Der Beitrag von THOMAS NOWOTNY bespricht ein Buch von David Gelles über Jack Welch, den einstigen Vorstandsdirektor des US-Traditionsunternehmens General Electric. Laut den Zeitschriften Economist und Fortune war Welch einer der erfolgreichsten Manager des 20. Jahrhunderts. Die Auseinandersetzung mit dieser Persönlichkeit gibt Nowotny auch einen Anlass, die gegenwärtige wirtschaftliche Lage kritisch zu beleuchten.
I. Einleitung
Sowohl in den USA wie auch in Europa waren die Nachkriegsjahre bis in die frühen 1970er-Jahre von rasch steigendem und breit gestreutem Wohlstand geprägt. Seither hat sich das Wachstum verlangsamt. Von diesem geringeren Wachstum haben vor allem die schon Reicheren profitiert. Die Ungleichheit in Einkommen und Vermögen hat zugenommen, langsam in Europa, drastisch in den USA. Dort sind heute die Einkommen annähernd so ungleich verteilt, wie in Lateinamerika, das für seine großen Unterschiede zwischen Arm und Reich bekannt ist. In den Unternehmen hat sich die Kluft zwischen den reich entlohnten Vorständen und den einfachen Arbeiter*innen gigantisch erweitert.
Die durchschnittliche jährliche Entlohnung der Vorsitzenden der großen US-Unternehmen betrug im Jahre 1978 1,85 Millionen US-Dollar (das war das 50-fache des damaligen Durchschnittseinkommens eines Arbeiters). Vierzig Jahre später bezogen die Vorstände von US-Großunternehmen im Durchschnitt eine jährliche Entlohnung von 21,5 Millionen Dollar. Das ist eine Steigerung um 940 % und das 368-fache dessen, was durchschnittliche US-Arbeiter*innen im Jahre 2018 verdient haben (Mishel/Wolfe 2019). Das Wachstum der Produktivität der US-Wirtschaft ist in den letzten Jahren in Form von „Aktienrückkäufen“ und Dividenden in hohem Ausmaß Aktienbesitzer*innen zugutegekommen. Zwischen 2003 und 2012 flossen die Gewinne von Aktiengesellschaften zu 54 % in Aktienrückkäufe und zu 37 % in Dividenden. Das ließ nur wenig übrig für Investitionen, Forschung und Entwicklung (RD) sowie Lohnsteigerungen. Wären die Gewinne anders verwendet und großteils an Arbeitnehmer*innen weitergegeben worden, dann hätten die durchschnittlichen US-Arbeitnehmer*innen 2014 über ein Jahreseinkommen von 102.000 US-Dollar verfügen können. Ihr heutiges tatsächliches Einkommen ist aber nur halb so hoch (Lazonik 2014).
Die Privilegierung der Aktienbesitzer*innen hat die US-Industrie nicht gestärkt. Die Industrieproduktion hat 2020 lediglich 11 % zum US-Nationalprodukt beigetragen (zu vergleichsweise 27 % in China, 20 % in Japan, 18 % in Deutschland und 19 % in der Schweiz ). Zwar sinkt mit wachsendem Wohlstand tendenziell der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung,[1] aber wie das Beispiel des Hochlohnlandes Schweiz zeigt, ist das nicht zwingend. Ein hoher Anteil der Industrie ist jedenfalls maßgeblich für das internationale wirtschaftliche Standing eines Staates. Die industrielle Produktion erfolgt nämlich überwiegend im sogenannten „exponierten Sektor“ der Volkswirtschaft, also in jenem Teil der Wirtschaft, der mehr als andere Sektoren der internationalen Konkurrenz ausgesetzt ist. Die Größe, Produktivität und Konkurrenzfähigkeit einer heimischen Industrie bestimmt damit großteils den äußeren Wert einer Landeswährung und damit die Wirtschaftsmacht eines Landes.
Wie im Vereinigten Königreich (wo die Industrieproduktion nur mehr 9 % zum Nationalprodukt beiträgt) war auch in den USA der Prozess der Deindustrialisierung ein sehr rascher. Das legt nahe, dass das wahrscheinlich sehr stark durch das beiden Staaten gemeinsame Wirtschaftsmodell bestimmt ist, welches die Aktionär*innen vor allen anderen Teilhabern*innen an der Wirtschaftsentwicklung privilegiert (shareholders value). Diese Privilegierung steht im Widerspruch zu empirisch gesicherten Daten darüber, welche Faktoren zum Wirtschaftswachstum beitragen. Die traditionelle Nationalökonomie hat nur zwei dieser Faktoren erkennen wollen. Nämlich die Arbeitskräfte auf der einen Seite und das Kapital auf der anderen. Dabei wurden aber andere, wirkungsstarke Faktoren übersehen. Diese Faktoren sind unter dem Begriff „Gesamtfaktorproduktivität“ (total factor productivity – TFP) gebündelt und setzen sich u. a. aus der beruflichen Qualifikation und Ausbildung der Arbeitskräfte (human capital), aus staatlichen Vorleistungen wie Infrastruktur und vor allem aber aus technischem Fortschritt zusammen.
Diese Gesamtfaktorproduktivität (TFP) ist in hohem Maß gesellschaftlich und politisch bestimmt. Sie trägt mehr zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität bei als zusätzliche Arbeitskräfte oder zusätzliches Kapital. Der Beitrag, den zusätzliches Kapital zum Wirtschaftswachstum leistet, ist mit höchstens einem Viertel relativ gering. Trotzdem wurde in der Praxis – vornehmlich in den USA – dem Kapital die führende Rolle in der Wirtschaftspolitik und auch in der Führung von Unternehmen zuerkannt. Die Aktienbesitzer*innen wären als „Prinzipal*innen“ die allein verantwortlichen Herrscher*innen, denen sich alles andere, und auch die Vorstände, als bloße ausführende „Agent*innen“ unterzuordnen hätten.
Vieles hat dazu beigetragen, dass sich diese Sicht der Dinge durchgesetzt hat und dass die absolute Herrschaft der Aktionär*innen als legitim hingenommen wurde: die wachsende Ungleichheit der US-Einkommen, die unverhältnismäßig große politische Macht der Reichen, ohne deren Unterstützung US-Politiker*innen ihre Wahlkämpfe nicht finanzieren können und schließlich die Tatsache, dass Pensionen und Gesundheitsversicherung weitgehend in Aktienbesitz abgesichert sind, so dass viele Bürger*innen an hohen Dividenden und Aktienkursen interessiert sind.
II. Von der Chicago School
Ausschlaggebend ist aber auch, dass die Herrschaft der Aktionär*innen ideologisch abgesichert wird und dadurch natürlich und unabdingbar scheint. Diese ideologische Absicherung besorgte die „Chicago Schule“ der Nationalökonomie und vornehmlich deren prominentester Vertreter Milton Friedman. Er stützt sich dabei auf die „österreichische Schule der Nationalökonomie“ und insbesondere auf Friedrich August von Hayek. Hayek sieht die wirtschaftliche Entwicklung als einen ergebnisoffenen, evolutionären Prozess, in dem sich – ähnlich wie in der biologischen Entwicklung – jener gegenüber der Konkurrenz durchsetzen kann, der die ihm zugängliche Marktnische – gleichsam eine ökologische Nische – am besten nützt. Um optimal wirksam zu sein, muss die Konkurrenz frei und unbehindert ablaufen, unbehindert insbesondere von staatlichen und d. h. immer auch politischen Eingriffen.[2]
In einem richtungsweisenden Essay im Magazin der New York Times legt Milton Friedman (1970), der Wortführer der neoliberalen Ökonom*innen, diesen Zusammenhang in quasi normativer Weise fest. Es ist nicht Aufgabe der Unternehmer*innen, sich diese oder jene soziale Verantwortung – etwa das Wohl der Arbeitnehmer*innen, die Interessen der Standortgemeinde oder die Sorge um die Umwelt – aufzubürden. Das sei Aufgabe der Politik, die für entsprechende Regelungen und Steuern zu sorgen hat. Management von Unternehmen und Politik seien zwei Bereiche, die getrennt bleiben müssen. Das Management als „Agent*in“ der „Prinzipal*innen“ habe den alles andere ausschließenden Auftrag, die Gewinne möglichst hochzuhalten. Das Wirken eines Unternehmens wäre also von den „Prinzipal*innen“ bestimmt. Prinzipal*innen wären als Eigentümer*innen der Unternehmen die Aktienbesitzer*innen mit ihrem ausschließlichen Interesse an maximalem Gewinn.[3] Milton Friedman war also Prophet und Legitimator einer Fokussierung der Unternehmenspolitik auf die Interessen der Aktienbesitzer*innen.[4] Er brachte und legitimierte damit eine Wende in der bis dahin gültigen amerikanischen Unternehmenspraxis und Unternehmenskultur.
III. General Electric and The Man Who Broke Capitalism
Unter ihrem neuen Alleinvorstand Jack Welch war die US-Traditionsfirma General Electric (in der Folge abgekürzt mit GE) das erste US-Großunternehmen, das die Friedmansche Ideologie praktisch und radikal umgesetzt hat. Das in diesem Beitrag besprochene Buch des Starjournalisten der New York Times David Gelles analysiert nun die tatsächlichen Ergebnisse und Folgen einer Unternehmenspolitik, welche auf die Maximierung der Gewinne von Aktienbesitzer*innen ausgerichtet ist.
Die Firma GE war vom Erfinder Thomas Edison gegründet worden. GE entwickelte in der Folge u. a. Generatoren, Elektromotoren, den Toaster und Ventilator, das fluoreszierende Licht und die dieselelektrische Lokomotive. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erzeugte GE den ersten amerikanischen Düsenmotor, erfand verformbares Plastik und 1962 den Laser. Als Jack Welch 1981 den Vorstand von GE übernahm war das Unternehmen höchst erfolgreich. Es beschäftigte 400.000 Arbeitnehmer*innen, erzeugte 1 % des US-Nationalproduktes und investierte 10 % seiner Gewinne in Forschung und Entwicklung. Nur ein kleiner Teil der Gewinne floss an die Besitzer*innen der Aktien von GE, weitaus mehr an die Arbeitnehmer*innen. GE war damals profitabler als lediglich 9 unter den in Fortune 500 gelisteten Firmen.
GE war ob dieser Erfolge wahrscheinlich selbstzufrieden geworden. Andere Staaten – und damals vornehmlich Japan – hatten bereits die Führerschaft in der Entwicklung vieler neuer Industrieprodukte und Industriezweige übernommen. Jack Welch schlug Alarm. Aber statt die US-Industrie zu sanieren und wieder an die Weltspitze zu bringen, haben er und seine Gefolgsleute die US-Industrie ausgehöhlt und damit der stärkeren internationalen Konkurrenz ausgeliefert. In einer kurz nach seinem Amtsantritt gehaltenen Rede hat Jack Welch sich publizitätswirksam das Ziel gesetzt, GE zum „weltweit konkurrenzstärksten Unternehmen“ zu machen. Die Werkzeuge, welche er dazu eingesetzt hat, waren allerdings nicht nur ungeeignet, sondern kontraproduktiv, ebenso wie der Maßstab, an dem die Konkurrenzfähigkeit gemessen werden sollte.
Maßstab für die Konkurrenzfähigkeit war in Sicht des neuen GE-Vorstandes Jack Welch nämlich die Höhe der den Aktienbesitzer*innen (und Vorständen) zufließenden Gewinne. Diese Gewinne ließen sich einerseits durch das Absenken von Produktionskosten erwirtschaften und andererseits durch Manipulation der Aktienkurse, Kauf und Verkauf von Unternehmen und durch den Übergang von industrieller Produktion zu Aktivitäten im Finanzsektor.
Die Senkung der Produktionskosten sollte durch drei Maßnahmen erwirkt werden: durch downsizing, outsourcing und offshoring – also durch
- die Kündigung von Arbeitskräften nach dem starren und brutalen Schema von „rank and yank“.Jährlich sollten demnach in jedem GE-Unternehmen 10 % der am wenigsten produktiven Arbeitnehmer*innen freigesetzt werden.[5]
- die Auslagerungvon Aufgaben (wie etwa Buchhaltung, Reinigungs- oder Wachdiensten etc.) an Subunternehmen mit schlechter bezahlten Arbeitnehmer*innen und
- die Verlagerung von Industrieproduktion in US-Niedriglohnregionen oder gar ins Ausland . Gemäß einer Aussage von Jack Welch sollte man „idealerweise Industriebetriebe auf einen seegängigen Lastkahn setzen, der dort vor Anker geht, wo die Produktionsbedingungen die günstigsten sind“. Jack Welch skizziert so das Ideal von Unternehmen, die frei sind von jeglicher Bindung und Verantwortung für eine staatliche oder lokale Gemeinschaft.
Um Aktienkurse hochzuhalten, muss Anleger*innen der Erwerb von ohnehin schon im Vergleich zu den Renditen hochpreisigen Aktien durch die Hoffnung auf stetige, gleichbleibende und gute Renditen schmackhaft gemacht werden. Jack Welch ist das in seiner Zeit als Vorstand der GE in der Tat gelungen. Er konnte die Aktienrendite ununterbrochen und durch alle Zyklen der US-Wirtschaftskonjunktur gleichmäßig hochhalten. Das ist ein sehr unwahrscheinlicher Erfolg, denn man sollte wohl vermuten, dass sich in einem so breit aufgestellten Wirtschaftsunternehmen wie GE, eine Rezession der gesamten US-Wirtschaft zwangsweise negativ auch auf das Unternehmen auswirkt. Auch sollte man vermuten, dass die Gewinne eines solchen, breit aufgestellten Unternehmens auf Dauer nicht stets und stark über dem Zuwachs der Produktivität in der gesamten US-Wirtschaft liegen kann. Wie also konnte in der zwanzigjährigen Phase in der Jack Welch das Unternehmen geleitet hatte, GE so weit und gründlich von der Entwicklung der realen amerikanischen Wirtschaft abweichen? Wie konnte GE den Gesetzen der wirtschaftlichen Schwerkraft entkommen?
IV. Aufstieg und Fall eines Musterunternehmens
Man kann ausschließen, dass GE deshalb so erfolgreich gewesen wäre, weil es in dieser Zeit laufend neue Produkte entwickelt hat und mit diesen, als Innovator und zeitweiser Marktführer, überdurchschnittliche Gewinne realisieren konnte.[6] Unter Jack Welch hat GE im Gegenteil keine wirklich neuen Produkte entwickeln und anbieten können. Symbolisch für dieses Abseitsstehen war, dass gleich nach dem Amtsantritt Jack Welchs, die GE-Abteilung für Strategische Planung eingespart wurde. Als das US-Paradeunternehmen RCA gekauft wurde, hat man dessen weltberühmtes Forschungs- und Entwicklungslabor in der Universitätsstadt Princeton abgestoßen. Woher wenn nicht aus neuen Produkten kamen also die hohen, durch 80 Quartale gleichbleibenden Gewinne des Unternehmens?
Die gleichbleibend hohen Gewinne kamen zum Teil aus dem laufenden Ankauf und Verkauf von Unternehmen. GE hat unter Jack Welch etwa tausend solche Unternehmenskäufe getätigt. Sie haben es ermöglicht, Erträge und Verluste zwischen den Unternehmen (oft auch nur buchwertig) zu verschieben, damit auszugleichen und Gewinne manchmal auch nur vorzutäuschen. In beträchtlichem Ausmaß resultierten die Gewinne auch aus den Ankäufen eigener Aktien, wie sie später in US-Aktiengesellschaften allgemein üblich wurden.[7] Vor allem aber kamen die hohen Gewinne GEs aus dem Wechsel von der Industrieproduktion hin in den Finanzbereich. Werkzeug dazu war GE Capital. Diese Einrichtung war ursprünglich geschaffen worden, um den Kunden von GE den Erwerb von Kühlschränken und anderer elektrischer Konsumgüter zu finanzieren. Später entwickelte sich GE Capital aber zu einer Quasibank mit einer Tätigkeit auch in riskanten Bereichen wie Hypothekarkrediten und Versicherungsunternehmen. Da ließen sich Gewinne leichter und schneller erzielen als durch Investitionen in teure Fabriken und kostspielige Arbeitskräfte. Am Gipfelpunkt dieser „Finanzialisierung“ von GE erwirtschaftete GE Capital 40 % des Umsatzes und 60 % der Gewinne des Mutterunternehmens.
Solche Praktiken haben GE seinem ursprünglichen Charakter als ein führendes, innovatives Industriemusterunternehmen entfremdet. Aber genau diese Praktiken haben es Jack Welch andererseits erlaubt, sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen und im Jahre 1993 war GE gemessen an seinem Buchwert tatsächlich zum weltweit reichsten Unternehmen aufgestiegen (Wartzman 2017: 263). Jack Welchs Nachfolger hat dessen Kurs fortgeführt. Schlussendlich aber und zwangsweise musste das durch mangelnde Innovation und unzureichende reale Investitionen hohl gewordene Gebäude einstürzen. Auslöser war die US- und Weltfinanzkrise der Jahre 2007 bis 2011. Den Ausgang genommen hatte diese Krise durch den drastischen Einbruch des US-Hypothekenmarktes. GE Capital hatte gerade in diesen Markt investiert, und zwar ausgerechnet in dessen riskantesten Teil.[8] Präsident Obama musste GE mit einer Überbrückungshilfe von 139 Milliarden US-Dollar zur Seite stehen.[9] Schrittweise wurden später Teile des Großunternehmens abgestoßen, bis sich die Tätigkeit zuletzt nur mehr auf die Herstellung von Düsenmotoren reduziert hatte.
Symbolischer Schlusspunkt war 2018 der Beschluss der New Yorker Börse, GE nicht mehr unter jenen Unternehmen zu listen, welche in einem Index für den Durchschnitt der US-Industriebetriebe zusammengefasst waren. Der Beschluss der Börse ist verständlich, denn 2017 waren die GE-Aktienkurse um 55 % eingebrochen, während sich der Dow Jones Index (der an der Wallstreet gelisteten Unternehmen) um 50 % erhöht hatte. Ähnlich ging es jenen Unternehmen, welche von einstigen Mitarbeiter*innen Jack Welchs geleitet worden waren. In den Jahren nach 2000 hatten fünf unter den 30 mächtigsten US-Unternehmen Vorstände, welche einst an prominenter Stelle in GE tätig gewesen waren. Die Ankunft dieser Wunderknaben, die sofort eingeleiteten radikalen Kostensenkungen und die Manipulationen, welche sie bei GE gelernt hatten, ließen die Aktienkurse zunächst steigen. Später aber begannen die Unternehmen unter dieser alleinigen Ausrichtung auf Kurs- und Renditengewinne zu leiden.
V. Von Boeing und Airbus
Ein besonders drastisches Beispiel liefert das Paradeunternehmen Boeing, das damals sukzessive von zwei ehemaligen Mitarbeiter*innen Jack Welchs geleitet worden war. In Entsprechung der Praxis von GE setzten diese Vorstände vor allem auf eine Senkung der Produktionskosten. Mitarbeiter*innen wurden gekündigt. Die Eigenproduktion von Teilen wurde vermehrt durch Zukäufe ersetzt. Um Steuern zu sparen, wurde der Firmensitz vom angestammten Seattle nach Chicago verlegt und ein Teil der Produktion von Seattle nach South Carolina, wo es keine Gewerkschaften gab, die Lohnforderungen durchsetzen hätten können. Um Kosten zu minimieren, traf man eine folgenschwere strategische Fehlentscheidung. Statt die alternde Boeing 737 durch ein völlig neues Flugzeug zu ersetzen, hat man die in die Jahre gekommene 737 lediglich etwas modernisiert. Fatalerweise wurde dabei statt der sonst standardmäßig geforderten zwei Sensoren nur ein solcher Sensor (für den Flugwinkel) eingebaut. Um Kosten zu sparen, wurde die entsprechende Software nicht mit dem Cockpit verknüpft. Folge waren zwei Unfälle, bei denen alle Insassen ums Leben kamen. Die neue 737 musste für längere Zeit aus dem Verkehr gezogen werden. Schließlich ist die einst weltweit führende Firma Boeing hinter ihren wichtigsten Konkurrenten Airbus zurückgefallen. Kostenreduktion allein bringt und hält einen offensichtlich nicht an der Weltspitze.
Folgt man dem öffentlichen Diskurs und neuen formellen und informellen Regelungen, so scheint die absolute Herrschaft der Aktionär*innen über die Wirtschaft heute jedoch schon beendet zu sein. Alle großen Aktiengesellschaften haben heute eigene Abteilungen, in denen über ein gesellschaftlich verantwortliches Handeln gewacht werden soll (corporate social responsibility). Der einflussreiche amerikanische Business Roundtable, der 1997 noch erklärt hatte, dass es die oberste Pflicht des Managements wäre, die Interessen der Aktionär*innen zu bedienen („The paramount duty of management … is to the corporation’s stockholders“) hat radikal umgeschwenkt und fordert 2019: die Berücksichtigung aller stakeholders, also der Arbeitnehmer*innen, der Gemeinden und Städte in denen das Unternehmen tätig ist, den Schutz der Umwelt etc.
Auch gibt es inzwischen Aktiengesellschaften, die sich von anderen Prioritäten und nicht von den kurzfristigen Interessen der Aktienbesitzer*innen leiten lassen und die dabei – wie etwa Unilever oder PayPal – überdurchschnittlich erfolgreich sind. Es gibt die Familienunternehmen, es gibt Unternehmen, deren Aktien im Besitz ihrer Mitarbeiter*innen stehen, es gibt genossenschaftlich organisierte Unternehmen. Die meisten dieser anders aufgesetzten Unternehmen sind langlebiger und erfolgreicher als Aktiengesellschaften (oder private Equity Fonds). Diese anders ausgerichteten Unternehmen sollten den Totalitätsanspruch der Aktienbesitzer*innen entkräftet haben.
Auch die Europäische Union versucht die Ansprüche der Aktionär*innen und die daraus resultierenden Auswüchse des Aktionärskapitalismus einzuschränken. Das geschieht zum Beispiel durch Vorschriften mit dem Ziel, Exzessen in der Entlohnung der Vorstände einen Riegel vorzuschieben.[10] All das und all die gigantischen wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die Jack Welch und seine amerikanischen und weltweiten Nachfolger*innen und Schüler*innen verursacht haben, konnten diesem Gegenwind zum Trotz nicht verhindern, dass sein auf kurzfristige Finanzerfolge abgestelltes Modell der Unternehmensführung in der tatsächlichen Praxis der „westlichen“ Wirtschaft nach wie vor das prägende und vorherrschende ist.
Das zeigt ein markantes Beispiel aus Österreich.
VI. Wem dient die Österreichische Post?
Die österreichische Post wurde 2006 aus einem öffentlichen Dienstleister in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, an der der Bund nur mehr eine knappe Mehrheit von 52,7 % hält. Die übrigen Aktien sind im Besitz von ausländischen Aktionär*innen (etwa britischen und amerikanischen). Gemäß der Zweiten EU Aktionärsrichtlinie muss die Post AG jährlich ausführlich darüber berichten,[11] wie ihre drei Vorstände entlohnt werden. Diese Entlohnung war 2020 recht großzügig. Jeder der drei Vorstände erhielt eine Vergütung von 2,4 Millionen Euro. Begründet wird das im Bericht im Wesentlichen damit, dass die Vorstände die Aktionär*innen gut bedient hatten. Das wäre, dem Bericht entsprechend, auch ihre hauptsächliche Aufgabe. Die Post AG hat nämlich gemäß dieses Berichts „seit dem Börsengang 2006 das Ziel, 75 % der Nettoergebnisse als Dividenden auszuschütten“. Diese Dividendenauszahlungen sollten – so wie bei GE – möglichst berechenbar, also ebenmäßig sein. Das impliziert, dass die Dividende auch in schlechten Jahren und dann zum Nachteil des Unternehmens hochgehalten werden muss.
Die interne Entlohnungsrichtlinie der Post AG erzwingt diese Bindung an Aktienkurse und Dividenden. Sie legt fest, dass sich die Entlohnung aus drei Elementen zusammensetzt:
- Einen fixen Teil mit einer Entlohnung, welche der durchschnittlichen Entlohnung der Vorstände europäischer Logistikunternehmen entspricht sowie zwei variable Elemente, welche für die Berechnung des weit größeren Anteils an der Besoldung herangezogen werden, nämlich
- einem variablen, langfristigen Kriterium. Es soll den langfristigen Leistungen der Vorstandsmitglieder entsprechen und „einen Gleichklang mit den Interessen der Aktionäre an einer positiven Entwicklung der Aktienkurse sicherstellen“. Gemessen wird dieser Gleichklang im Wesentlichen an der Entwicklung der Kurse und Dividenden in den letzten drei Jahren. Die Auszahlung dieses Teils der Vergütung erfolgt nach drei Jahren.
- Einem variablen, auf das Kurzfristige ausgerichtete Kriterium in Entsprechung des Ergebnisses des letzten Jahres. Das Ergebnis misst sich im Wesentlichen am Umsatz, an den letzten Aktienkursen und Dividenden. Auf- oder abgewertet wird diese kurzfristige Entlohnung mit einem „Modifikator“ von 50 % bis 150 %. Dieser Modifikator soll Erfolg oder Misserfolg im Bereich der social responsibility der Post AG messen. Er berücksichtigt Kunden, Umwelt, Soziales wie Gendergerechtigkeit und Diversität etc. Erstaunlicherweise misst der Multiplikator aber nicht den Erfolg oder Misserfolg der Post in Erfüllung ihres Kernauftrages einer flächendeckenden, verlässlichen und preiswerten logistischen Versorgung der österreichischen Bevölkerung. Unberücksichtigt und nicht negativ gewertet bleibt da zum Beispiel die Tatsache, dass die Post AG im Wege über Subunternehmen massenhaft billige Leiharbeiter*innen beschäftigt, dass die Fluktuation unter den Arbeitnehmer*innen groß ist, dass man Postämter schließt und Briefkästen abmontiert. 2020 war der Modifikator mit 1,01 leicht positiv, hat also die an Umsatz, Dividenden und Aktienkursen gemessene Vergütung kaum verändert.
FAZIT: Selbst in einem Unternehmen, das aus einem öffentlichem Versorgungsunternehmen hervorgegangen ist, selbst im sozialpartnerschaftlich geprägten Österreich und trotz der Vertreter*innen der Arbeitnehmer*innen im Aufsichtsrat hat sich der stakeholder value nicht an Stelle des shareholder values gesetzt. Man folgt im Wesentlichen noch immer den Interessen der Aktionär*innen. Das steht in Gegensatz zu den Bestimmungen des österreichischen Aktienrechts. Ihm zufolge und anders als von US-Ideolog*innen behauptet, sind die Aktienbesitzer*innen nicht die „Prinzipal*innen“ und damit Eigentümer*innen des Unternehmens. Als eine juristische Person gehört eine Aktiengesellschaft sich selbst, so wie ein Mensch als Person auch sich selbst und niemand anderem gehört.
Vertreten wird diese juristische Person durch den Vorstand. Gemäß § 70 des österreichischen Aktienrechtes hat „der Vorstand unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das zum Wohle des Unternehmens unter Berücksichtigung der Interessen der Aktionär*innen und der Arbeitnehmer*innen, sowie das öffentliche Interesse es erfordert“. Beachtlicherweise sind gemäß diesem Text die Interessen der Arbeitnehmer*innen den Interessen der Aktionär*innen gleichgestellt: Die Interessen sowohl der Arbeitnehmer*innen wie auch Aktionär*innen werden dem öffentlichen Interesse untergeordnet. Die Aktionär*innen sind demnach lediglich beschränkt haftende Investor*innen. Ihre Hauptversammlung dient (gemäß dem Gesetz) der Vertretung ihrer – eng definierten – Interessen und nicht der Gängelung[12] des Vorstandes.
VII. (Gelles’) Conclusio
Lässt sich zum Wohle der Menschen und der Wirtschaft diese absolute Herrschaft der Aktionär*innen brechen? David Gelles, der Autor des Buches über Jack Welch, macht dazu Vorschläge:
- Beteiligung der Mitarbeiter*innen am Stammkapital und den Gewinnen
- Weiterbildung der Arbeitskräfte
- Arbeitnehmer*innen in den Aufsichtsrat
- Eine langfristig ausgerichtete Unternehmensstrategie
- Erhöhung des Mindestlohns
- Vermögenssteuern[13]
- Verschärftes Vorgehen gegen Kartelle
- Deckelung der Entlohnung von Vorstandsvorsitzenden
Einige dieser Vorschläge sind in Europa schon umgesetzt worden, haben aber offenbar dennoch den Aufstieg des Aktionärskapitalismus nicht bremsen können. Zu bedenken ist auch, dass sich eine breite Mitbestimmung der Arbeitnehmer*innen (so wie sie in den 1970er-Jahren in Österreich durch das Arbeitsverfassungsgesetz geschaffen wurde) heute selbst in Europa nicht mehr durchsetzen ließe. Der inzwischen völlig liberalisierte, hyperliquide internationale Kapitalmarkt macht dies unmöglich.
Dieser Beitrag erscheint parallel zu dieser Version auch in Arbeit&Wirtschaft (https://www.arbeit-wirtschaft.at/).
THOMAS NOWOTNY
ist Politikwissenschaftler, Diplomat und Autor. Zwischen 1970 und 1975 war er Sekretär im Büro von Bundeskanzler Bruno Kreisky, seit 1994 ist er als Dozent an der Universität Wien tätig.
Literatur
Friedman, Milton (1970): A Friedman doctrine – The Social Responsibility Of Business Is to Increase Its Profits, in: New York Times, November 13, online unter: https://www.nytimes.com/1970/09/13/archives/a-friedman-doctrine-the-social-responsibility-of-business-is-to.html (letzter Zugriff: 15.07.2022).
Jensen, Michael C./Meckling, William H. (1976): „Theory of the Firm: Managerial behavior, agency costs and ownership structure“, in: Journal of Financial Economics, Vol. 3, No. 4, 305–360, online unter: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/0304405X7690026X (letzter Zugriff: 15.07.2022).
Lazonik, William (2014): „Profits without prosperity“, in: Harvard Business Review, September 2014, online unter: https://hbr.org/2014/09/profits-without-prosperity (letzter Zugriff: 15.07.2022).
Mishel, Lawrence/Wolfe, Julia (2019): „CEO Compensation has grown 940 % since 1978. Typical worker compensation has risen only 12 % during that time“, in: Economic Policy Institute, August 14, online unter: https://files.epi.org/pdf/171191.pdf (letzter Zugriff: 15.07.2022).
Wartzman, Rick (2017): „The End of Loyalty: The Rise and Fall of Good Jobs in America“, New York: Public Affairs.
Anmerkungen
[1] Zwar war der Industrieanteil am BNP in Österreich 2020 mit 17 % im internationalen Vergleich immer noch relativ hoch, aber es sollte zu denken geben, dass er geringer ist als der Industrieanteil im schweizerischen BNP und dass er überdies rasch gesunken ist: 1980 lag dieser Anteil noch bei 22 %.
[2] Die grundlegende Frage nach der Natur dieser wirtschaftlichen Konkurrenten und danach, was sie erfolgreich macht, lässt Hayek aber weitgehend unbeantwortet. Sind es die Unternehmen an sich? Sind das bloß die Personen, welche die Unternehmen leiten? Oder sind es die Ressourcen, welche einem Unternehmen zur Verfügung stehen? Oder ist es entgegen dem Glaubensbekenntnis Hayeks doch eher ein Amalgam aus Gesellschaft, Staat und Unternehmen?
[3] Jedes vom Streben nach Gewinnmaximierung für Aktienbesitzer*innen abweichende Verhalten würde die Wirtschaft unter die „eherne Faust von Bürokraten“ zwingen. Damit würden die Grundlagen einer freien Gesellschaft zerstört.
[4] Michael C. Jensen und William H. Meckling haben mit Theory of the Firm (Jensen/Meckling 1976) die Zielvorstellungen noch weiter verengt. Aktienbesitzer*innen seien weniger an hohen Dividenden bzw. Auszahlungen interessiert als an steigenden Kursen ihrer Aktien. Vor allem das wurde denn dann auch zur praktischen Leitlinie der Manager*innen von Aktiengesellschaften. Das führt zu überhöhten Hoffnungen auf künftige Gewinne, damit zu einem entsprechenden Druck auf das Management und auch zu spekulativen „Blasen“.
[5] Kritiker*innen haben das als „Kampf gegen Loyalität“ denunziert . In den 1930er-Jahren hatten Vorstände von GE sich noch damit gebrüstet, wie viele neue Arbeitsplätze sie geschaffen hatten. Jack Welch brüstete sich mit der Zahl der von ihm vernichteten Arbeitsplätze.
[6] Nach Joseph Schumpeter entstehen Gewinne – hohe Gewinne – durch eine Quasimonopolstellung bei der Einführung neuer Produkte.
[7] Das geht zu Lasten der Unternehmen. Es werden durch die Rückkäufe eigener Aktien Gelder abgesaugt, die zu deren weiteren Entwicklung benötigt würden. Ein Kommentator denunziert das als „eating your mother“. Mit Jack Welch begann die Ära massiver Aktienrückkäufe. 1980 wurde dafür in den USA 50 Milliarden US-Dollar aufgewendet. Als sich Welch 20 Jahre später von der Führung GEs zurückzog, wurden in den USA 350 Milliarden Dollar für Rückkäufe aufgewendet und damit den Unternehmen entzogen. Das ist wohl der schlagendste Beweis dafür, dass sich die Interessen von Aktienbesitzer*innen (ganz gegen das Dogma Friedmans) nicht mit den Interessen der Unternehmen decken. Aktienrückkäufe waren in den USA 1933 verboten worden. Seit einer Entscheidung im Jahre 1982 sind sie dort wieder möglich und werden, wie gesagt, reichlich genützt.
[8] GE investierte vor allem in subprime mortages. Das sind Hypothekarkredite an zahlungsschwache Kunden zum Erwerb überhöht teurer Realitäten.
[9] Kritisch muss festgehalten werden, dass Obama zwar den Banken geholfen hatte, die leichtsinniger Weise Hypothekarkredite vergeben hatten, nicht aber jenen, die ihre Häuser verloren, weil sie die Hypothekarkredite nicht bezahlen konnten.
[10] Weitere einschlägige Vorkehrungen der EU: Einschränkung des Rückkaufs von Aktien und Verbot des leberaged buy-outs, bei dem die „feindliche“ Übernahme von Unternehmen mit hochverzinsten Krediten finanziert wird.
[11] „Vergütungsbericht für die Mitglieder des Vorstandes und des Aufsichtsrates“.
[12] Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat in einleuchtender Weise argumentiert, dass Aktienbesitzer*innen nicht qualifiziert sind, ein Unternehmen zu leiten. Aktien werden oft nur kurzfristig gehalten und die Aktie eines Unternehmens die eine/ein Aktionär*in besitzt, ist zumeist nur eine von vielen. Banken, welche ein Unternehmen statt durch Aktien mit Krediten finanzieren, haben zumeist einen tieferen Einblick in dessen Geschäftstätigkeit und sind daher auch in ihrer beschränkten Rolle als Geldgeber*innen wirtschaftsnäher als Aktionär*innen.
[13] Eine jährliche Abgabe von 2 % auf Vermögen zwischen 50 Millionen Dollar und einer Milliarde Dollar sowie eine Abgabe von 5 % auf Vermögen über eine Milliarde. Diese Steuer würde in den USA im Verlauf von 10 Jahren den stolzen Betrag von 3,7 Billionen (das sind 3.700 Milliarden US-Dollar) an Staatseinnahmen schaffen.
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