Editorial ZUKUNFT 09/2024: Extremismus – VON ALESSANDRO BARBERI UND CHRISTIAN ZOLLES

Eine der Hauptgefahren, die Eric Hobsbawm 1995 am Ende des Zeitalters der Extreme sah, war der Erfahrungsverlust von Vergangenheit und das Aufgehen in einer „permanenten Gegenwart“. Dies entsprach in der Zeit nach dem Fall der Mauer am angeblichen „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) auch einem fehlenden Bewusstsein für die ideologischen Konstellationen, aus denen sich nach der Französischen Revolution im Rahmen des 19. und 20. Jahrhunderts die demokratischen und sozialstaatlichen Institutionen in Europa herausgebildet und stabilisiert haben. Drei Jahrzehnte später – angetrieben von einer digitalen Revolution, die den Zugriff auf vormals unvorstellbare Mengen an Informationen ermöglicht und einen unregulierten Marktplatz an (extremen) Deutungshoheiten und Indoktrinationen geschaffen hat – scheint diese Gefahr noch um einiges virulenter geworden zu sein: Unsere demokratischen Gesellschaften sehen sich nicht nur von außen extremen Gefahren ausgesetzt, sondern tendieren auch innerlich zu politischen und ökonomischen Extremen, deren Polarisierungen sowohl die liberale als auch die soziale Demokratie in ihrer „Mitte“ grundlegend bedrohen.

Denken wir dabei nur an den islamistischen Terroranschlag am 02. November 2020 in Wien, an den Sturm auf das Kapitol in Washington am 06. Jänner 2021, den Angriff der Hamas auf Israel am 07. Oktober 2023, die darauf einsetzenden „postkolonialen“ Reaktionen, das Erstarken rechtsextremer Parteikräfte bei der Europawahl 2024 oder die drei jüngst abgesagten Konzerte von Taylor Swift im Wiener Ernst-Happel-Stadion: Stets sind die Fundamente demokratischer und aufklärerischer Werte durch verschiedene Formen des Extremismus in fundamentaler und äußerst gewalttätiger Weise infrage gestellt worden. Daher hat sich die Redaktion der ZUKUNFT entschlossen, mit einer Ausgabe zum Schwerpunktthema Extremismus einen Beitrag zur Aufarbeitung dieser traumatisierenden Ereignisse zu leisten und gleichzeitig einen rationalen Kompass zur Verfügung zu stellen, um diese extremen Gefahren angemessen begreifen und bekämpfen zu können.

Ganz in diesem Sinne eröffnet Andrea Romstorfer den Reigen unserer Beiträge und versucht im Blick auf den Begriff Extremismus einige wichtige Fragen zu beantworten: Handelt es sich bei Extremismus um eine Kategorie innerhalb einer Taxonomie politischer Gruppen und Ideologien? Was sind die wesentlichen Merkmale, die mit dem Begriff Extremismus beschrieben werden und für welche Zielgruppen kann der Begriff ein brauchbares Instrument sein? Dabei geht sie u. a. vom Pogrom am 07. Oktober 2023 aus, fasst die staatlichen Definitionen von Extremismus zusammen und betont, dass Gewalt kein notwendiges Merkmal von Extremismus ist, aber eindeutig zum Repertoire von Straftaten gehört, die zur Umsetzung der strategischen und praktischen Ziele extremistischer Gruppen eingesetzt werden. Entlang einer präzisen Begriffsbestimmung hebt unsere Autorin in der Folge hervor, dass Extremismus sich durch eine Reihe von (Un-)Fähigkeiten auszeichnet: so die Unfähigkeit, liberale Werte- und Meinungsvielfalt zu akzeptieren, Chancengleichheit und Gleichberechtigung zu ermöglichen oder faktenbasierte und verifizierbare Aussagen zu treffen. Insgesamt wird dadurch verständlich, warum es in allen politischen Lagern und/oder Religionen zu extremistischen Tendenzen kommen kann.

In dieser Linie bringt dann auch der Handbuchartikel von Eckhard Jesse die entscheidenden Merkmale des (linken, rechten und islamistischen) Extremismus auf den Punkt und stellt damit – anhand des Beispiels der Bundesrepublik Deutschland – eine solide Basis für alle am Extremismus Interessierten und ihren Handapparat zur Verfügung. Nach Jesse ist der politische Extremismus dadurch gekennzeichnet, dass er den demokratischen Verfassungsstaat grundlegend ablehnt oder ihn einschränken will. Alle Varianten des Extremismus stehen demzufolge im Kern mit der Pluralität der Interessen, der Gewaltenteilung und den Menschenrechten auf Kriegsfuß. Extremismus basiert auf der Identitätstheorie der Demokratie, auf Freund-Feind-Stereotypen, auf einem hohen Maß an ideologischem Dogmatismus und in der Regel auf einem Missionsbewusstsein: Wer sich im Besitz vermeintlich objektiver Gesetzmäßigkeiten und einer homogenen Identität wähnt, kann die Legitimität unterschiedlicher Meinungen und Interessen schwerlich dulden. Meistens ist auch die Akzeptanz von Verschwörungstheorien für extremistische Bestrebungen charakteristisch: Der eigene Misserfolg wird mit der Manipulation durch finstere Mächte erklärt, so Jesse.

Der darauf folgende Beitrag von Günter Krenn bereichert unser Thema dann mit einer Analyse des literarischen Niederschlags, den Extremismus historisch hinterlassen hat. In Erinnerung an die extreme Brutalität und Irr(n)ationalität des Nationalsozialismus ist es deshalb von großem Interesse, Stefan Zweigs Schachnovelle (1942) – und ihre gegenwärtige Verarbeitung im Comic – einer Relektüre zu unterziehen. Zweig erzählt im Exil vom Aufstieg des Faschismus und seiner menschenverachtenden und extremistischen Ideologie. Damit steht die Geschichte vom extremen Ende einer demokratischen Welt vor Augen. Neben zwei Verfilmungen gibt es mittlerweile auch Comic-Adaptierungen der Schachnovelle, wobei die von Krenn hier vorgestellte Graphic Novel von David Salas im Zentrum des Interesses steht. Der 2017 in Frankreich veröffentlichte Band erschien 2023 auf Deutsch und beeindruckt sowohl hinsichtlich der Werktreue als auch angesichts der eigenständigen visuellen Interpretation. So können Literatur und Comic-Kunst uns auch in der Gegenwart dafür sensibilisieren, warum der Extremismus weltweit auf dem Vormarsch ist und rechte Parteien erfolgreich Wahlen schlagen. „Niemals wieder ist jetzt“, lautet deshalb auch Krenns Parole, die all dem entgegenwirken möchte.

Der Artikel von Armin Pfahl-Traughber geht einer weiteren brisanten Frage nach: Welche Bedeutung und Funktion haben die Intellektuellen für eine rechtsextremistische Partei? Antworten soll eine kleine Fallstudie liefern, die sich auf die AfD in Deutschland und die dortige Neue Rechte bezieht. Es geht dabei vor allem um das aus der Beziehung von (rechten) Intellektuellen und (rechter) Politik folgende Gefahrenpotenzial. Um dieses Verhältnis zu verstehen, beginnt Pfahl-Traughber mit einer Begriffserläuterung, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: „Extremismus“ gilt ihm als Sammelbezeichnung, die auf alle Einstellungen und Handlungen bezogen werden kann, welche die Basiswerte einer modernen Demokratie negieren wollen: Gewaltenteilung und Individualitätsprinzip, Menschenrechte und Pluralismus sowie Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität. Auch nach dieser Definition muss den „Extremisten“ keine Gewaltorientierung eigen sein, sie können auch eine legalistische Praxis beim eigenen Vorgehen bevorzugen und nach „ethnisch-kulturellen“ Homogenitätspostulaten und autoritären Ordnungsmodellen handeln. Insgesamt führt das Verhältnis von Intellektuellen und Politik mithin zu einem „extremen“ Spannungsverhältnis, das weiterer Analysen bedarf.

In der Extremismusforschung zirkuliert auch der Begriff des „Hufeisens“, der das mögliche Zusammenfallen von Links- und Rechtsextremismus zu beschreiben sucht. Martin Treml bemüht sich darum, die Geschichte dieses Begriffs zu rekapitulieren und erinnert dabei an Jean-Pierre Fayes Analyse der „totalitären Sprachen“ in der Weimarer Republik, die in den 1970er-Jahren vorgelegt wurde und das Hufeisenmodell entworfen hat. Wird diese Theorie auf eine Formel gebracht, dann lautet sie: „Die Extreme berühren sich“. Anhand von Jacob Taubes erinnert Treml in diesem Kontext an die reaktionäre Rolle der sog. Konservativen Revolution (und mithin an rechte „Intellektuelle“ wie Martin Heidegger und Carl Schmitt), die auf dem Weg zum Dritten Reich direkt am Untergang der Republik beteiligt waren. Bemerkenswert ist dabei, dass die „extreme“ Abneigung gegen den Liberalismus so konträre Denker wie Schmitt und Taubes verbindet: Schmitt am Schnittpunkt von staatlichem Recht und christlicher Religion, Taubes in den Konstellationen jüdisch-christlicher Debatten jenseits aller konfessionell betriebenen Bemühungen um Dialog und Versöhnung. Schließt sich mithin angesichts des Extremismus das Hufeisen zu einem Teufelskreis oder lässt es sich doch noch aufbiegen?

In Erinnerung an den 300. Geburtstag von Immanuel Kant unternimmt es dann Georg Koller, den Alleszermalmer aus Königsberg vor dem durchaus extremen Vorwurf in Schutz zu nehmen, er sei – wie angeblich die gesamte Aufklärung – zur Gänze dem Rassismus verfallen. Denn Extremismus ist immer auch ein Extremismus der Auslegung von Texten und historischen Beständen. In der Philosophiegeschichte ist deshalb der Gegensatz zum Extremismus keineswegs die Lethargie, sondern die historische und menschliche Seriosität. Es ist daher sehr wichtig, unreflektierte Anschläge auf Denker*innen des 18. Jahrhunderts zu vermeiden und das Überlieferte der Aufklärung zu aktualisieren und zu erhalten. Auch mit ihren aufweisbaren „rassistischen“ Fehlern sind die Aufklärer*innen in ihrem – durchaus revolutionären und d. i. demokratischen – Streben nach Ausgleich maßgebend dafür, dass wir heute im Sinne der menschlichen Freiheit und sozialen Gleichheit leben und schreiben dürfen, ohne den Extremen zu verfallen. Daher gilt es auch, mit dem Erbe der Aufklärung klar und hellsichtig umzugehen. Conclusio: Oft ist es dienlich, jenseits extremer Interpretationen genauer hinzusehen, bevor man einen angeblichen Konflikt zwischen isolierten Textpassagen und universellen Normen konstatiert, wo er nachweislich nicht vorliegt.–

Bereits in den letzten beiden Ausgaben der ZUKUNFT haben wir mit unserer Bildstrecke das Projekt Turning the Tide (TTT) vorgestellt, an dem eine bemerkenswerte Runde internationaler Künstler*innen teilnimmt, die sich freimütig bereit erklärt hat, ihre einprägsamen – und vor allem ökologisch engagierten – Werke für unsere Bildstrecke(n) zur Verfügung zu stellen. Deshalb freut es uns ganz besonders, mit dieser Ausgabe nunmehr auch das Werk der schwedischen Ausnahmekünstlerin Katarzyna Priorek vorstellen zu dürfen. Wie bei den anderen Künstler*innen im Umfeld von TTT waren auch für sie die Umweltkrise und insbesondere das Element Wasser von großer Bedeutung. So hat sich Priorek im Rahmen des Projekts eng mit der Gemeinde Danzig und ihrer örtlichen Umgebung beschäftigt, um Wasser, Natur und Technologien zum Thema ihrer Arbeiten zu machen, wie unsere Bildstrecke vom Cover weg deutlich macht. Im Interview mit Bernd Herger erläutert die Künstlerin ihren Werdegang, gibt Einblick in ihre ästhetischen und aktivistischen Grundhaltungen und betont, dass es ihr – ganz unabhängig von jedem Extremismus – immer um das dynamische Zusammenspiel von Freiheit und Vielfalt geht …

Die Herausgeber legen mithin im Namen der Redaktion eine Ausgabe vor, die unsere Leser*innen und alle politisch Interessierten auf verschiedenen Ebenen mit den Tatsachen und Gefahren des Extremismus vertraut machen soll, um das demokratische Grundverständnis unserer Republik genauso zu festigen, wie die Orientierung an Menschenrechten, Liberalismus, Werte- und Meinungsvielfalt, Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität. Wir wünschen den Leser*innen der ZUKUNFT ein eingehendes Verständnis des politisch Extremen und hoffen, dass wir uns auf freiem Feld alle im Erhalt der liberalen Demokratie ebenso konsensual treffen können wie im erneuten Erkämpfen der sozialen Demokratie …

Es senden herzliche und freundschaftliche Grüße

Alessandro Barberi & Christian Zolles

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Zeithistoriker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://medienbildung.univie.ac.at/.

CHRISTIAN ZOLLES

ist Kulturhistoriker, Philologe und Hochschuldozent. Er lebt und arbeitet in Konstanz und Wien. Weitere Infos online unter: www.univie.ac.at/germanistik/christian-zolles/.