Digital Divide VON TIANTIAN TANG

Anzahl Internetbenutzer pro 100 Einwohnern zwischen 1997 und 2013 nach Angaben der Internationalen Fernmeldeunion (ITU).

Der Beitrag von TIANTIAN TANG bezieht Fragen der sozialen Ungleichheit auf aktuelle Formen der Technologie und betont, dass sich auch angesichts des „digital divide“ soziale Unterschiede reproduzieren, die einer Demokratie nicht würdig sind.

Einleitung

Der Begriff „digitale divide“ entstammt einer vergleichenden Perspektive der sozialen und informationsbezogenen Ungleichheit. Bei der Diskussion darüber, inwieweit digitale Medien diese Kluft hervorgebracht bzw. vergrößert oder verkleinert haben, wird zwischen „first-level-divide“ und „second-level-divide“ differenziert (Warschauer 2003; van Dijk 2005). Während die Analyse von „first-level-divide“ sich auf den individuellen Zugang zur Internet-Infrastruktur konzentrierte, bezieht sich „second-level-divide“ auf Fähigkeiten und Nutzungsmuster (vgl. ebd.). In diesen Forschungen über „digitale divide“ als „digitale Kluft“ werden die Problembereiche ungleicher sozialer Verhältnisse und mangelnder sozialer Partizipation diskutiert, die beide zu überbrücken sind.

So sind auch in der Weiterentwicklung digitaler Transformation neue Arten der Spaltung zu beobachten, die als „zero-level“ bezeichnet werden (vgl. Iske, Klein & Verständig 2016). Personengruppen mit unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten und differenzierter Wissensbasis werden aufgrund der infrastrukturell-technologischen Struktur des Internets voraussichtlich unterschiedliche Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten bei der Technologieanwendung aufweisen (vgl. ebd.). Dieser Text greift deshalb kursorisch auf Forschungen über diesen „zero-level“ zurück und knüpft an Bourdieus Konzepte des „Habitus“ (Bourdieu 1979) und des „kulturellen Kapitals“ (Bourdieu 1983) an. Konzepte, mit denen die vorhandenen unterschiedlichen Möglichkeiten beim Umgang mit digitalen Medien als Ungleichheit der Teilhabe an Gesellschaft bzw. Verfügung über gesellschaftliche Ressourcen begriffen werden können, wobei damit auch der Tendenz nach individuell gewählte Handlungsweisen und persönliche Präferenzen verstanden werden können.

Netzneutralisierung

Um einem Missverständnis vorzubeugen, möchte ich die „Neutralität“ der Datenübermittlung im Internet anhand des medientheoretischen „Botenmodells“ (Krämer 2008) erläutern. Es wird von Algorithmus-Kritiker*innen immer wieder betont, dass Algorithmen sich manipulierend auswirken und die Rechentechniken nur das Interesse der Besitzenden widerspiegeln, was oft im Blick auf die Massenmedien hervorgehoben wird. Doch ist dem Algorithmus bei der Datenübertragung nicht Selbstbestimmtheit, sondern Fremdbestimmtheit auferlegt. Als Bote spricht der Algorithmus „mit fremder Stimme, also nicht ‚im eigenen Namen‘“ (Krämer 2015). Die Außenbedingtheit geht zunächst auf die Selbstneutralisierung des Algorithmus bei der Datenübermittlung zurück: Für diese Art der Datenübertragung spielt es also keine Rolle, um welche Art von Daten es sich handelt, zu welchem Zielknoten Daten übermittelt werden oder von welchem Ausgangsknoten sie kommen (vgl. Goldsmith & Wu 2006). Außerdem ist die Struktur des Internets durch Hypertextualisierung gekennzeichnet. Die Texte verweisen durch Hyperlinks gegenseitig aufeinander. Algorithmen arrangieren etwa beim Suchen die Informationen und sind dabei auf jene für Nutzer*innen sichtbaren Informationen bezogen, die diese Nutzer*innen aktiv ausgewählt und anerkannt haben. Nicht der Algorithmus selbst verleiht also bestimmten Informationen mehr Wichtigkeit, sondern z. B. das aktive Zitieren anderer Webseiten, die von Nutzer*innen verlinkt werden.

Des Weiteren ist diese Neutralisierung des Algorithmus auch aus einer Logik des Verschwindens erklärbar. „Medien vergegenwärtigen, indem sie selbst dabei zurücktreten und unterhalb der Schwelle des Wahrnehmens verbleiben: So kann das Vermittelte als ein ‚Unmittelbares‘ erscheinen“ (vgl. Goldsmith & Wu 2006). In Wahrheit ist also eines der Ziele der Algorithmik, dass die Nutzer*innen die Existenz der Algorithmen vergessen.

Differenz als Manifestation des Habitus

Hinsichtlich der Netzneutralisierung kann man also den „digitale divide“ vor dem Hintergrund der individuellen Personalisierung auch als individuelle Diversität verstehen, die bestehende differenzierte Handlungsmuster reproduziert und möglicherweise verstärkt. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen besitzen verschiedene inkorporierte, verinnerlichte kulturelle Kapitalien, die dann in einem großen Ausmaß bestimmen, in welcher Form Akteur*innen mit digitalen Medien interagieren (Bourdieu 1983). „Was Technik […] trotz aller nützlichen Errungenschaften nicht hervorbringt, ist die Einsicht in und ein Urteil über die praktische Situation, in der sie eingesetzt werden soll“ (Hörning 2001: 165). Im Rekurs auf Bourdieus Theorie lassen sich also auch Formen der Internetnutzung als distinktive Handlungen verstehen, die von Akteur*innen innerhalb einer Vielfalt möglicher Handlungsweisen vollzogen werden.

Singularisierung und Standardisierung

Trotz der Vorprogrammierung bestimmter Merkmale und Charakteristika werden mithin Nutzer*innen durch die Auswertung großer Datenmengen als Singularität begriffen, anstatt sie im Blick auf eine gesellschaftliche Allgemeinheit zu typisieren. In sozialen Netzwerken werden den Menschen – z. B. abhängig von ihren Freund*innen und Vorlieben – nur speziell ausgewählte Inhalte angezeigt. Suchmaschinen übernehmen die Auswahl von Inhalten im Rahmen der individuell am häufigsten aufgerufenen Suchergebnisse. Als Ergebnis werden den Nutzer*innen dann personalisierte Trefferlisten angezeigt, die zu den vergangenen Suchanfragen und zu in der Vergangenheit gewählten Treffern der Suchenden passen. Andreas Reckwitz betrachtet diese Ambivalenz von Singularisierung und Standardisierung als sozial-kulturelle Fabrikation der Einzigartigkeit(en). Reckwitz unterscheidet dabei „Singularität“ von Becks „Individualisierung“ insofern, als der Begriff der Individualisierung bei Ulrich Beck mit der Freisetzung der Individuen aus kollektiven Bindungen verknüpft ist (vgl. Beck 1986: 206), während Reckwitz den Singularisierungsprozess nicht als Freisetzungsprozess begreift, sondern „Praktiken der Singularisierung, Kulturalisierung und Valorisierung“ (Reckwitz 2018: 64 ff.) in den Blick nimmt. Es geht mithin um Praktiken, in denen soziale Akteur*innen kategorisieren und bewerten, was ihnen einzigartig erscheint und was nicht (vgl. ebd. 51). Der Prozess der Singularisierung birgt aber auch Risiken des „Profilierungszwangs“ (ebd. 266) im Sichtbarkeits- und Aufmerksamkeitswettbewerb in sich, der wiederum zu einer Anpassung an die Formalisierung und die soziale Erwartung führt.

Von digitaler Spaltung zur digitalen Differenzierung

Im Hinblick auf die neue digitale Ungleichheit („zero-level“), die zutiefst mit algorithmischen Berechnungsstrukturen verbunden ist, sollte also eine neue Lesart von „digital divide“ in den Blick genommen werden. Der „digital divide“ wird dabei nicht nur als eine „Kluft“ verstanden, die überwunden werden muss, sondern als Effekt der Pluralisierung durch die unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten mit digitalen Medien. Damit digitale Medien als Mittel individueller Entfaltungschancen benutzt werden können, sollte man also zunächst algorithmische Personalisierung als dynamische Kommunikation deuten, die auch das Verhalten der Nutzer*innen einschließt. So werden auch demokratiepolitisch die expressiv-mitteilenden Outputs der Akteur*innen (z. B. Programmierer*innen oder Nutzer*innen) als aktuelle Artikulation begriffen, durch die unter Verwendung von Maschinen kommuniziert werden kann.

TIANTIAN TANG ist Doktorandin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien und Mitglied der Wiener Medienpädagogik. Ihr Forschungsinteresse liegt im Grenzgebiet von Medienpädagogik, Phänomenologie und Soziologie.

Literatur

  • Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Berlin: Suhrkamp.
  • Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis: auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp.
  • Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, R. (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Zeitschrift Soziale Welt, Göttingen, 183–198.
  • Goldsmith, Jack/Wu, Tim (2006): Who Controls the Internet? Illusions of a Borderless World, New York, NY: Oxford University Press.
  • Hörning, Karl H. (2001): Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
  • Krämer, Sybille (2008): Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Krämer, Sybille (2015): Selbstzurücknahme. Reflexionen über eine medientheoretische Figur und ihre (möglichen) anthropologischen Dimensionen, in: Gronau, Barbara/Lagaay Alice (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, Bielefeld: transcript, 39–52.
  • Reckwitz, Andreas (2018): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 5. Auflage, Berlin: Suhrkamp.
  • Van Dijk, Jan (2005a): The Deepening Divide. Inequality in the Information Society, London: Thousand Oaks, CA.
  • Verständig, Dan/Klein, Alexandra/Iske, Stefan (2016): Zero-Level Digital Divide. Neues Netz und neue Ungleichheiten. Sozial: Analysen, Berichte, Kontroversen (SI:SO); 21 (2016) 1, 50–55.
  • Warschauer, Mark (2003): Technology and Social Inclusion. Rethinking the Digital Divide, Cambridge, MA: MIT Press.

One comment

Comments are closed.