuschauer*innen zu lassen und so die Möglichkeit zu eröffnen, sich eine eigene Meinung zu bilden, eigenes Empfinden wahrzunehmen. Dass jede*r die Produktion etwas anders erlebt hat, führt zu den spannenden Gesprächen in der Pause oder nach der Vorstellung – es regt zur Unterhaltung, zum Austausch an. Zumindest für das Theater, das ich mache.
H.P.: Wie sieht es mit zeitgenössischen Dramen für das Theater aus?
Ch. G.: Es gibt viele großartige Autor*innen heutzutage, die gespielt gehören. Meines Erachtens werden sie im deutschsprachigen Raum nicht oft genug gespielt. Warum denn Klassiker entstauben und aktualisieren, wenn es aktuelle Texte gibt, die unsere Zeit, die gesellschaftlichen Wandlungen in heutiger Form widerspiegeln. Ich habe mich dazu entschieden, vorwiegend mit modernem Textmaterial zu arbeiten.
H.P.: Was ist das Theater für ein Raum?
Ch. G.: Für mich sind es Zustandsräume. Ein Zustandsraum ist ein Äquivalent dazu, wie sich die Figuren fühlen, es sind die Emotionen des Stückes. Der Raum wiederum bringt die Schauspieler*innen oder die Figuren in gewisse Zustände. Ist beispielsweise der Boden wackelig, auf dem die Figuren stehen, dann deutet das auf eine Instabilität in deren Beziehung zueinander hin. Ein Text macht Räume auf. Sobald ein Wort fällt, wird der Raum gestaltet. Er erzählt den Raum. Darum sind die Zusammenarbeit und der enge Austausch mit Bühnenbildner*innen für mich so wichtig. Derzeit arbeite ich mit dem Ausstatter Frank Albert zusammen, mit dem ich ausgezeichnet an Konzepten arbeiten kann, ich empfinde den künstlerischen Austausch mit ihm sehr inspirierend.
H.P.: Im Jahr 2017 hast Du im Staatstheater Nürnberg das Stück Gift. Eine Ehegeschichte der niederländischen Dramatikerin Lot Vekemans inszeniert. Auf der Bühne zeigt sich ein großer Erdhaufen, auf dem das Ehepaar spielen muss.
Ch. G.: Genau, hier hat Birgit Leitzinger das Bühnenbild entworfen. Das Stück behandelt die Trennung eines Ehepaars nach dem Tod ihres gemeinsamen Kindes. Wir lassen das Stück auf einem großen Erdhaufen spielen. Erde kann verschiedene Zustände annehmen, sie kann einen Kampfplatz, ein Grab und einen Strand darstellen, das Ehepaar wühlt im sprichwörtlichen Sinn in der Erde, Mann und Frau entdecken Dinge in der Erde, sie graben in der Erde nicht nur nach Gegenständen, sondern auch nach der Wahrheit.
H.P.: Im Rahmen des Viertelfestival Niederösterreich hast Du die selten gespielte Posse Hin und Her von Ödön von Horváth im slowakischen Záhorská Ves aufgeführt. Deine Inszenierung wurde zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen eingeladen. Wie bist Du auf den besonderen Ort an der March gekommen?
Ch. G.: Ich habe nach einem grotesken, absurden Ort Ausschau gehalten und bin auf Záhorská Ves gestoßen, einen Ort, der durch den Fluss March von Österreich getrennt und nur mit einer Autofähre zugänglich ist. Auf die Fähre passen nur sechs Autos und sie fährt nur, wenn die Witterungsverhältnisse ideal für die Überfahrt sind. Das ist grotesk für alle, die hin und her müssen. Es war die erste Aufführung des Stückes in der Slowakei, die wir mit slowakischen Übertitel, finanziert vom österreichischen Kulturinstitut, auf Deutsch gespielt haben. Am Spielort haben die Zuschauer*innen wie auf einem Tenniscourt Platz genommen, das hat die gleiche Situation widergespiegelt, in der die Bewohner*innen leben: gegenüber und voneinander getrennt, in diesem Fall durch einen „Tennisplatz“. Die Bühne, wie auch in der Bildstrecke ersichtlich wird, zeigt auch die Situation des staatenlosen Protagonisten, der wie ein Ball hin und her geschossen, hin und her geschoben wird, da keines der beiden Länder den Staatenlosen aufnehmen will.
H.P.: Das Stück ichglaubeaneineneinzigengott.hass von Stefano Massini über ein versuchtes Selbstmordattentat in einer Bar in Tel Aviv zeigt, wie durch die Verfremdung am Theater Ängste angesprochen und Vorbehalte thematisiert werden können. Wie politisch kann oder muss Theater sein?
Ch. G.: Meines Erachtens kann Theater verwendet werden, um Angst abzubauen. Da gehört die Angst vor dem Fremden dazu. Erst wenn etwas greifbar wird, kann man feststellen, dass die eigene Angst in der Fantasie oftmals viel größer ist als die Begegnung mit dem, vor dem man Angst hat. Ich finde, man kann nicht nicht politisch sein. Selbst der Versuch, nicht politisch zu sein, ist eine politische Entscheidung.
H.P.: Du inszenierst vorwiegend in Deutschland. Wie ist die Arbeitssituation für junge Theatermacher*innen in Österreich?
Ch. G.: Ich war zwei Jahre fest am Theater Münster engagiert, wo auch meine erste Regiearbeit stattfand. Das hat dazu geführt, dass ich vorwiegend in Deutschland arbeite. Ich würde gerne mehr an österreichischen Häusern inszenieren. Es ist anders, von Zuhause aus arbeiten zu können, im eigenen Bett zu schlafen und am Wochenende sein gewohntes soziales Umfeld zu haben. Ich liebe es, unterwegs zu sein, aber es hat nicht nur Vorteile. In der Theaterlandschaft ist die Konkurrenz sehr groß, und gerade durch Corona kommen weniger Neuproduktionen auf den Spielplan, da es einen Rückstau an Produktionen gibt, die noch herauskommen müssen. Es ist eine Herausforderung.
H.P.: Was können die Verantwortlichen der (Kultur) Politik für junge Theatermacher*innen tun?
Ch. G.: Ich frage mich, wie lange man jung ist. Als Regisseurin gelte ich mit Anfang 30 noch als jung. Wäre ich Schauspielerin, würde ich in diesem Alter bereits in ein neues Rollenfach wechseln und nicht mehr für jugendliche Rollen besetzt werden können. Ich würde mir wünschen, dass in Österreich die Förderungen für Theater umverteilt werden und Subventionen in professionelle Theaterräume fließen, die für junge Theaterschaffende als Sprungbrett zur Verfügung stehen.
H.P.: Wie blickst Du in die Zukunft des Theaters und was möchtest Du für Dich und Deine Zukunft am Theater?
Ch. G.: Mir persönlich wünsche ich die Leitung eines Theaters, um Spielpläne zu gestalten und ein Ensemble zu leiten. Das erweitert die Möglichkeit, mit Theater auf die Gesellschaft einzuwirken. Für das Theater selbst wünsche ich mir, dass das Medium in der Politik einen höheren Stellenwert bekommt, sein Potenzial erkannt wird und zumindest Subventionen nicht gekürzt werden. Damit das kollektive Erleben in diesem Medium weiterhin Gemeinschaft stiften kann.
CHRISTINA GEGENBAUER
studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Sie inszenierte u. a. am Burgtheater, Staatstheater Nürnberg, Theater Regensburg, Theater Münster und am Theater Bielefeld. Ihre Inszenierung von Horvaths Hin und Her wurde zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen eingeladen. 2019 wurde ihr der Kulturpreis des Landes Niederösterreich in der Sparte Darstellende Kunst verliehen.
HEMMA M. PRAINSACK
ist Film- und Theaterwissenschaftlerin. Ihre Dissertation widmet sie dem Filmstar Harry Piel und dem Sensationsfilm im Wandel zwischen Kaiserzeit, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verein Institut für Kulturstudien. Davor war sie Angestellte der Generaldirektion des Österreichischen Rundfunks und bei zahlreichen Produktionen am Burgtheater Wien im Bereich Regie und Video tätig.