Editorial ZUKUNFT 12/2022: Filmgeschichte(n). Für Jean-Luc Godard (JLG) – VON ALESSANDRO BARBERI UND THOMAS BALLHAUSEN

„Die Fotografie, das ist die Wahrheit. Kino, das ist die Wahrheit 24-mal in der Sekunde.“ Das wohl bekannteste Zitat Jean-Luc Godards (JLG) aus seinem Film Der kleine Soldat (1960) leitet eine Ausgabe der ZUKUNFT ein, die auf die traurige Nachricht von seinem Ableben am 13. September 2022 antwortet, um zu würdigen, was dieser Ausnahmekünstler mit seinen sensiblen Filmen und seinem Gesamtwerk geschaffen hat. So ist vor allem der revolutionäre Charakter seines Schaffens und seiner kinematografischen Praxis oft hervorgehoben worden. Gerade weil JLG sich immer wieder der kommerzialisierten Filmproduktion widersetzt hat, können seine Filme als erkenntnistheoretische Experimente gesehen werden, in denen es darum geht, die Ebenen von Ton, Bild, Farbe, Schrift und Technologie zu verändern. Der Mainstream konnte dabei im Grunde nur nachziehen.

Ganz in diesem Sinne zeichnet ALESSANDRO BARBERI mit seinem Beitrag nach, weshalb das Kino mit und nach Godard eine Welt eröffnet, die unseren Wünschen entspricht. Denn vor allem Godards Geschichte(n) des Kinos (1988–1997) stellen ein Spurenarchiv dar, das im Grunde alle Filme Godards als Teil der Filmgeschichte speichert und damit als multimediales Gesamtkunstwerk gelten kann. Ein Archiv in dem auf allen Ebenen die Eigendynamik von Ton, Bild, Farbe, Schrift und (analoger wie digitaler) Technologie sichtbar wird. Die vielfältigen Bezüge auf Literatur- und Kunstgeschichte korrespondieren dabei einer Analyse der filmischen Produktionsbedingungen von der Fotografie über das Video bis hin zur digitalen Loslösung vom Zelluloid im Sinne der Simulation. Dabei steht u. a. auch die Erinnerung an Godards Le Mépris (1963) vor Augen.

Denn gerade diesen u. a. farblich und technologisch so bemerkenswerten Film nimmt auch HEMMA MARLENE PRAINSACK zum Anlass, das immense Reflexionsniveau zu untersuchen, das mit den Filmen des JLG zutiefst verbunden ist. Dabei geht sie von den Geschichte(n) Fritz Langs aus, um die Kinogeschichte(n) Revue passieren zu lassen und hervorzuheben, dass JLG mit seiner Schreibmaschine und seiner Kamera auch im Blick auf die Literatur als Autor begriffen werden kann. Es geht mithin auch hier um das „Autorenkino“. Darüber hinaus betont Prainsack die geraume Bedeutung von Bertolt Brechts Theater für die Inszenierungen in den Filmen von JLG: Nicht nur die permanenten „Verfremdungen“ sprechen dahingehend eine deutliche Sprache, sondern auch die Tatsache, dass die Zuschauer*innen bei JLG aufgefordert sind, aktiv am Filmgeschehen teilzunehmen, um sich so ein eigenes Bild zu machen.

In der Folge widmet sich der Beitrag von VRÄÄTH ÖHNER in essayistischer Form dem Werk von Godard, um im filmischen „Stottern“ das entscheidende Merkmal seiner multimedialen Ästhetik auszumachen. Auch damit entsteht eine schöne Möglichkeit, sich auf dem Weg in die ZUKUNFT an das Gesamtwerk dieses Ausnahmeregisseurs zu erinnern. Denn der mehrschichtige Einsatz von Ton, Bild, Farbe etc. in den Filmen von JLG bricht die üblichen Wahrnehmungsformen auf, indem die filmische Syntax gezielt zerstört wird. So setzt sich in der Loslösung der einzelnen Ebenen des Filmischen die Möglichkeit frei, die Machart eines Filmes in den Blick zu nehmen und zu bringen. Deshalb begreift Öhner Godard als einen buchstäblich bildenden Künstler, einen Maler, der sich durchaus im Sinne eines Bildersturms dennoch immer auf die Entstehung eines einfachen Bildes konzentriert.

ELISA ASENBAUM berichtet dann angesichts des Erscheinens der englischen Übersetzung ihres wundervollen Romans AUGUSTINAself (2022) davon, dass Godards Filme auch durch tiefsitzenden Humor und sehr viel Witz gekennzeichnet sind, was nur erklärt, warum wir bei JLG so viel und so oft lachen müssen. LORENA PIRCHER und THOMAS BALLHAUSEN führen deshalb ein intensives Gespräch mit der Autorin, das auf allgemeinster Ebene von der Lebensnotwendigkeit der Künste handelt, deren Eigenständigkeit damit klar vor Augen steht. In diesem Zusammenhang wird die enge Verbindung von literarischen und filmischen Erzählformen und -techniken wie der Montage genauso deutlich, wie die prinzipielle Verwandtschaft der verschiedenen Kunstformen, die sich im Gesamtwerk und den Schnitttechnologien Godards genauso kreuzen wie in AUGUSTINAself.

Und so behandelt auch GEORG LEß ausgehend von seinem Gedichtband die Hohlhandmusikalität (2019) den Schnitt und den Ausschnitt, indem der Berliner Dichter über diese wirkmächtigen Strategien des Ästhetischen reflektiert … Was ist also in allen Wortbedeutungen ein Cut? So wie Elisa Asenbaum bettet auch Leß die Literatur- und Filmgeschichte in ihre Kontexte ein und führt damit seine poetologische Auseinandersetzung in ein dunkles, verlockendes Reich der Referenzen zwischen H. C. Artmann und Splatterästhetik. Dabei werden vor allem die Genres und die Mise en Scène der Liebes- und Horrorfilme zu einer historischen Basis, die es uns erlaubt, grundlegende Verfahren der Ästhetik zu betrachten und kritisch in den Blick zu nehmen.

Unseren Schwerpunkt zu Filmgeschichte(n) rundet dann der luzide englischsprachige Beitrag von LOTHAR TSCHAPKA ab, der sich ebenfalls an JLGs Filmkunst anlehnt, wenn er die urbanistische Rolle der Architektur und die Darstellung städtischer Räume in internationalen Thriller-, Suspense- und Actionfilmen untersucht, die in Wien von der Nachkriegszeit bis ins 21. Jahrhundert gedreht wurden. Zu den hier analysierten Filmen gehören Carol Reeds Klassiker Der dritte Mann (1949), der französische Kalter-Krieg-Thriller Avec la peau des autres (1966), einige Ausschnitte aus der James Bond– und Mission: Impossible-Reihe sowie Liliana Cavanis skandalumwitterter Exploitation-Thriller Der Nachtportier (1974). Insgesamt steht dabei auch durch die Bebilderung dieses Beitrags vor Augen, mit welchen Mitteln und Verfahren die Stadt Wien filmisch repräsentiert wurde und wird.

Darüber hinaus freut es die Redaktion der ZUKUNFT, dass wir auch schwerpunktunabhängige Beiträge präsentieren können: Denn UTE MÜLLER-SPIEß wagt sich mit ihrem an Jacques Lacan orientierten Beitrag an eine psychoanalytische Interpretation heutiger Jugendkultur, wenn sie in Erinnerung an Ödon von Horvath bei den sog. „Millennials“ eine Jugend ohne Gott im 21. Jahrhundert ausmacht. Damit begegnet dieser Beitrag der Angst, Passivität, Langeweile und Ambivalenz der heute 20- bis 30-Jährigen und deren Dilemma, ihrem Mangel an Begehren etwas entgegenzusetzen. Es geht mithin um das Los dieser jüngeren Generation, das unabdingbar mit einem aus dem Ufer geratenen kapitalistischen Grauen und seinen Folgen verbunden ist.

Darüber hinaus präsentiert ANGELIKA STRIEDINGER den von ihr, Maria Matschnig und dem Karl-Renner-Institut herausgegebenen Band Wissenschaft und Politik im Dialog (2022), in welchem der Versuch unternommen wurde, Wissenschafter*innen und Politiker*innen zu vernetzen und die Unterschiede und Ähnlichkeiten des akademischen und des politischen Feldes herauszuarbeiten. Die sechzehn hier versammelten Gespräche bieten einen komprimierten Einblick in aktuelle Debatten und bringen auf den Punkt, warum konstruktiver Austausch auf Augenhöhe zwischen Wissenschaft und Politik so wichtig ist. Auch wird dabei klar, wie dieser Austausch dabei helfen kann, gegenseitiges Verständnis zu erzeugen und eigene Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.

Last but not least danken wir der herausragenden Künstlerin EKATERINA SKLADMANN, die es uns in ihrer Freundlichkeit ermöglicht hat, die Bildstrecke dieser Ausgabe à la lettre zu einer Augenweide zu machen. Die gesamte Serie steht dabei im Zeichen des Gartens der Erinnerung, den Skladmann am Ende unseres Heftes auch mit einem Begleittext versehen hat, der auf ihre eigene wie auf unser aller Geschichte verweist.

Insgesamt hoffen auch wir, dass unsere Leser*innen sich mit allen Beiträgen dieser Ausgabe ein eigenes Bild machen können, um in Erinnerung an JLG nach den Soundgeschichte(n) der letzten Ausgabe nun auch den Filmgeschichte(n) einen Blick zu schenken. Auf dass wir im Kino den Sound hören und Filmbilder sehen können. Wir glauben mit dieser Ausgabe gezeigt zu haben, dass der Film und das Kino zumindest eine ZUKUNFT haben …

ALESSANDRO BARBERI & THOMAS BALLHAUSEN

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg, Wien und St. Pölten. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/.

THOMAS BALLHAUSEN

lebt als Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zahlreiche literarische und wissenschaftliche Publikation, demnächst erscheint seine Studie Nachtaktiv. Versuch über das Cahier.