Sozialstaat – neu denken? VON INGRID NOWOTNY

Vor dem Hintergrund der Corona Krise zeichnet INGRID NOWOTNY die politischen Hintergründe zur Entstehung des Sozialstaates nach und zeigt den Stellenwert, den das österreichische Modell in Krisenzeiten hat.

Einleitung

Corona als Chance – ein derzeit gängiges Schlagwort. Nur ein paar willkürlich ausgewählte Beispiele: Die Ökolog*innen sehen die Chance für eine Eindämmung des Wirtschaftswachstums, die Wirtschaftsliberalen für einen Konjunkturschub durch den Wegfall aller protektionistischen Hindernisse, die Linken für eine effiziente Umverteilung, die Konservativen für die Rückbesinnung auf traditionelle Werte.

Wir wissen nicht, wann die Krise endet und wie sie unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft hinterlässt. Eines ist sicher: Es gibt Verlierer*innen, Menschen, die existenziell bedroht sind – offen bleibt, ob auf Dauer oder mit der Perspektive einer Kompensation der Verluste durch einen schnellen Wirtschaftsaufschwung; es gibt Gewinner*innen, solche, die sich in der Krise etwa durch Innovation eine nachhaltige Marktpräsenz sichern können, und auch „Kriegsgewinnler“, die sich kurzfristig Knappheit und Not schamlos zunutze machen können.

Die größte Herausforderung an das politische System ist hier das Ausmaß und die Folgen solcher Umwälzungen unter Kontrolle zu behalten und Auswüchse nach allen Seiten hin zu verhindern. Es muss hier nicht einer Systemkonservierung das Wort geredet werden – für einen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt muss die Krise allemal kein absolutes Hindernis sein, ja sie kann in gewissem Ausmaß auch den Anstoß dazu geben.

Eines ist sicher: Die Notwendigkeit des Sozialstaates gewinnt in Corona-Zeiten besonderes Gewicht. Die Folgen der sinkenden Nachfrage an Waren und Dienstleistungen können durch Unterstützungen und Förderungen von Unternehmen aus dem Budget aufgefangen werden; die Antwort auf den Einkommensrückgang der Arbeitnehmer*innen und Einzelunternehmer*innen kann demgegenüber nur in einem funktionierenden System des Sozialstaates gesehen werden. Die Akzeptanz von zuvor als veraltet, leistungsfeindlich und teuer eingeschätzten Instrumenten ist demnach auch deutlich gestiegen.

Wie würde Corona aussehen, gäbe es nicht ein effizientes öffentliches allgemein zugängliches Gesundheitswesen, ein eingespieltes Modell der Arbeitsmarktförderung, insbesondere der Kurzarbeit, gekoppelt mit einem System der arbeitsrechtlichen Absicherung und der vielen spezifischen Möglichkeiten der Unterstützung und des Auffangens mehr?

Zeit und Anlass genug, sich der Anfänge und des politischen Kampfes um den Sozialstaat zu besinnen – gerade jetzt, wo mit der Rückschau auf die Entstehung der Republik und auf 100 Jahre Verfassung auch die bahnbrechenden sozialdemokratischen Errungenschaften ins Blickfeld zu rücken sind: In der kurzen Zeit der sozialdemokratischen Mehrheit im Parlament – sie dauerte nur von den ersten Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 bis Juli 1920, dem Zerfall der Regierungskoalition zwischen Sozialdemokraten, Christlich-Sozialen und Deutschnationalen – konnte eine beispielgebende Sozialgesetzgebung beschlossen werden, auf deren Grundzügen wir heute noch aufbauen.

Das politische Umfeld

Zur Vorgeschichte: Nicht nur ein jahrhundertealtes Reich war zerfallen, auch die Staatsstrukturen – die Grundlage für eine effiziente Verwaltung – waren schwer angeschlagen. Die große Aufgabe war nicht nur die längst fällige Ablöse eines in sich morschen, feudalen Systems durch Demokratie und Rechtsstaat, sondern die unmittelbare Herstellung geregelter Bahnen für die Verteilung des noch Verbliebenen: Es ging um das Überleben, um Nahrung, Wohnung, Gesundheit, wirtschaftliche Grundversorgung, Schutz vor Übergriffen, um die Sicherung der Existenzgrundlagen der Bevölkerung zumindest auf niedrigstem Niveau. In dieser Situation waren sowohl die noch handlungsfähigen verbliebenen, als auch die neu zu schaffenden staatstragenden Kräfte gefordert.

Man möchte meinen, dass vor diesem Hintergrund eine revolutionäre und radikale Umwälzung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung stattfinden hätte müssen. Im verbliebenen Österreich war dies nicht der Fall, im Gegensatz zu den revolutionären Räteregierungen in München unter Kurt Eisner und in Ungarn unter Béla Kun. Der Grund dürfte darin liegen, dass die seinerzeit in den Reichsrat gewählten deutschsprachigen Abgeordneten am 21. Oktober 1918 als provisorische Nationalversammlung des deutsch-österreichischen Staates zusammentraten und am 12. November 1918 mit dem Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich die Gründung der Republik als selbstständigen Staat „Deutsch-Österreich“ beschließen konnten. So war zumindest formal eine gewisse Kontinuität gewahrt und Einvernehmen über die Herstellung einer staatlichen Ordnung in Ansätzen hergestellt. Es war keine Stunde Null, in dem Sinne, dass Neues nicht auf bewusster Zerstörung, sondern durch konsensuale Zusammenarbeit entstehen sollte.

Der Weg der politischen Willensbildung

Die provisorische Nationalversammlung nahm „einstweilen“ neben der legislativen auch die administrative Funktion wahr; sie hatte in der Folge – im Sinne der Gewaltenteilung – die administrative Gewalt, die Regierung, auf den Staatsrat zu übertragen. Als Präsidenten dieses aus 20 Mitgliedern bestehenden Staatsrates wurden der Sozialdemokrat Karl Seitz, der Christlichsoziale Jodok Fink und der Deutschnationale Franz Dinghofer ernannt. Der Staatsrat bestellte wiederum die Regierung unter der Führung von Karl Renner als „Leiter der Staatskanzlei“. Die Führung der „Staatsämter“ genannten Ressorts oblag den „Staatssekretären“. Mitglieder des Kabinetts sind neben dem Staatskanzler zwei sozialdemokratische, fünf deutschnationale und drei christlich-soziale Staatssekretäre. Viktor Adler wird als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei – kurz vor seinem Tod – Staatssekretär des Staatsamtes für Äußeres; Ferdinand Hanusch als Vertreter der Freien Gewerkschaften erhält das Sozialressort.

Die Provisorische Nationalversammlung beschloss für den 16. Februar 1919 Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung; deren Hauptaufgabe war die Ausarbeitung und der Beschluss einer Verfassung – der letztlich auch mit „Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz, B-VG 1920)“, BGBl. Nr. 1 1920, umgesetzt wurde.

Bemerkenswert ist, dass der Beschluss über die Verfassung in die Zeit zwischen dem Bruch der „Großen“ Koalition im Juli 1920 und den Neuwahlen am 17. Oktober 1920 fiel. Es zeugt vom starken gemeinsamen Willen der Volksvertretung der jungen Republik eine tragfähige demokratische Basis zu geben, dass selbst in diesem Vakuum eine so grundlegende Einigung zustande kommen konnte. Dies ist wohl der integrativen Kraft Karl Renners und der juristischen Autorität und Klugheit Hans Kelsens zu verdanken.

Die Sozialgesetzgebung

Das Kriegsende zeigte verheerende Folgen: Millionen Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee sind gefallen, zwei Millionen sind verwundet zurückgekehrt und 1,7 Millionen sind in Gefangenschaft, 480.000 überleben diese nicht. Das Land selbst kämpft mit Hunger, Lebensmittelknappheit und Krankheit. Die Wirtschaft ist von den traditionellen Rohstoffquellen und von den „Kornkammern“ abgeschnitten, die Produktion und Versorgung kommt fast zum Erliegen, die Geldwirtschaft bricht zusammen. Das Heer der Arbeitslosen steigt ins Unermessliche und wird durch die rückkehrenden Soldaten und die nunmehr überflüssigen Beamten der Monarchie noch erhöht. Das Konzept der christlichen Caritas und der feudal-patriarchalen Armenversorgung muss vor diesem Hintergrund versagen.

Der treibende Motor für diesen für Europa einmaligen und beispielgebenden Schub an Sozialgesetzen war einerseits der Druck, die akute Not zu lindern, anderseits die Erkenntnis und auch die Angst, dass ein Zerfall geordneter Lebensbedingungen unweigerlich zu ähnlichen revolutionären und blutigen Unruhen wie in den Nachbarländern führen müsse; nicht nur die bürgerlichen Kräfte hatten Angst davor. Hilfreich war, dass auch hinsichtlich der Sozialgesetzgebung nicht von einer Stunde Null gesprochen werden kann. Zum einen wirkte die starke und erfahrene administrative Grundstruktur der Monarchie noch über das Kriegsgeschehen hinaus, zum anderen hatten sich die sozialdemokratischen Kräfte schon lange vorher formiert und gesammelt.

In den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 erreichte die Sozialdemokratische Partei die Mehrheit: 72 Mandate gingen an sie, 69 an die Christlich-Sozialen, 26 an die Deutsch-Nationalen und drei an Sonstige.

Weder die Gunst noch die Not der Stunde zu zitieren ist hier angebracht. Dennoch: In knapp zwei Jahren ein sozialpolitisches Jahrhundertwerk hervorzubringen, kann nur bei entsprechenden Rahmenbedingungen gelingen.

Was waren die wesentlichsten Faktoren, die die Sozialgesetzgebung ermöglichten? Zum einen war die Mehrheit im Parlament unabdingbar; zum anderen wäre diese innovatorische Herkulesaufgabe nicht lösbar gewesen, wären nicht alle politischen Kräfte eingebunden gewesen. Eine „große“ Koalition von Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen bildete die Regierung. Aber auch das allein genügte nicht: Es mussten im Umfeld noch Konstellationen hinzukommen, die die notwendigen Kompromisse ermöglichten. Der äußere Druck der Notsituation allein hätte dazu nicht ausgereicht: In der Arbeiterschaft formierten sich kommunistische Kräfte, die, vereinfacht gesagt, das Ende des Kapitalismus forderten und sich nicht mit einer Besserstellung der Arbeiterklasse durch Reformen und Zugeständnisse abspeisen lassen wollten. Die russische Revolution 1917 und die Räteregierungen waren ihnen Vorbild und treibende Kraft.

Die Sozialdemokratie fürchtete wie die Konservativen das Chaos und den Zusammenbruch jeglicher Ordnung durch eine unkontrollierbare und verzweifelte Radikalisierung der Arbeitermassen. In der Monarchie war es vor 1914 noch in bescheidenen Ansätzen zu einer Sozialgesetzgebung gekommen: Zugeständnisse sollten der Arbeiterschaft den Wind aus den Segeln nehmen und die Sozialdemokratie schwächen, insbesondere in ihrem Bestreben, sich zu solidarisieren und in Gewerkschaften zu organisieren. So gab es schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ansätze einer Sozialversicherung – ganz im Sinne Bismarcks, Macht und Einfluss einer Arbeiterbewegung im Keim zu ersticken. Mit der Gewerbeordnung 1859 wurde die unzureichende Armenfürsorge des obsoleten Zunftwesens, wenn auch lückenhaft und auf niedrigem Niveau, durch versicherungsmäßige Rechtsansprüche ersetzt. Es folgten Gesetze über Betriebskrankenkassen, Genossenschaftskrankenkassen, Unfallversicherung (1887) und die allgemeine Krankenversicherung der Arbeiter (1888) etc.

Die Arbeiterschaft war bis zur Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrechts 1907 von der Gesetzgebung ausgeschlossen; es liegt auf der Hand, dass hier Adel und Landwirtschaft ihre Interessen wahrten: Die Last hatte die Arbeiter*innenschaft durch ihre Beiträge und die Industrie durch ihre bescheidenen Zuschüsse zu tragen.

Die Sozialgesetzgebung Ferdinand Hanuschs – die Beratung durch Karl Pribram

Zur Innovation genügt der Wille der politisch Verantwortlichen allein nicht. Es bedarf der Beratung und des Sachverstandes von Expert*innen. Hier gelang Ferdinand Hanusch ein Glücksgriff: Er zog zur legistischen Arbeit – zur Konzeption und Formulierung der Gesetze – Karl Pribram heran. Er ist heute als Universitätslehrer, Ökonom und Jurist fast vergessen, doch in seiner Bedeutung für die Sozialgesetzgebung nicht zu unterschätzen. Er war als leitender Beamter, zuerst im Wirtschafts- dann im Sozialressort, mit allen Feinheiten der öffentlichen Verwaltung vertraut, konnte als Universitätslehrer Theorie und Umsetzung miteinander verbinden und wusste als Pragmatiker gegensätzliche Interessenlagen auszugleichen.

Auf dem Gebiet der Theorie setzte er sich – vereinfacht gesagt – mit der Rolle des Staates einerseits und den wirtschaftlich handelnden Individuen andererseits auseinander. Zwischen dem staatliche Eingriffe befürwortenden Kollektivismus und dem auf die Aktivität und die Bedürfnisse des/der Einzelnen gerichteten Individualismus neigte er eher dem Wirtschaftsliberalismus im Sinne eines Adam Smith zu. So stellte er sich vehement gegen die autoritär-ständestaatliche Ganzheitslehre von Othmar Spann wie auch gegen die Marx’sche Klassentheorie. Dennoch blieb für ihn eine ausgleichende und umverteilende Sozialpolitik unerlässlich: Die kriegswirtschaftliche Organisation hatte bei gleichzeitigem Fortbestand des Privateigentums zu Regelungen geführt, die die Unternehmen in die Pflicht nahmen und hoheitlichen Beschränkungen unterwarfen. In kluger Voraussicht wollte Pribram weder eine Rückführung auf den Vorkriegszustand, noch eine radikale Neugestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Er sprach sich für eine planmäßige Regelung des Wirtschaftsablaufs aus, aufbauend auf den während des Krieges entstandenen kriegswirtschaftlichen Strukturen und unter Miteinbeziehung unternehmerischer und gewerkschaftlicher Zusammenschlüsse: Der liberalistische Individualismus habe, wenigstens in Mitteleuropa, als Grundlage für eine Ordnung und Neuordnung des Wirtschaftslebens ausgedient.

Dies entsprach ganz der konsens- und kompromissorientierten Grundhaltung Ferdinand Hanuschs: Er wollte die angespannte Situation nicht noch durch letztlich unkontrollierbare Kämpfe zwischen Interessengruppen erschweren. Sein politisches Ziel war, die Pribramsche Konzeption des Ausgleichs zwischen Kollektivismus und Wirtschaftsliberalismus in Form der Sozialpartnerschaft umzusetzen.

Pragmatismus vs. Theorie

Wenngleich auch zu dieser Zeit die Diskussion um die Fragen geführt wurde, ob die Sozialgesetzgebung das per se unsoziale System des Kapitalismus konserviere oder ob soziale Reformen das zielführende Mittel zur Besserung der Lage der Arbeiter*innen sei, vertrat in Österreich die Führung der Sozialdemokratie die pragmatische Richtung. Karl Renner und Ferdinand Hanusch verfolgten die realistische Sicht und ließen sich nicht auf radikale Spekulationen ein, obwohl auch sie zumindest zeitweise dem Druck sozialrevolutionärer Forderungen unterstanden. Das Scheitern der Räteregierungen in den Nachbarländern gab ihnen recht.

Entwicklung der Sozialgesetzgebung

Die Sozialgesetzgebung lässt sich in drei Perioden einteilen: In der ersten Periode – unmittelbar nach der Gründung der Republik bis zur Errichtung der Räterepublik in Ungarn im März 1919 – wurde versucht, die ärgsten Missstände mit Noterlässen und Abhilfemaßnahmen zu beheben. Der Zusammenbruch der Kriegsindustrie führte zu einem Heer von Arbeitslosen; eine staatliche Unterstützung sicherte zumindest für kurze Zeit eine Lohnfortzahlung. Die Einrichtung der industriellen Bezirkskommissionen zur Arbeitsvermittlung organisierte z. B. auch Transporte an neue Arbeitsplätze, die Beschränkung der Arbeitszeit auf täglich acht Stunden sicherte bis zu einem gewissen Grad Arbeitsplätze in Fabriken, ebenso die Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe. Die Regelung der Heimarbeit schützte vor extremer Ausbeutung.

Die zweite Periode fiel in die Zeit radikaler Strömungen im Gefolge der Räteregierungen in den Nachbarstaaten: Die kommunistische Partei gewann an Einfluss; Arbeiter- und Soldatenräte mit hoher Machtfülle außerhalb eines gesetzlichen Rahmens wurden gegründet. Dieser revolutionäre Druck wurde mit vorher undenkbaren Eingriffen in das Wirtschaftssystem abgefangen: Mit der Verordnung Hanuschs vom 14. Mai 1919 über die zwangsweise Einstellung von Arbeiter*innen wurden gewerbliche Betriebe verpflichtet, die Zahl der Arbeitnehmer*innen zu erhöhen – ein kleiner, aber teilweise erfolgreicher Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Von den Plänen zur Sozialisierung – eine dringende Forderung der Arbeiter- und Soldatenräte – ist letztlich nur das Betriebsrätegesetz vom 15. Mai 1919 geblieben. Heute selbstverständlich, war damals die Beteiligung von Arbeiter*innen am betrieblichen Geschehen eine Konzession an die kommunistische Forderung zur Sozialisierung. Das Arbeiterurlaubsgesetz – eine Woche (!) unbezahlten Urlaub für Arbeiter*innen – wurde ähnlich eingeschätzt. In diese Zeit fällt auch die Erlassung des Bäckereiarbeitergesetzes, des Invalidenentschädigungsgesetzes und des Verbots der Nachtarbeit von Frauen und Jugendlichen. Österreich war auch der erste Staat mit einer solchen, als radikal eingeschätzten Gesetzgebung.

In der dritten Periode flaute nach der Niederlage der Räterepubliken in München und Ungarn auch der revolutionäre Schwung in Österreich und damit auch die Angst der Bürgerlichen davor ab. Großdeutsche und Christlichsoziale witterten Morgenluft und lieferten sich im Parlament mit den Sozialdemokraten heftige Polemiken. Sie verhinderten oder verzögerten zumindest weitere Fortschritte. Das Gesetz über die Ausweitung des Achtstundentages auf alle Betriebe kam nur mit Abstrichen zustande. Allerdings gelang der große Wurf der Einführung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes: Die zuvor zu Gänze vom Staat getragene Unterstützung der Arbeitslosen war nicht mehr zu halten – es musste ein System der Finanzierung außerhalb des Staatsbudgets und des Risikoausgleichs durch die Betroffenen gefunden werden. Die Kosten wurden je zu einem Drittel zwischen Unternehmer*innen, Arbeiter*innenschaft und dem Staat geteilt. Der Preis dafür war eine Mindestbeschäftigungsdauer von 20 Wochen pro Jahr und die Verkürzung der zuvor unbegrenzten Bezugsdauer auf zwölf Wochen.

Einer der sozialpolitischen Höhepunkte dieser Periode war die Gründung der Arbeiterkammern. Ferdinand Hanusch war bis zu seinem frühen Tod im September 1923 deren erster Direktor. Die Vertretung der Arbeiter*innenschaft auf Augenhöhe mit den Unternehmer*innen und den Arbeitgeber*innen hat in der damaligen Situation zur Konsolidierung beigetragen und ist nach wie vor eine tragende Säule im Gefüge des österreichischen Weges des sozialen Interessenausgleichs.

Nach 1920

Es erhebt sich die Frage, warum die Sozialgesetzgebung unter Ferdinand Hanusch in manchen Grundstrukturen einerseits noch heute besteht und anderseits kaum je so bekämpft wurde wie in der Zeit unmittelbar danach: Das Ergebnis der ersten Nationalratswahl am 17. Oktober 1920 bedeutete das Ende der Sozialdemokratischen Mehrheit und der „großen“ Koalition. Die Christlich-Sozialen erhielten 85 Mandate, die Sozialdemokrat*innen 69 und die Deutsch-Nationalen 28. Die Hochburg der Sozialdemokratie blieb Wien, wo der soziale Fortschritt unter den Bürgermeistern Jakob Reumann und Karl Seitz bis zum gewaltsamen Ende 1934 beispielhaft für ganz Europa war. Im Bund bekämpften insbesondere die Bundeskanzler Johann Schober, der als ehemaliger Polizeipräsident von Wien 1927 in die Menge schießen ließ und Ignaz Seipel, der „Prälat ohne Milde“, die Sozialgesetzgebung: Die Parolen, den „revolutionären Schutt“ wegzuräumen oder „die Revolution liquidieren“ führten schrittweise, langsam aber sicher zur Katastrophe von 1934.

Dennoch: Warum konnte auch der reaktionärste und kapitalismusfreundlichste Druck der Christlich-Sozialen die sozialen Fortschritte erst mit den Mitteln der Diktatur rückgängig machen? Zu groß war die Furcht vor dem Zusammenhalt derArbeiter*innenschaft und auch vor der Reaktion der sozial Ausgegrenzten in den eigenen Reihen. Auch die Vertretung der Unternehmer*innenschaft war nicht unbedingt auf der Seite der destruktiv-reaktionären Kräfte, sondern sah eher im Kompromiss das Mittel gegen Gewalt und Klassenkampf. Mit der Handelskammer hatte sich Hanusch leichter als mit der christlich-sozialen Regierung getan, zumal die Arbeiterkammer schon in der Lage war, durch Gutachten, Berichte und Statistiken fundierte Grundlagen für Verhandlungen zu liefern.

Die Weitsicht Hanuschs schlägt sich in der Konzeption der Aufgaben der Arbeiterkammer nieder: Sie soll nicht nur individuellen Beistand, Schulung und Rechtsberatung bieten oder betriebliche Interessen fördern, sie soll sich auch in Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik einbringen. Lohn- und Sozialpolitik sind nicht von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu trennen. Es wurde erkannt, dass deren Entwicklung nicht allein vom Markt abhängt, sondern gerade in Krisenzeiten aktiv gesteuert werden kann und muss. Die personellen und administrativen Ressourcen der Arbeiterkammer ermöglichten eine fundierte Argumentation gegen eine restriktive Sparpolitik auf Kosten der Sozialpolitik, oder besser für eine expansive Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Qualität der Grundlagen, insbesondere der Arbeits- und Lohnstatistiken, erhöhte die Akzeptanz der Gegenseite, sodass Lohnverhandlungen, Verhandlungen über Unterstützungen, staatliche Zuschüsse oder Index- und Preisfestsetzungen auf Augenhöhe geführt werden konnten – eine unabdingbare Notwendigkeit in Zeiten der Inflation und wirtschaftlichen Restrukturierung. Dieses über die Eigeninteressen der Arbeiter*innenschaft hinausgehende gesamtwirtschaftliche Verständnis der Arbeiterkammern ist bis heute geblieben – umso unverständlicher und verantwortungsloser die derzeitigen Tendenzen zu ihrer Schwächung und Untergrabung.

Letztlich geht auch das österreichische System des kollektiven Arbeitsrechtes – insbesondere der Lohnfindung durch Kollektivverträge und der betrieblichen Mitbestimmung – auf diese Zeit zurück. Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie die Koalitionsfreiheit bildeten den verfassungsrechtlichen Rahmen dazu.

Ausblick

Die Langzeitfolgen von Corona sind nicht abzusehen. Eines steht jedoch – wie eingangs schon bemerkt – fest: Der Markt wird die Folgen nicht regeln können; die Arbeitslosigkeit wird zu bekämpfen sein, sodass die Sozialpolitik mehr gefordert ist denn je. Das Hoffen auf eine gute Konjunktur, auf ein Ansteigen der Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen und damit auch nach Arbeitskräften ist berechtigt, auch werden die Staatseinnahmen steigen und die Folgen der Staatsverschuldung brauchen nicht gefürchtet zu werden. Allerdings: Die Verteilung regelt sich nicht selbst. Das Wirtschaftswachstum allein sichert noch nicht Wohlstand für alle.

Die eingangs angesprochene Chance der Corona-Krise liegt nun darin, dem Sozialstaat wieder den Stellenwert zurückzugeben, den er für jede Krisenbewältigung hat: Nicht nur das Überleben zu sichern, sondern eine Grundlage für Wohlstand und Sicherheit für alle zu bieten. Die Sozialpartnerschaft darf nicht mehr in Frage gestellt und eine Rückkehr zu neoliberalem Wirtschaftsegoismus muss ausgeschlossen werden. Insofern wird auch die Naivität der Grünen nicht ausreichen, allein durch klimaschonende Umstrukturierung hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen zu wollen, so sehr es notwendig ist, das Konzept der Schaffung von „green jobs“ in alle Maßnahmen der Beschäftigungspolitik miteinzubeziehen.

In diesem Sinne muss die Sozialdemokratie wieder politisches Gewicht bekommen – die Wähler*innen werden ihre Werte gerade in der Bewältigung der Folgen von Corona wieder zu schätzen wissen.

INGRID NOWOTNY ist Juristin und war nach ihrer Zeit als Universitätsassistentin an der Universität Linz in Wien im Arbeits- und Sozialministerium im Bereich Arbeitsmarktpolitik in leitender Funktion für Legistik, Arbeitslosenversicherung und Ausländerbeschäftigung tätig. Seit ihrer Pensionierung ist sie Vorsitzende der SPÖ-Bildungsorganisation des Bezirks Wien-Hietzing.

Literatur

  • Fischer, Heinz/Silvestri, Gerhard (1970): Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte. Von der Pragmatischen Sanktion zur Bundesverfassung (17131966), Wien: Geyer-Edition.
  • Fischer, Heinz (Hg.) unter Mitarbeit von Andreas Huber und Stephan Neugebauer (2018): 100 Jahre Republik. Meilensteine und Wendepunkte in Österreich 1918–2018, Wien: Czernin.
  • Hautmann, Hans (1973): Ferdinand Hanusch: der Staatssekretär (30. Oktober 1918 bis Oktober 1920), in: Staininger, Otto (Hg.): Ferdinand Hanusch (1866–1923): Ein Leben für den sozialen Aufstieg, Wien: Europa, 75–104.
  • Göhring, Walter/Pellar, Brigitte (2003): Ferdinand Hanusch. Aufbruch zum Sozialstaat, Wien: ÖGB.
  • Rathkolb, Oliver (2018): „Glauben Sie nicht, dass mit all diesen Dingen die soziale Frage gelöst …“, in: Konrad, Helmut (Hg.): 1918-2018: Die Anfänge der Republik Österreich im internationalen Kontext, Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Haus der Geschichte Österreich.
  • Chaloupek, Günther (2019): Karl Pribram (1877-1973): Ökonom und Pionier der österreichischen Sozialgesetzgebung, in: Wirtschaft und Gesellschaft 3, 403–419.

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