„Ich brauche die Kunst, um im Einklang mit mir zu sein“. Interview mit Olga Georgieva – VON OLGA GEORGIEVA UND HEMMA MARLENE PRAINSACK

OLGA GEORGIEVA spricht im Interview mit ZUKUNFT-Redakteurin HEMMA MARLENE PRAINSACK über ihre künstlerische Auseinandersetzung mit den Begriffen Vernunft und Regime. In einem sehr anregenden Gespräch, das am 23.12.2022 im Atelier von Olga Georgieva im dritten Bezirk in Wien stattgefunden hat, erörtert sie die beiden Bildstrecken dieser und der nächsten Ausgabe der ZUKUNFT, in denen wir mit großem Dank die Werke dieser herausragenden bildenden Künstlerin präsentieren können.

Hemma Marlene Prainsack: Auf dem Titelbild der ZUKUNFT sehen wir einen Teil Deiner Abschlussarbeit, die Du an der Universität für Angewandte Kunst Wien am Institut für Bildende Kunst angefertigt hast. Wie bist Du auf diese Arbeit gekommen?

Olga Georgieva: Das Thema für meine Diplomarbeit war Ausweitung der Vernunftzone. Meine Diplomausstellung bestand aus zwei Arbeiten: Dadurch, dass ich Druckgrafik studiert habe, hatte ich sehr viele Holzplatten für die Druckgrafiken. Man kann beispielsweise von einer Platte hunderte Drucke machen – wobei ich aus finanziellen Gründen immer nur kleinere Auflagen gemacht habe, da das Papier so teuer war. Während des Arbeitsprozesses haben diese Holzplatten mehr Bedeutung für mich bekommen als die Drucke, die Holzplatten selbst wurden für mich so kostbar, weshalb ich mich gefragt habe, was ich damit noch anfangen könnte – nach Abschluss des Diplomstudiums hätte ich sie wegwerfen müssen. Da dachte ich, das geht nicht – mein ganzes Leben ist durch diese Platten gegangen – und ich wollte sie retten. Daher habe ich aus den Holzplatten dieses Haus gebaut. 2019 hat die Stadt Wien mein Haus für das Wien Museum erworben. Ich freue mich einfach, dass mein Haus ein neues Zuhause gefunden hat.

Ausweitung der Vernunftzone. Diplom-Rauminstallation Haus, 210x220x300cm © Olga Georgieva 2012

Meine zweite Arbeit war eine riesige Zeichnung auf 9,50 mal 1,5 Metern. Es waren zum Teil figurative „surrealistische“ Motive. Die Grenze meiner Vernunft habe ich im Bild als „Absperrband“ dargestellt. Diese Bänder können wir im Alltag recht häufig sehen. Dieses Absperrband weckt aber sofort die Assoziationen an Gefahr, Verbote oder Gebote. Trotz dieses klaren Signals sind diese Bänder ephemer und zerbrechlich. Man kann unten durchschlüpfen oder darübersteigen, man kann sie auch leicht zerschneiden oder zerreißen. Die Grenze, die diese Bänder bezeichnen, existiert vor allem in unserem Verstand. Als Gegenstand können wir sie einfach verschieben oder über sie steigen oder unter ihnen durchschlüpfen. In der Folge verwende ich als Motiv auch gerne einfach eine rote Linie. Sie ist nicht nur die Grenze zur Vernunft, sondern zeigt auch die Trennung oder Verbindung der dargestellten Personen. Es ist wie ein Versuch, die Entscheidung zu zeigen, wen wir nahe an uns heran, in unseren Privatraum lassen und wen nicht. Von Bild zu Bild ist das anders.

H. M. P.: Und es kann auch ein roter Faden sein, wie jener der Ariadne, der Theseus Orientierung durch das Labyrinth gibt.

O. G.: Ja, das erinnert mich an ein Erlebnis im Jahr 2016. Damals wurde ich drei Wochen lang zu einem Kunstprojekt nach Changde in China eingeladen, bei dem von chinesischen Künstler*innen Brückenpfeiler bemalt wurden. Darauf bin ich sehr stolz, weil ich die einzige Frau und die einzige Ausländerin vor Ort war. Das Projekt wurde von der chinesischen Regierung finanziert. Eine befreundete Kuratorin, Alexandra Grimmer, hat mich neben anderen Künstler*innen vorgeschlagen. Da aber nur ein*e Künstler*in kommen konnte, hat sie letztlich mich ausgewählt, weil sie meinte, ich würde in China gut zurechtkommen. China ist ein Land, das man entweder liebt oder haßt. Und ich zähle zu jenen, die es lieben. Mir hat es Spaß gemacht, mich zurecht zu finden, mit einer papierenen Landkarte an einem Ort unterwegs zu sein, an dem es kein Internet gibt – ich hätte es aufwendig organisieren können, habe mich aber entschieden, es nicht zu verwenden, weil ich diese Herausforderung durchaus genieße. Es war spannend … so als würde ich in meine Vergangenheit reisen.

In Changde, wo ca. fünf Millionen Einwohner*innen leben, konnte niemand außer dem Organisator Englisch. Erst am letzten Tag, als ich schon fertig war mit dem Bemalen der Brücke, kam ein Mann, der Videos von dem Projekt gemacht hat, er konnte Englisch und so haben wir uns unterhalten. Es war sehr erfrischend, durch das Gespräch wieder aus meiner Blase herauszukommen. Als er die roten Linien auf meinen Zeichnungen am Brückenpfeiler gesehen hat, wollte er wissen, ob ich den roten Faden wegen dem chinesischen Gott gemalt habe. Ich fragte: „Welcher Gott?“, denn dieser Gott war mir unbekannt. Daraufhin hat er mir erklärt, dass die Chines*innen an einen Gott glauben, der vom Himmel aus die liebenden Menschen auf der Erde mit einem unsichtbaren roten Faden verbindet. Und dass man nach diesem roten Faden seine*n Seelenverwandte*n suchen soll. Ich bin kein romantischer Mensch, aber ich finde diese Geschichte trotzdem sehr schön. Und wenn ich über meinen roten Faden in meinen Arbeiten erzähle, nehme ich diese Geschichte gerne dazu, weil sie so passend ist.

H. M. P.: Welche Bedeutung hat Vernunft heute für Dich? Und ist Kunst vernünftig?

O. G.: Nein, Kunst ist nicht vernünftig. Wenn man sich mein Leben anschaut, ist es auch nicht gerade sehr vernünftig gewesen. Im Alter von sieben Jahren habe ich gewusst, dass ich Künstlerin werden will. Mit zehn habe ich ganz bewusst begonnen, mich vorzubereiten und bin dann ein oder zwei Jahre später in Kurse gegangen, damit ich in Varna im Kunstgymnasium aufgenommen werde. Nach zwei Jahren im Gymnasium – ich war 15 – wusste ich, ich muss nach Wien gehen. Ich war aber damals noch nie im Ausland. Bulgarien war noch nicht in der EU, ich habe ein Visum gebraucht, um das Land für länger als drei Monate zu verlassen. Als ich nach Wien gekommen bin, war mein Deutsch noch nicht gut, aber ich hatte keinen Plan B, es musste Wien sein. Meinen Eltern hat das große Sorgen bereitet, weil ich mich beispielsweise in meiner Heimat nicht an der Uni beworben habe. Ich wollte das nicht, denn für mich ist es so … sobald Du einen Plan B hast, bedeutet das, dass Du an Deinem Plan A zweifelst, und das wäre für mich falsch. Meine Befürchtung ist, dass man dann vielleicht nicht alles gibt. Die Möglichkeit, dass Du von Deiner Kunst nicht leben kannst, ist extrem hoch. Viele sehr gute Künstler*innen brauchen einen zweiten Job, um überleben zu können. Und ich bin sehr glücklich, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, meinen Traum als Künstlerin zu leben.

Aber vernünftig bin ich nie gewesen, ich habe meine Vernunftzone so ausgeweitet, dass es für mich passt, ich mir Vieles als vernünftig erklären kann. 2013 habe ich zum Beispiel meinen Job als Verkäuferin gekündigt. Ich habe mit meinem Professor Jan Svenungsson gesprochen, mit dem ich auch gut befreundet bin und den ich sehr schätze, und zu ihm gesagt, ab jetzt arbeite ich nur mehr als Künstlerin. Darauf hat er mich gefragt, ob ich bereits eine Ausstellung gemacht habe und Bilder verkaufen konnte, das war aber nicht der Fall, ich hatte auch kein Geld für die Zukunft oder für den nächsten Monat, aber ich habe gewusst, es wird klappen und es hat irgendwie auch immer geklappt.

Alfred was here. 100x170cm, Tusche und Acryl auf Leinwand
© Olga Georgieva 2022

H. M. P.: Wie bist Du damals auf Wien gekommen, warum gerade diese Stadt?

O. G.: Es war ein Bauchgefühl, ich habe mir so eine riesige, weiße, schöne Stadt vorgestellt. Wien habe ich nicht gekannt, aber eine Bekannte, die später dann auch eine gute Freundin geworden ist, hat hier studiert und mir von Wien erzählt. Ich habe sie kontaktiert und sie hat mir insofern geholfen, als sie mir im Mai 2005 Sigbert Schenk, den Professor der Druckgrafik-Klasse, vorgestellt hat. Er meinte, dass meine Sachen sehr schülerhaft und zum Teil nicht sehr sauber gemacht wären – das habe ich annehmen und viel für mich mitnehmen können. Ich habe dann den ganzen Sommer durchgearbeitet und über 100 Arbeiten vorbereitet, Skizzen, Druckgrafiken usw. Eigentlich sollte man sich mit 20 bis 30 Arbeiten bewerben, aber ich habe alle mitgenommen und bin mit meiner Freundin und zwei Mappen zur Aufnahmeprüfung an der Universität für Angewandte Kunst gegangen.

Ich hatte auch vor, mich an der Akademie zu bewerben, da ich es meinen Eltern als Plan B versprochen habe. Im Vorfeld habe ich entschieden, welche Arbeiten ich für die Angewandte und welche ich für die Akademie verwenden werde. Aber als ich in der Klasse war, meinten die Professor*innen, ich soll alle meine Arbeiten hier lassen. Ich habe mich in dem Moment sehr darüber gefreut, dass ich meinen Traum verwirklichen konnte und mich nicht noch zusätzlich anderswo bewerben musste. Die Freude war noch viel größer, als ich die Aufnahmeprüfung geschafft hatte und mein „neues“ Leben beginnen konnte. Mein erster Wien-Besuch im Mai 2005 hat mich dann überzeugt, es hatte 30 Grad, war sonnig und die Stadt so schön, das hat all meine Erwartungen erfüllt … Schade, dass es hier im Allgemeinen nicht sehr sonnig ist.

H. M. P.: In Wien hast Du auch ein Wohnhaus bemalt – wonach hast Du die Motive für diese Hauswand gewählt und welche Bedeutung hat es für Dich, Deiner Kunst ein unverrückbares Zuhause zu geben?

O. G.: Als ich die Hauswand bemalt habe, war das Haus noch nicht bewohnt, und für mich war es sehr spannend, mit den Bauarbeitern vor Ort zu sprechen. Sie haben gerade Küchen eingebaut und Innenräume ausgemalt. Zwischendurch sind sie zu mir gekommen und haben mit mir geplaudert. Da habe ich sie dann einfach mit auf die Hauswand gezeichnet. Ansonsten zeichne ich gerne Menschen, die ich liebe, die mir etwas bedeuten oder mit denen ich befreundet bin. Meinen Sohn male ich auch sehr gerne, ich habe ihn oft mit dem mittlerweile leider verstorbenen Hund meiner Nachbarin und lieben Freundin dargestellt. Ich nehme manchmal Sachen, die mir viel bedeuten und lasse diese für mich kostbaren Erinnerungen dann dort auf der Wand. Irgendwie bleibt das dann so mit mir verbunden.

Seven sins. Woodcut objects, 20x20cm
© Olga Georgieva 2021

H. M. P.: Holz ist ein Material, das Dich nach wie vor begleitet.

O. G.: Ja, sehr. Ich liebe es! Die Arbeit mit Holz geht sehr auf die Hände, aber es macht mir unheimlich viel Spaß. Ich habe einmal eine riesige Altbautüre für einen Holzschnitt verwendet, das war ein Kraftaufwand. Die Idee mit der Tür bestand schon lange. Und einmal, auf dem Weg zu meinem Atelier, wo gerade eine Baustelle war, habe ich eine weiße Altbautüre in einer der Garagen gefunden und wollte diese verwenden. Die Bauarbeiter haben mir diese Tür in mein Atelier getragen. Und dann fing die Arbeit an … zuerst musste ich den Lack entfernen und mit der Brennpistole arbeiten, dann den restlichen Lack wegschleifen usw. Herausfordernd ist es, wenn man wirklich Details oder sehr kleine Arbeiten macht oder eben hartes Holz wie bei der Tür verwendet. Ich habe beispielsweise auch Würfel geschnitzt, das war voller Körpereinsatz, mit beiden Füßen und einer Hand muss man die vier Würfel fixieren, mit der anderen Hand schnitzen und ich habe mich wirklich oft geschnitten dabei, ich hatte überall kleine Risse auf meinem Arm. So zu arbeiten finde ich sehr schön. Und mit der Zeit habe ich bemerkt, dass ich kein Mensch für Druckgrafiken bin, dafür bin ich zu ungeduldig. Bei Druckgrafiken muss man das Papier einweichen und dann aufwendig drucken, also dauert es sehr lange, bis man Ergebnisse sieht, ich will aber nicht so lange warten und daher eigentlich nicht mehr drucken.

H. M. P.: In Deinen Arbeiten beschäftigst Du Dich zurzeit intensiv mit dem Begriff „Regime“. Was ist für Dich das Wichtige dieses Begriffs und seiner Thematik?

O. G.: Bei mir hat diese Auseinandersetzung 2011 begonnen, als ich eine Vorlesung zur Philosophie bei Boris Manner besucht habe. Er hat uns damals die Aufgabe gestellt, über den Begriff „Regime“ in Bezug auf Kunst und Russland nachzudenken. Boris Manner hatte sehr viel Kontakt zu russischen Künstler*innen – auch zu anderen Ländern, in denen Kunst keineswegs frei ist. Es wird alles ganz genau beobachtet und es werden z. B. Galerien geschlossen, wenn etwas ausgestellt wird, das nicht gefällt oder zu kritisch ist. Ich habe mir dann gedacht, dass wir eigentlich alle in einem unsichtbaren Regime leben, das von unserer Vernunft definiert wird. Wenn wir etwas Falsches machen, das uns nicht gefällt, dann versuchen wir, unsere Vernunftgrenze zu verschieben.

Meine Erfahrungen aus China haben sich sehr auf meine Bilder ausgewirkt, das war 2014 und ich wurde dort erneut mit dem Thema „Regime“ konfrontiert, weil ich da eben ein Regime erleben durfte. Deshalb habe ich einfach angefangen, Bilder mit unsichtbaren Netzen zu malen. Das war für mich das Regime, dieses Geschlossene. Es gibt in China so viele Kameras, die Dich beobachten, alles aufzeichnen. In Dubai, Qatar ist das auch so, wenn nicht schlimmer, überall Kameras – ich kann mir nicht vorstellen, in so einem Land zu leben. Ich liebe China und die Menschen sehr, auch, weil mich das Land sehr an Bulgarien erinnert und ich mich zuhause fühle, aber diese Kameras werden von den Menschen da als Sicherheit betrachtet, obwohl es sich um das genaue Gegenteil handelt. Meiner Meinung nach werden die Kameras nicht dazu verwendet, mich zu schützen oder mir zu helfen, wenn mir zum Beispiel etwas zustößt, sondern dazu, mich zu verurteilen, wenn ich etwas mache, das dem Regime nicht gefällt.

Und das wirklich Spannende an solchen Häuserwänden ist das Maß. Am Anfang, bevor man zu zeichnen beginnt, ist es das Allerschwierigste, die ersten beiden Menschen zu malen. Ich arbeite auf einer Leiter, ich muss oft hinauf- und hinuntersteigen, um zu sehen, ob die Proportionen korrekt sind. Ich male den Kopf, steige hinunter und schaue, ob die Schultern stimmig sind. Wenn es passt, muss ich wieder hinauf- und hinuntersteigen, bis ich das richtige Größenmaß im Kopf habe und weiß, dass die Proportionen richtig sind. Ich weiß, dass ich nichts ausbessern oder übermalen kann. Und zwischendurch kommt jemand, spricht Dich an oder sieht Dir bei der Arbeit zu. Und das gefällt mir sehr, ich mag das. Früher war das für mich stressig, besonders bei Live-Paintings, wo ich vor Publikum zeichne und jede Handbewegung gesehen wird, aber mittlerweile genieße ich das Wissen sehr, nichts ausbessern zu können. Wenn ich einen Auftrag habe, wie zum Beispiel zuletzt von der Sozialbau, für die ich in einem Warteraum die Innenwände bemalt habe, da zeichne ich und vergesse mich dabei – ich höre Musik, singe dazu und tanze auch während des Malens. Es bereitet mir einfach extreme Freude.

Olga Georgieva© Privat

H. M. P.: Wie kann Kunst hier wirken?

O. G.: Die Mentalität ist von Land zu Land unterschiedlich, das wird manchmal auch in der Kunst weitergegeben. Ich habe einmal ein Interview für eine chinesische Zeitschrift gegeben und eine der Fragen des Journalisten war, warum in der Kunst von Europäer*innen so viel Nacktheit und Sexualität gezeigt wird. Er hat da auf eines meiner Werke, das ich in China ausgestellt habe, angespielt: es zeigt eine Österreich-Karte mit lauter Paaren, die sich miteinander vergnügen. Das ist durch eine spannende Aufgabe zustande gekommen: Ich habe an der Ausstellung Reproduktionen teilgenommen, bei der ich ein Bild eines anderen Künstlers nehmen und so reproduzieren sollte, dass es ganz genau meiner Art entspricht. Ich habe das Bild von einem bulgarischen Künstler genommen, der Österreich mit lauter wilden Tieren, Zebras, Giraffen und Tigern sehr schön mit Bleistift gezeichnet hat. Das sollte ich „reproduzieren“, aber auf meine Art. Und als ich die Tiere sah, habe ich direkt an Menschen gedacht, die sich in Liebkosungen vergnügen.

In meinen Arbeiten sieht man eigentlich nie Geschlechtsorgane oder nackte Brüste, weil ich es spannender finde, das den Betrachter*innen zu überlassen. Es ist interessanter, diese Nacktheit zu verstecken und sie von den Betrachter*innen finden zu lassen. Und in China haben die Menschen stark auf dieses Bild reagiert. Also habe ich genau das Motiv mit der chinesischen Karte gezeichnet. Später habe ich das mit Karten von mehreren asiatischen Ländern gemacht, auch von Japan. Es ist in Japan z. B. nicht üblich, sich in der Öffentlichkeit zu küssen. Und ich bin ein sehr körperlicher Mensch, ich könnte nicht so leben. Stell Dir vor, Du lebst in einem Land, in dem Du nicht küssen darfst oder nur versteckt oder heimlich!

Als ich 2009 mit meiner Schwester und einer kleinen Gruppe von Student*innen für eine Ausstellung in Japan war, sind wir bei einem Spielplatz vorbeigekommen, und weil ich Schaukeln liebe, sind wir stehengeblieben und haben geschaukelt. Aber die japanische Studentin, die mit uns unterwegs war, sagte zu uns, dass wir vom Spielplatz weggehen müssen, weil abends hier die Liebenden herkommen, um sich versteckt küssen zu können.

H. M. P.: Gibt es ein Land, das Dich besonders reizen würde bzw. hast Du einen Wunschort, den Du gerne bemalen würdest?

O. G.: Eine U-Bahnstation würde mich sehr reizen, egal welche, oder eine Zug- oder Schnellbahnstation. Das wäre ideal für mich, weil ich Menschenmassen liebe, mein Herz schlägt höher, wenn ich Menschen beisammen sehe. Das inspiriert mich, ich mag das auch, wenn ich durch die Bewegung der Massen angerempelt oder herumgeschupst werde. Wenn ich unterwegs bin, höre ich immer Musik. So kann ich mich auf meine Gedanken konzentrieren, bin bei mir und gleichzeitig inmitten der Menschen. Da habe ich ein Sicherheitsgefühl, das mir die Menschen ringsum geben. In meinen ersten Bildern habe ich immer auch Menschen gezeichnet, die ich bei U-Bahn-Stationen gesehen und fotografiert habe. Daher wäre es für mich das Beste, einmal eine U-Bahnstation gestalten zu dürfen. Und als Land bzw. Stadt würde mich New York sehr reizen. Ich war 2018 zwei Tage lang mit meinem Sohn dort und es hat uns sehr gut gefallen. New York wäre für mich ein idealer Ort.

two travelers are staying. 60x84cm, Tusche auf Papier
© Olga Georgieva 2018

H. M. P.: Wie würdest Du jemanden, der keinen Zugang zur bildenden Kunst hat, erklären, dass Kunst eine Notwendigkeit ist?

O. G.: Dafür habe ich ein gutes Beispiel. Mein Kunstprofessor Patrick Werner hat uns einmal auf eine Arbeit von Walter De Maria, einen Künstler, den ich sehr schätze, aufmerksam gemacht. Für Walter De Maria wurde von der Dia Art Fondation ein 75 Quadratkilometer großes Gelände bei Quemado in New Mexico, wo es sehr viele Gewitter gibt, gekauft, um seine Installation Lightning Field mit 400 Edelstahlstäben auf einer Breite von einem Kilometer und einer Länge von einer Meile zu errichten. In der Nähe hat er eine Hütte aufgestellt, in der fünf Personen Platz haben. Die Besucher*innen müssen sich 24 Stunden in diese Hütte begeben und hoffen, dass es gewittern wird. Für De Maria waren die 24 Stunden Anwesenheit so wichtig, weil er es sehr traurig findet, dass Menschen sich in einer Ausstellung nie wirklich Zeit nehmen, die Kunstwerke zu verstehen.

Patrick Werner hat sich in den USA diese Installation von De Maria angesehen und erzählt, dass er die Arbeit erst nach diesen 24 Stunden verstanden hat. Diese Begebenheit fand ich sehr beeindruckend, ich möchte dieses Kunstwerk selbst einmal besuchen. Die Künstler*innen, die mich inspirieren, sind eben solche, die ganz anders arbeiten als ich. Ich mag zum Beispiel Maurizio Cattelan, mir gefallen seine riesigen Skulpturen und ich mag seine Ironie, seinen Witz. Ich habe diese Ironie auch und setze das manchmal in meinen Arbeiten um. Eine meiner letzten Holzarbeiten aus 2019 war zum Beispiel ein Stockbett aus Holz, das ich geschnitzt habe. Ich habe dieses Stockbett als Ehebett deklariert. Die Idee dahinter war, dass die Ehepartner*innen jede Nacht aufs Neue entscheiden dürfen, wer oben und wer unten ist.

H. M. P.: Was ist Dir in nächster Zeit bei Deinen Arbeiten wichtig?

O. G.: Ich finde es sehr spannend, verschiedene Medien zu nutzen. Vom Live-Painting zum Holzschnitt über Tuschezeichnungen und wie das alles gleichsam  kommuniziert. Das ist eine große Freude für mich und ich hoffe, dass ich das weiterentwickeln kann. Ich setze mich auch selbst unter Druck, um mich weiterzuentwickeln. Ich weiß aber nicht, wohin mich diese Reise führen wird, ich kenne den nächsten Schritt nicht. Dadurch ergibt sich eine leichte, aber auch sehr spannende Unsicherheit. Aber Entwicklung entsteht durchs Machen und das ist für mich das Richtige und Schöne daran.

H. M. P.: Wir dürfen auf Deine nächsten künstlerischen Schritte sehr gespannt sein und bedanken uns im Namen der ZUKUNFT sehr herzlich für die wunderbaren Anregungen und Deine ansteckende Freude.

OLGA GEORGIEVA

wurde 1986 in Varna (Bulgarien) geboren. Sie lebt und arbeitet in Wien. Von 2005 bis 2012 studierte sie an der Universität für angewandte Kunst in der Klasse Grafik und Druckgrafik bei Prof. Sigbert Schenk und seit 2011 bei Jan Svenungsson. 2012 hat sie ihr Diplom mit Auszeichnung absolviert. Ausstellungen in Österreich, Bulgarien, Deutschland, Niederlanden, Spanien, Italien, Schweiz, Rumänien, Polen, Belgien, Frankreich, Japan, Singapur und China. Nähere Informationen online unter: http://www.olgageorgieva.com/

HEMMA MARLENE PRAINSACK

ist Film- und Theaterwissenschaftlerin. In ihrer Dissertation widmet sie sich dem Filmstar Harry Piel, dem Sensationsfilm und dem Motiv der Panik zwischen Kaiserzeit und Nationalsozialismus. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verein Institut für Kulturstudien. Davor arbeitete sie in der Generaldirektion des Österreichischen Rundfunks und bei zahlreichen Produktionen am Burgtheater Wien im Bereich Regie und Video.