Editorial ZUKUNFT 04/2024: Frauenpolitik – VON ALESSANDRO BARBERI, VIKTORIA KRIEHEBAUER, MARLIES ETTL UND ELISABETH KAISER

Dass die Emanzipation der Menschheit in eminenter Weise von der Befreiung der Frauen abhängt, zählt zu den Grundeinsichten der Arbeiter*innenbewegung und des Feminismus. Dabei insistierte die Frauenbewegung durch alle Wellen hindurch im Namen von Freiheit und Gleichheit auf den spezifischen Problemen, denen sich Frauen im Kampf gegen das Patriarchat wohl schon seit Jahrtausenden stellen müssen. Denn grundlegende Diskriminierungen ökonomischer, sozialer oder sexueller Art treffen Frauen auch zeit-, gesellschafts- und kulturübergreifend auf das Härteste, weshalb eine kantige Kritik dieser brutalen Zustände auch nach wie vor eine radikale feministische Politik nötig hat. Dies auch, weil in den letzten Jahrzehnten – parallel zum Ausbau des neofeudalen Kapitalismus auf globaler Ebene – unzählige frauenpolitische Backlashs hingenommen werden mussten, welche die ohnehin schwierige Lage von Frauen drastisch verschärft haben. Deshalb hat die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen, dem Thema „Frauenpolitik“ eine eigene (violette) Ausgabe zu widmen, um eine Diskussionsbasis für eine geeinte Frauenbewegung zur Verfügung zu stellen. Dabei konnten wir eine hoch kompetente Runde von ebenso hoch engagierten Autorinnen gewinnen, die sich bei allen argumentativen Unterschieden hinsichtlich der Selbstbestimmung von Frauen grundlegend und in solidarischem Sinne einig sind.

Dies beginnt mit der berührenden Rede von Gertraud Klemm, die unsere Autorin anlässlich des 85. Geburtstags von Johanna Dohnal an ihrem Grab am Wiener Zentralfriedhof gehalten hat. In Erinnerung an die frauenpolitischen Fortschritte, die mit Dohnal verbunden bleiben, bündelt diese Rede keineswegs nur rhetorisch entscheidende Tatsachen zur Lebensrealität von Frauen, sondern analysiert auch angesichts gesellschaftlicher „Differenzierungen“ die aktuellen Schwierigkeiten, ein schlagkräftiges Frauenkollektiv herzustellen, das gemeinsame Interessen bündeln und politisch effektiv realisieren kann. Denn wer genau ist das „Wir“ der Frauen? Klemm präsentiert als Antwort zahlreiche Argumente, die es möglich werden lassen, eine geeinte Frauenpolitik zu denken und umzusetzen. Denn: „Wir“ sind diejenigen …

Wie die Diversifizierung unserer Gesellschaften die Frauenpolitik gefährdet, thematisiert dann auch Bettina Reiter, die im Rahmen der Veranstaltung „Geschlechtergerechtigkeit – quo vadis?“ der Europäischen Gesellschaft für Geschlechtergerechtigkeit Österreich (EGGÖ) 2023 ebenfalls eine eindringliche Rede gehalten hat. Dabei wird – im Blick auf Begriffe wie „Wokismus“, „Cancel Culture“ oder „TERF“ – auf mehrfacher Ebene das Bedenkliche einer „Identitätspolitik“ deutlich, die in ihrem identitären und d. i. reaktionären Tribalismus nicht nur die Demokratie, sondern in ihr eben auch den Feminismus im Sinne der Selbstbestimmung aller Menschen delegitimiert. Dies nicht zuletzt, weil durch die kapitalistische Konkurrenzlogik nur mehr das Ego zählt und es deshalb auch aus dieser Perspektive schwer ist, ein progressives Kollektiv zu gründen, das (organisatorische) Grundlage feministischer Politik sein könnte.

Die Befreiung der Frauen ist mithin Grundlage der Befreiung aller Menschen im Namen der Gleichheit, weshalb eine progressive Frauenpolitik – im Übrigen seit der Französischen Revolution – von der normativen Kraft der universellen Menschenrechte getragen werden kann und auch muss. Deshalb stellt Elfi Rometsch eine entscheidende Frage in den Raum: Ist es Menschenrecht, eine Frau zu sein? Auch ihr ist es ein dringendes Anliegen, angesichts der endlosen Ausdifferenzierung einer frauenfeindlichen Geschlechterpolitik die Spezifika der Frauenpolitik zu unterstreichen. Dabei geht es u. a. im Blick auf Selbstbestimmung, Biologie und Menschenrechte um die intellektuellen Grenzen der Queer Theory, die in ihrer postmodernen Wirklichkeits- und Materialitätsfeindlichkeit die Frauenpolitik „wegdifferenziert“ und zum Verschwinden bringt.

All diese eröffnenden feministischen Argumente spielen auch in dem Interview eine Rolle, das die in Wien lebende Journalistin und Autorin Nada Chekh dankenswerterweise Roswitha Tschenett gegeben hat, um nicht zuletzt ihren Roman Eine Blume ohne Wurzeln (2023) vorzustellen. Chekh ist als Tochter einer Ägypterin und eines Palästinensers in einem Gemeindebau in Wien-Favoriten aufgewachsen und berichtet von den immensen Schwierigkeiten, die sich im Blick auf traditionale Verhältnisse in der muslimischen Community für Frauen ergeben. So wird u. a. die grauenhafte Praxis des „Ehrenmordes“ an Frauen besprochen, der in seiner Brutalität im Grunde durch den Begriff des „Femizids“ beschönigt wird. In diesem Kontext geht es auch um die Rolle und Funktion des Kopftuchs, wenn Chekh deutlich macht, wie schwer es ist, als Progressive unter Progressiven auf Missstände hinzuweisen, wenn sie nicht dem „multikulturellen“ Mainstream entsprechen.

Die aktuelle Diskussion lässt sich mithin auch mit der Problemzone des Kopftuchs zusammenfassen. Deshalb versteht sich der Beitrag von Necla Kelek als eine Analyse dieses entscheidenden feministischen Bereichs, wenn sie das gesetzliche Verbot des „Kinderkopftuchs“ im öffentlichen Raum zum Gegenstand der Debatte macht. Dabei hat sie vor allem Ausbildungsinstitutionen für minderjährige Mädchen im Blick. In diesem Zusammenhang steht auch die Frage im Raum, was genau Freiheit in unserer liberalen Demokratie bedeutet und inwiefern das Kopftuch prinzipiell mit dem Islam verbunden ist. Kelek macht dabei ganz deutlich, dass ein Verbot des Kinderkopftuchs eine feministische Notwendigkeit darstellt und trägt dafür eine Reihe von klugen Argumenten vor.

Einer der sensibelsten Bereiche der Frauenfrage ist seit jeher die Prostitution. Geht es bei Sexarbeit wirklich nur um „Arbeit“ oder handelt es sich um systematische Ausbeutung und Erniedrigung von Frauen? Für Brigitte Hofmann und Susanne Riegler ist in dieser Frage klar, dass die neue progressive Frauenpolitik mit einem Perspektivwechsel in der Prostitutionspolitik verbunden werden muss, wie durch die Diskussion des „Nordischen Modells“ mehr als deutlich wird. Dabei geht es durchaus nicht nur um die Bestrafung der Freier, sondern um eine systematische gesellschaftspolitische Kritik an Prostitution als Menschenhandel und geschlechtsspezifische Gewalt, die mit einer Entkriminalisierung und breiten Unterstützung der betroffenen Frauen einhergehen muss.

Eine Diskussion des „Nordischen Modells“ ist mithin für eine neue Frauenpolitik unabdingbar, wie auch mit der Rezension von Viktoria Kriehebauer vor Augen steht. Denn die Marxistin Nadja Habibi hat mit Prostitution versus Sexarbeit (2022) nicht nur eine aufklärende Geschichte der Prostitution geschrieben, sondern auch eine deutliche Unterscheidung beider Begriffe getroffen. Sie positioniert sich deutlich gegen den Ansatz, dass Prostitution Sexarbeit sei und weist – u. a. im Rekurs auf Friedrich Engels – nach, dass eine „Liberalisierung“ des Prostitutionsgesetzes beim Wort genommen werden muss, da sie auch auf rechtlicher und sozialer Ebene nur scheinbar zu einer „Befreiung“ von Frauen führt. Vielmehr kommt es gerade in diesem sensiblen Bereich unseres Umgangs mit Sexualität zu einer drastischen Verschleierung von Tätern und Opfern.

Genau deshalb müssen auch jene gesellschaftlichen und politischen Bereiche in Diskussion bleiben, die deutlich machen, dass Frauen gezielt Opfer von männlicher Gewalt sind. Kaum ein Thema macht dies so erschreckend sichtbar, wie die weibliche Genitalverstümmelung – engl. female genital mutilation (FGM)/cutting (C) –, die Beate Wimmer-Puchinger zum Gegenstand ihrer Ausführungen macht. Bei FGM/C handelt es sich um ein grausames patriarchales Relikt einer Praxis, die noch immer in vielen afrikanischen und arabischen Ländern verübt wird und immense psychische und soziale Folgen für die leidenden Frauen hat: eine Genitalverstümmelung bedeutet eine schwere Traumatisierung des betroffenen Mädchens bzw. der Frau, denen das weibliche Genital – Schamlippen, Klitoris – „weggeschnitten“ wird, nur weil Frauen über die Potenz der Fertilität, repräsentiert durch monatliche Blutungen, verfügen.

All diese so bedenklichen Problemzonen der Frauenpolitik werfen gerade im Umfeld der Sozialdemokratie die u. a. bildungspolitische Frage auf, was gegen die Diskriminierung von Mädchen und Frauen konkret getan werden kann. Der Beitrag von Marlies Ettl, Direktorin der Hertha Firnberg Schulen (HFS), gibt dahingehend einen beeindruckenden Bericht von pädagogischen und praktischen Möglichkeiten der geschlechtersensiblen Schulpolitik. So bleibt etwa Pierre Bourdieus Konzept des Habitus nicht nur eine Theorie, sondern trägt im Alltag einer Schule durch spezifische Trainings zur Selbstermächtigung aller Beteiligten bei. Ettl erläutert dabei für die Leser*innen der ZUKUNFT nicht nur Pädagogisches, sondern hält im Sinne unserer ganzen Ausgabe ein flammendes Plädoyer für eine neue progressive Frauenpolitik.

Unsere Diskussionszeitschrift blickt nun schon auf eine lange Tradition zurück, in und mit der künstlerische und literarische Arbeiten zu unseren Schwerpunkten eine wichtige Rolle einnehmen. Deshalb freut es uns, dass Julia Kraft im Sinne einer literarischen Verarbeitung der eigenen Biografie unser Thema „Frauenpolitik“ sensibel aufgenommen hat und auf ästhetischer Ebene zeigt, wie schwer es unter den gegebenen sozioökonomischen Bedingungen ist, sich als selbstbewusste Frau zu entwickeln. Krafts autobiografischer Beitrag verweist mehrfach auf ihren Bildungsprozess sowie die mit ihm verbundenen Hindernisse und betont nachdrücklich, dass progressive Frauenpolitik davon abhängig ist, geschlechterbezogene Barrieren ganz in diesem Sinne zu analysieren, um sie souverän zu verändern und dadurch deutlicher zu erkennen, was es heißt, eine Frau zu sein.

Dass derartige Barrieren auch gesellschafts- und kulturübergreifend mehr als wahrnehmbar sind, belegt dann auch der pointierte Beitrag von Nina Scholz. Denn anlässlich des Prozesses gegen drei aus Afghanistan nach Österreich geflüchteten jungen Männer, die die 14-jährige Leonie in Wien ermordet haben, müssen progressive feministische Kräfte auch die Folgen von Migration aus zutiefst frauenfeindlichen Ländern unter die Lupe nehmen, die nicht nur, aber in besonderem Maße die Sicherheit von Mädchen und Frauen gefährden. So war in den letzten Jahren nicht zu übersehen, dass es sich bei diesbezüglichen Tätern häufig – aber freilich nicht immer – um Migranten/Flüchtlinge aus islamisch geprägten Ländern handelt, mithin aus Ländern, in denen ein extrem frauenfeindliches gesellschaftliches Klima vorherrscht, das nicht verschleiert werden kann.

Zusammenfassend betont dann am Ende unserer Ausgabe Sara do A. T. da Costa auch als Frauensekretärin der SPÖ und in Erinnerung an Johanna Dohnal, dass Österreich in Sachen Gleichberechtigung nach wie vor hinterherhinkt. So hat der AK-Städtebund-Gleichstellungsindex erst jüngst sehr deutlich gezeigt, dass es um die politische Repräsentation von Frauen in der Politik nach wie vor schlecht bestellt ist. Der Anteil von Frauen z. B. in den Gemeindevertretungen bewegt sich sehr, sehr langsam in eine positive Richtung und es ist kaum zu glauben, dass sich in 21 österreichischen Gemeinden keine einzige Frau im Gemeinderat findet. Keine einzige! Damit steht deutlich im Raum, dass Feminismus und Frauenpolitik auf allen (nicht nur politischen) Ebenen mit Selbstbestimmung und Souveränität verbunden werden müssen.

Genau diese Frage nach weiblicher Souveränität beschäftigt auch unsere Ausnahmekünstlerin Daniela Luschin, die der ZUKUNFT mit ihren eindrucksvollen Gemälden freimütig die Möglichkeit geboten hat, das Schwerpunktthema „Frauenpolitik“ vom Cover weg auch visuell vor Augen zu führen. Dabei handelt auch das intensive Interview, das sie Elisabeth Kaiser gegeben hat, von den schmerzhaften Erfahrungen einer „spätberufenen“ Frau, die an den Türen des männlichen Kunstmarkts ums menschliche und/als künstlerische Überleben kämpfen muss: daher lauten die Titel ihrer zärtlichen „Wutbilder“ u. a. minuten vorm amoklauf, der vogel ist eine handgranate oder ihr strahlen ist radioaktiv. Für uns alle geht es dabei aber immer um einen sprung in die freiheit

Insgesamt hoffen wir als Herausgeberinnen, dass die hier les- und sichtbare Frauenpower dazu beiträgt, unnötige Differenzen im Rahmen der Frauenbewegung feministisch zu überwinden, um mit der Befreiung von Frauen auch im Sinne elementarer Mitmenschlichkeit auf die Befreiung aller Menschen zu verweisen.

Wir senden Ihnen herzliche und solidarische Grüße

Alessandro Barberi, Viktoria Kriehebauer, Marlies Ettl und Elisabeth Kaiser

ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Hochschuldozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Weitere Infos und Texte online unter: https://orcid.org/0000-0003-4228-8172.

VIKTORIA KRIEHEBAUER
hat 1982 die Hertha Firnberg Schulen für Wirtschaft und Tourismus (HFS) gegründet. Sie engagiert sich derzeit als Vorstandsmitglied der Frauen-NGO Terre des Femmes Österreich (www.terredesfemmes.at), um alle Formen der Gewalt an Frauen zu bekämpfen.

MARLIES ETTL
ist Schulleiterin der Hertha Firnberg Schulen (HFS). Sie ist auf unterschiedlichen Ebenen in der Frauenpolitik tätig und seit langer Zeit aktive Feministin. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der NGO Terre des Femmes Österreich. Weitere Informationen online unter: http://www.firnbergschulen.at/.

ELISABETH KAISER
hat das Diplomstudium Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien sowie den Masterlehrgang „Führung, Politik und Management“ am FH Campus Wien abgeschlossen. Von 2008 bis 2016 hat sie in der Funktion der Geschäftsführerin den Verein ega:frauen im zentrum geleitet. Seit Mitte 2016 ist sie als Direktorin der Wiener Bildungsakademie (wba) tätig.