Editorial ZUKUNFT 05/2024 – Europa – Wahlen -VON ALESSANDRO BARBERI UND ELISABETH KAISER

Das internationale Friedensprojekt Europa ist seit jeher mit der Politik der Sozialdemokratie verbunden und steckt nach wie vor den allgemeinen Rahmen ab, in dem die 27 Mitgliedsstaaten sich realpolitisch positionieren können. Deshalb ist es von großer Wichtigkeit, die kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament am 09. Juni 2024 deutlich ins Zentrum der Diskussion zu rücken, weil es lokal und national schlussendlich keine politische Entscheidung mehr gibt, die nicht auf die Institutionen und Gesetzgebungsprozesse Europas verwiesen ist. Ganz in diesem Sinne hat die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen, in Zusammenarbeit mit der österreichischen Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) eine Ausgabe zu gestalten, die Diskussionsgrundlage und Unterstützung eben dieser progressiven Allianz im Sinne einer Neuen Internationale sein soll.

Dies beginnt mit einem Grußwort von Evelyn Regner, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, das auf der Notwendigkeit progressiver Frauenpolitik in allen politischen Bereichen insistiert und nachzeichnet, was sich in den letzten Jahren auf europäischer Ebene dank starker Sozialdemokratie und Gewerkschaft zugunsten von Frauen, Mädchen und somit der Gesellschaft als Ganzes getan hat. Dabei steht die mehr als bedenkliche Lohnschere genauso vor Augen, wie die nach wie vor nicht realisierte Gleichstellung von Frauen und Männern. Auch die Gewalt gegen Frauen und Mädchen – online sowie offline – beschäftigt in den letzten Jahren nicht nur Österreich mit seinem Femizidproblem, sondern auch alle politischen Repräsentant*innen in Europa. In diesem Kontext betont Regner dennoch zuversichtlich, dass wir das einzigartige Demokratie- und Friedensprojekt Europa besser machen können, um den Weg in eine nachhaltige und vor allem solidarische, soziale und feministische ZUKUNFT zu ebnen.

Ganz in diesem europäischen Sinne geht es auch Andreas Babler, Bundesparteivorsitzender der SPÖ, nachdrücklich darum, ein faires und d. h. immer auch gerechtes Europa zu fordern und im Sinne einer progressiven Politik von unten zu realisieren. Dies auch und vor allem im Blick auf die Neue Rechte und den (nationalen) Rechtspopulismus, dem nur ein soziales und demokratisches Europa etwas entgegensetzen kann. Dabei steht angesichts aller Errungenschaften auch in Europa die Gefahr vor Augen, dass Krieg an der EU-Außengrenze, Teuerungskrise, Pandemie und die Erderhitzung Verwerfungen und große Unsicherheit mit sich bringen. Die wichtigste Antwort auf diese Krisenphänomene ist, dass die Interessen der Menschen im Mittelpunkt der (sozialdemokratischen) Politik stehen müssen. Denn nur eine starke Sozialdemokratie kann ein soziales, demokratisches und faires Europa garantieren. Ein Europa, das sich wirklich um die Menschen und ihre Probleme kümmert, gute Arbeitsplätze schafft und soziale Sicherheit bietet, ist denn auch das beste Mittel gegen Rechtsruck, Rassismus und Spaltung: und dafür kämpft die Sozialdemokratie. Deshalb sollten wir, so Babler, alle den 09. Juni 2024 nutzen, um Europa gerechter zu machen und das Leben möglichst aller Menschen zu verbessern.

Dass dieses Selbstverständnis im Rahmen der Sozialdemokratie auch generationenübergreifend Geltung hat, belegen dann Paul Stich und Fabian Zickler, die aus der Perspektive der Sozialistischen Jugend(SJ) ein Europa for the many, not the few fordern und dabei deutlich einer Neuen Internationale das Wort reden. Denn wir befinden uns in einem krisengebeutelten Wandel, der sich auch auf unsere gesamte politische Arbeit auswirkt. So konstatieren die beiden Autoren, dass der Siegeszug des Neoliberalismus – zunehmende Globalisierung und entsprechender Konkurrenzdruck, die Abwanderung ganzer Wirtschaftssektoren, Druck durch Lohndumping – und die daraus folgenden Krisen des kapitalistischen Systems ein Unsicherheitsgefühl erzeugen, dass sich oft in Wahlstimmen für die politische Rechte widerspiegelt. Genau deshalb ist eine Bündelung aller sozialen und demokratischen Kräfte ein Gebot der Stunde, weil der Kampf für eine europäische Struktur, die nicht von konservativen und neoliberalen Player*innen dominiert ist, am 09. Juni 2024 auch nicht enden wird.

Welche Schwierigkeiten sich dem Verhältnis von Journalismus und Politik angesichts einer digitalen Wissens- und Informationsgesellschaft auf europäischer Ebene stellen, diskutiert dann Daniela Kittnerin einem Zeitgespräch mit Gerhard Schmid. Dabei steht vor allem der gefährliche Umstand vor Augen, dass die relative Autonomie der Politik mehr und mehr von Propaganda und Marketing durchsetzt ist, was sich auch negativ auf die Kommunikationsformen von Journalist*innen und Politiker*innen auswirkt. Die Europawahlen sind in diesem Zusammenhang sehr wichtig, weil im EU-Parlament wichtige Weichenstellungen für Europa getroffen werden. Es steht aber zu befürchten, dass die EU-Wahl von der Innenpolitik verdeckt werden wird. Den Grund dafür sieht Kittner in der Neupositionierung der ÖVP, die ihre pro-europäische Ausrichtung im Laufe der letzten Jahre dem Rechtspopulismus geopfert hat. Und das wiederum ist einer der Gründe, warum die Europapolitik in Österreich nicht mehr so stattfindet wie früher und das pro-europäische Bewusstsein schwindet.

Wie dementgegen die europäischen Herausforderungen sozial und demokratisch beantwortet werden können, arbeitet dann Andreas Schieder, Leiter der SPÖ-Delegation im EU-Parlament, heraus, um den Blick schon jetzt auf die Post-2024-Prioritäten Europas zu lenken. Dabei hat auch Schieder den Rechtsruck vor Augen, der – wie das Beispiel der USA oder Indiens belegt – nicht nur ein europäisches, sondern vielmehr ein globales Phänomen ist. Deshalb muss im Sinne internationaler Solidarität soziale Gerechtigkeit in der globalen Produktion entlang der gesamten Lieferkette gestärkt, müssen Kinderarbeit und Ausbeutung abgeschafft und Arbeitsbedingungen verbessert werden, ohne unsere hohen europäischen Standards in Frage zu stellen. Die Umstände sind angesichts multipler Krisen nicht einfach, weshalb auch komplexe Formen der Politik nötig sind. Dennoch steht ein einfaches, aber richtiges politisches Ziel vor Augen: Ein gutes Leben für alle. Unsere Demokratie kann mithin nur verteidigt werden, wenn wir, so Schieder, aus ihr eine soziale Demokratie machen.

Auf dem Weg in die ZUKUNFT benötigen wir also ein starkes und soziales Europa, das an seiner Integration arbeiten muss, wie Pia Maria Wieninger, Frauenvorsitzende der SPÖ Donaustadt, auch im Sinne des Feminismus hervorhebt. Denn trotz der beachtlichen Leistungen und des Umstandes, dass die „Generation Erasmus“ schrittweise an politischer Verantwortung gewinnt, stehen die diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament unter dem Zeichen einer gewissen Verknöcherung des europäischen Projekts samt Institutionen. Dies gerade aus lokaler und nationaler Perspektive, wenn bedacht wird, dass sich die Hoffnung, dass der wirtschaftlichen Integration unmittelbar der gesellschaftliche Wandel zum Besseren, zum Fortschrittlichen folgt, nicht bewahrheitet hat. Auch Wieninger problematisiert dahingehend die „Orbánisierung“ Europas und betont, dass nur eine geschlossene demokratische Politik auf allen Ebenen zielführend sein kann. Dies gerade dann, wenn Städte und Regionen – wie etwa das Rote Wien – als progressive Treiber im europäischen Gesamtverband begriffen werden.

Die bisher diskutierten (europäischen) Zusammenhänge stehen dann auch mit dem Interview vor Augen, das Günther Sidl, sozialdemokratisches Mitglied des Europäischen Parlaments, der stellvertretenden Chefredakteurin der ZUKUNFT, Elisabeth Kaiser, gegeben hat. Dabei geht es vor allem um die Corona-Pandemie, den Klimawandel, technologische Fortschritte, Zuwanderung, künstliche Intelligenz, Energieversorgung der Zukunft, die Angst vor dem sozialen Abstieg und den Krieg in der Ukraine. Auch steht im Blick auf Verwaltungsprobleme vor Augen, dass die ländlichen Räume immer mehr ausdünnen und die großen Städte den Zuzug und die vielen täglichen Pendler*innen kaum noch bewältigen können. Insgesamt ist für Sidl klar, dass die EU dringend mehr soziales Fundament braucht, der Klimaschutz eine große Chance sein kann und wir wieder mehr Produkte „Made in EU“ produzieren müssen. Und all das geht nur mit einer handlungsstarken EU, die auch korrigierend in die deregulierten Märkte eingreifen kann.

Darüber hinaus wird ein kommendes Europa an den Grenzen des Wachstums auch auf alle Bereiche der „Nachhaltigkeit“ reagieren müssen, wie Christian Kaiserseder argumentiert. Er geht dabei der Frage nach, wie Nachhaltigkeit gelingen kann und folgert daraus, dass sie auf allen politischen Ebenen – auch ungeachtet der jeweiligen Ideologie – ein notwendiges und unabdingbares Handlungsprinzip für diese und zukünftige Generationen ist. So können gegenwärtig Unternehmen und Individuen durch eigenverantwortliches Handeln zur Nachhaltigkeit beitragen. Jedoch muss, so unser Autor, klar gesagt werden, dass die Letztverantwortung nicht auf die Einzelnen abgewälzt werden kann. Denn der/die Einzelne hat oft nicht die Möglichkeit zu erkennen, ob die gekauften Produkte nachhaltig sind und unter entsprechenden Umwelt- und Sozialstandards produziert wurden.

Wie lassen sich nun all diese europäischen Problembereiche in konkrete Realpolitik umsetzen? Zum Abschluss unserer Ausgabe zu den Europa-Wahlen geht Wolfgang Markytan der Frage nach, warum die Darstellung der Europäischen Institutionen sowie die eher spärlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten Einzelner dazu beitragen, dass sich der Großteil der politischen Akteur*innen eher selten mit den Errungenschaften der EU auseinandersetzt. Um auch einer damit verbundenen „Politikverdrossenheit“ etwas entgegenzusetzen, schlägt Markytan vor, einem „positivistischen Neo-Populismus“ zu folgen, mit dem die theoretische Reflexion des politischen Handelns und die praktischen Bedürfnisse der Menschen in einen engen Zusammenhang treten könnten. Dies setzt voraus, dass das Verhältnis von Theorie und Praxis anhand von politischen Beispielen untersucht wird, die in ihren realpolitischen Zielen erfolgreich waren. Wir müssen also auf globaler wie lokaler Ebene von (Wahl-)Sieger*innen lernen, um auch weiterhin als geschlossene Sozialdemokratie bestehen und erfolgreich sein zu können.

Die treuen Leser*innen der ZUKUNFT wissen, dass wir mit jeder Ausgabe auch herausragende Künstler*innen vorstellen, weshalb wir diesmal Katrin Weidhofer herzlich dafür danken wollen, dass sie unsere europäischen Diskussionen mit Bildern von größter Sensibilität und Humanität bereichert, die als gesamte Serie für die Schönheit des inneren Reichtums der Menschheit stehen. Deshalb finden Sie am Ende unserer Ausgabe auch ein wertvolles Interview mit unserer Ausnahmemalerin, das Elisabeth Kaiser geführt hat. Darüber hinaus hat Weidhofer einen Beitrag zur Verfügung gestellt, der im Sinne eines nachdenklichen Essays in die Philosophie ihrer Arbeiten einführen soll und so – in allen Wortbedeutungen – das Bild unserer Ausgabe zu Europa – Wahlen abrundet …

Insgesamt bleibt uns nur zu betonen, dass diese Ausgabe zu den EU-Wahlen der Redaktion nicht zuletzt deshalb ein Anliegen ist, weil wir unsere Leser*innen zu den Urnen aufrufen wollen. Denn wir werden nur solidarisch und gemeinsam an einer besseren Welt, einem besseren Europa und einem besseren Österreich arbeiten können, wenn eine starke sozialdemokratische Kraft auf allen politischen Ebenen Kante zeigt und handlungsfähig ist.

Es grüßen Sie im Namen der gesamten Redaktion

Alessandro Barberi und Elisabeth Kaiser

ALESSANDRO BARBERI

ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion 32 (Wildganshof/Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://orcid.org/0000-0003-4228-8172.

ELISABETH KAISER

hat das Diplomstudium Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien sowie den Masterlehrgang „Führung, Politik und Management“ am FH Campus Wien abgeschlossen. Aktuell absolviert sie das Psychotherapeutische Propädeutikum an der Universität Wien. Von 2008 bis 2016 hat sie in der Funktion der Geschäftsführerin den Verein ega:frauen im zentrum geleitet. Seit Mitte 2016 ist sie als stellvertretende Direktorin der Wiener Bildungsakademie (wba) tätig.