Sozialdemokratie 2.0 oder eine Theorie der Unmündigkeit in Zeiten der Pandemie – von Georg Koller

Dass die Sozialdemokratie ihre einstige Größe nicht zuletzt verloren hat, weil sie eine gänzlich selbstverschuldete Unmündigkeit an den Tag legt, bringt Georg Koller angesichts der digitalen Ausbeutung des Spätkapitalismus dazu, einen Aufruf zu formulieren …

1. Vorwort(e)

Zweierlei Dinge sollen am gegebenen Titel auffallen: Erstens das inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch einsickernde Idiom vom Upgrade einer Software und zweitens Kants Idee der Unmündigkeit, wie sie sich in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? darstellt:

„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude !“ (Kant 2017: 53)

Parallel dazu wäre Foucaults Aufsatz Was ist Kritik? zu nennen, in dessen Rahmen er schreibt: Kritik ist „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). Um dem Impetus der beiden Philosophen gerecht zu werden, sei bemerkt, dass Kant imperativ-definitorische Absichten verfolgte und Foucault historisch-deskriptive. Anders ausgedrückt: Kant wollte Kritikfähigkeit (diese ist hier als Mündigkeit zu verstehen) als Akt eines rationalen Geistes begreifbar machen, während Foucault (der Historiker unter den Philosophen) definierte, was Mündigkeit (d. h. Kritikfähigkeit) bisher gewesen war. Wir könnten auch sagen: Kant wollte sich als Geburtshelfer der Vernunft verstehen, Foucault hingegen als ihr Pathologe.

Durch die Vereinigung dieser beiden Standpunkte lässt sich bemerkenswerter Weise eine Wesensbeschreibung der österreichischen Sozialdemokratie ableiten: Denn sie ist eine Untote! Aus historischen Errungenschaften, die mitunter älter sind als die Urnen unserer Großeltern, stabilisiert und nährt sie sich nur mehr von der zuverlässigen Unzuverlässigkeit der politischen Gegner*innen, die ihrerseits nur mehr – und das programmatisch – über die eigenen Füße stolpern. Dabei streift die österreichische Sozialdemokratie die dadurch emittierten Wähler*innenstimmen des politischen Systems Österreichs kaum mehr ein. Denn diese gehören pseudo-innovativen Projekten wie der türkisen ,Liste Kurz‘, welche auf Kosten politischer Kompetenz – welche die ÖVP zumindest hatte – mediale Schelmenstücke betreibt. Diese politische Konstellation beschert uns einen Bundeskanzler, der mehr eine populistische Methode als ein Mensch zu sein scheint, nicht besonders kompetent ist, sich selbst und andere aber – ganz im Sinne des Autoritarismus – sehr gut im Griff hat. Von großkoalitionären Persönlichkeiten wie Erhard Busek oder Heinrich Neisser sind Homunkuli wie Kurz oder Blümel längst meilenweit entfernt.

Bedenkt man dabei wie viele klassische schwarze Machtfaktoren (Bünde etc.) hier zurückstecken mussten, um aus Schwarz Türkis werden zu lassen, begreift man wie tiefgreifend diese Wende der ÖVP war. Schon Emile Durkheim wusste, dass der Konservatismus eine der flexibelsten Geisteshaltungen ist. Der Ruf nach Erneuerung der Sozialdemokratie ist aber inzwischen eine Göttin der Weisheit, welche – gemessen an ihren Dienstjahren – relativ kurz vor der Pensionierung stehen müsste. Denn während wir gegenwärtig eine ÖVP 4.5 erleben, kämpft die SPÖ noch mit den Regressionsbugs der Version 2.0.

Der österreichischen Sozialdemokratie kann so ein Upgrade wie der ÖVP nie gelingen. Das Gute ist: Das muss es auch nicht. Es würde reichen, sich mit kantschem Mut darauf zu besinnen, dass dem sozialdemokratischen Gedanken eine zutiefst philanthropische Geisteshaltung zugrunde liegt, wobei der Sozialismus (und damit auch die Sozialdemokratie) im Verhältnis zum konservativen Wirtschaftsliberalismus über ein relativ stabiles (sozialstaatliches) Theoriegebäude verfügt (Honneth 2017).

Dabei besteht der Weg zu demokratisch errungenen Erfolgen nicht in der Abwandlung (eigentlich Korrumpierung) dieses Theoriegebäudes, sondern in dessen flexibler Applikation auf die aktuellen Erfordernisse der Gesellschaft. Eben dies geschieht aber nicht. Wo rote Regionalfürsten in jüngerer Zeit Wahlerfolge verbuchten (ich nehme hier u. a. den Wiener Bürgermeister Ludwig explizit aus) geschah dies mitunter im blinden Abkupfern (rechts-)populistischer Muster, die einer Sozialdemokratie eigentlich fremd sein müssten. Dieses Kopieren vorgegebener politischer Muster führt um den Preis einer politischen Konturlosigkeit nur zu Pyrrhussiegen, die längerfristig schädlicher sind als jede verlorene Regionalwahl.

„Mit linken Themen lässt sich heute keine Wahl gewinnen“, ist das offen verlautbarte Credo solcher Regionalfürsten. Das ist aber nur dann zutreffend, wenn wir die Deutungshoheit darüber was links ist, den politischen Gegner*innen überlassen. Ebendies zu tun ist jene „selbstverschuldete Unmündigkeit“ von der Kant spricht – nämlich, sich ohne wirkliche Not – der geistigen Leitung des politischen Gegners auszuliefern. Manche werden sagen: Dies ist politischer Pragmatismus, dessen Fehlen zu Machtverlust und demokratischer Bedeutungslosigkeit führt. Doch ist es nicht eher blinde Praxis? Und was ist blinde Praxis denn anderes als eine schlechte Theorie? Ein nachhaltiger politischer Erfolg der Sozialdemokratie kann dementgegen nicht darin bestehen, die eigene Geisteshaltung zu bekämpfen, sondern sie flexibel und kreativ einzusetzen.

2. Medienkompetenz und der mündige Einsatz sozialdemokratischer Gesinnung

In diesem Zusammenhang kann betont werden, dass es nicht notwendig ist, den Wähler*innen nach dem Maul zu reden, sondern deren lebensweltliche Probleme zu erkennen und zu benennen. Dabei sollte es unerheblich sein, welcher gesellschaftspolitischen Schicht das betroffene Subjekt entspringt. Im plakativen Extremfall darf es sich hier durchaus auch um eine gebildete, alternde Millionärswitwe handeln, die als Digitalisierungsverliererin zusehen muss, wie sie den sozialen Anschluss verliert. Auch sie gehört zu einer randständigen, zusehends marginalisierten Gruppe und verdient Aufmerksamkeit. Gemäß der demografischen Kurve werden Globalisierungs- und Digitalisierungsverlierer*innen, egal welcher gesellschaftlichen Schicht, zwischen social und digital divide immer zahlreicher. Müssen wir wirklich warten, bis ältere Menschen, die z. B. ihre Bankgeschäfte nicht von zuhause aus regeln können, ausgestorben sind, oder können wir ihnen eine Alternative anbieten? Es ist sicherlich kein übermütiger Gedanke, die Sozialdemokratie darauf zu verpflichten, hier soziale und demokratische Konzepte zu entwickeln, die über die unmittelbaren Erfordernisse des Arbeitsmarktes hinausgehen. Festzuhalten bleibt also, dass es in allen Altersgruppen und sozialen Schichten Globalisierungs- und Digitalisierungsverlierer gibt. Es kann daher – ja müsste eigentlich – ein Ziel jeder sozialen Gesinnung sein, die Bevölkerung mit diversen basalen Medienkompetenzen zu versorgen.

Dies wäre ein Anspruch, der nicht bloß den Notwendigkeiten des bereits implementierten Bildungssystems entspricht, sondern zukunftsbestimmend darüber hinausgeht. Gerade in den ökonomisch schwächeren Schichten etabliert sich z. B. das Phänomen, nur mehr ein Smartphone bedienen zu können. Das mag nicht eben rückschrittlich klingen, ist es aber, wenn man keine adäquatere Mensch-Maschinen-Schnittstelle mehr bedienen, geschweige denn, warten kann. Wenn es eine politische Strömung gibt, die hier positiv-egalitäre Konzepte liefern sollte, dann ist es die Sozialdemokratie. Einer politischen Strömung, die einst – mit großer Wirkmächtigkeit – ausgehend von der Analyse (technologischer) Produktionsbedingungen Arbeiter*innenbildungsvereine geschaffen hat, kann – ja muss – sich dieser Dinge annehmen, um ihre Wurzeln zukunftsweisend zu vertreten.

Eine Digitale Grundsicherung der Bevölkerung sollte hier dazugehören. An dieser Stelle sei daran erinnert, was für sagenhafte Summen an staatlichen Verwaltungsausgaben insbesondere die wirtschaftsliberalen politischen Mitbewerber*innen in den letzten Jahrzehnten einsparen wollten. Hätte das, was im Alltag oft die ‚linke Reichshälfte‘ genannt wird, das Digitalisierungsproblem zur hauseigenen Sache gemacht, so wäre sie nicht nur ihr verstaubtes Image längst losgeworden, sondern könnte auch den politischen Mitbewerber*innen bei dessen utopischen Einsparungszielen wohlwollend unter die Arme greifen.

Ansätze zu diesem Gedanken, wie etwa der Digi-Bonus zum AK-Bildungsgutschein, existieren, sind aber rein arbeitsmarktorientiert. Ein öffentliches Schulwesen definiert sich aber nicht als Arbeitsmarkt und zeigt gerade angesichts der COVID-19-Krise, wie groß hier die Erfordernisse tatsächlich sind. Im Rahmen dessen gilt es, Medienkompetenz(en) allererst zu erringen, um sie dann schichtenübergreifend in alle Bereiche der Bevölkerung zu tragen. Nebstbei ein klassisches Beispiel dafür, was es bedeuten kann, den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu finden.

3. Sozialdemokratie und Realität am Beispiel der Scheinselbstständigkeit

Auch angesichts der Scheinselbständigkeit muss nicht viel erörtert werden: Was zu diesem Problem gesagt werden kann, liegt auf der Hand. Die Sozialdemokratie hat es aufs Gröblichste vernachlässigt, die Gruppe der freien Dienstnehmer*innen und jener die auf Werkvertragsbasis arbeiten zu betreuen. Die Repräsentation des Prekariats und des Kognitariats ist schlicht nicht vorhanden. Denn im Grunde sind dies Arbeiter*innen (des Geistes und der Hand) die – etwa als Ich-AG – neben den möglichen Unzulänglichkeiten eines Angestelltendaseins auch noch den Aufwand der unternehmerischen Selbstständigkeit zu bewältigen haben. Je nach Sachlage kann sich dies zwar auszahlen, wird aber in allzu vielen Fällen Gegenstand eines neuen Prekariats: Das Kognitariat, wie schon Marx es sachlich vorweggenommen hat. Für die Wirtschaftskammer sind diese Dienstleister Arbeiter*innen, für die Arbeiterkammer Unternehmer*innen. Und so ist niemand zuständig.

Ungeachtet der gesellschaftlichen Positionierung dieser Gruppe an Erwerbstätigen, hätte es schon lange ein Auftrag der Sozialdemokratie sein müssen, hier einen gewissen Betreuungsinstinkt aufzubauen. Die Kompetenzen und institutionellen Voraussetzungen einer solchen Betreuung sind ja bereits vorhanden. Wer Arbeitnehmer*innen und Angestellte beraten kann, kann dies auch für Einpersonenunternehmen (EPU) leisten. Hätte die Sozialdemokratie hier in der Vergangenheit auch nur ein Mindestmaß an politischer Präsenz gezeigt, so wären ihr allein ob der COVID-19-Krise, die gerade diese Bevölkerungsgruppe so hart trifft, zigtausende Verbündete sicher gewesen. EPUs oder das Digitalisierungsproblem sind dabei nur zwei Themengebiete, welche die Sozialdemokratie, Kraft ihrer vorhandenen Theorie, federführend, und ohne eine fadenscheinige Mimikry populistischen Treibens, besetzen könnte.

4. Marx’ Gespenster … oder … Wer hat Angst vorm roten Mann?

Die Angst der Sozialdemokratie vor dem Kommunismusbegriff ist so alt wie sie selbst. Einst hat man es dem politischen Gegner überlassen, alles was an ‚kommunistischem‘ Gedankengut anzustreifen schien, zu stigmatisieren. Dies führte schon vor über hundert Jahren zu der Groteske, sich ausgerechnet von der ureigenen Schwesternideologie der Arbeiter*innenbewegung mehr zu fürchten als vor rechtskonservativem Gedankengut, Austrofaschismus und Nationalsozialismus.

Auf die relativ übersichtlichen, historischen Wurzeln dieses ideologischen Reflexes kann hier nicht näher eingegangen werden. Mit Otto Bauer hatten Kommunismus und Sozialdemokratie aber auf jeden Fall dieselben präzisen Ziele, nämlich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Es liegt in unserer Hand demokratisch zu definieren, wie weit diese Vergesellschaftung gehen soll. Wer eine Privatisierung des Gesundheitswesens und anderer öffentlicher Bereiche (Bildung, Wohnen etc.) ablehnt, muss sich aber sagen lassen dürfen, dass hier im Sinne des öffentlichen Eigentums eine Vergesellschaftung von Produktionsmitteln sowohl bereits vorliegt als auch erstrebenswert erscheint. (Allenfalls könnte man hier über den Begriff des Produktionsmittels streiten.) Wozu sich heute also noch vor dem Begriff ‚Kommunismus‘ fürchten ohne alle Aspekte des Kommunitären demokratisch durchzudiskutieren? Gerade nach dem Niedergang des Realsozialismus – der kommunistische Zustände, im Sinne von Marx und Engels, niemals erreicht hat – sind die Kommmunist*innen fast (!) nur mehr dazu da, belächelt zu werden. Aber muss sich das mündige politische Subjekt wirklich davor fürchten belächelt zu werden?

Kommunist*innen sind in unseren Breiten keine nennenswerte politische Größe mehr. Mit Hinblick auf das Nachwuchsproblem der Sozialdemokratie sei aber darauf hingewiesen, dass der Sozialismus- und der Kommunismusbegriff (auch in Wortfügungen wie creative commons, common wealth, commonism etc.) unter jungen Mitbürger*innen von erstaunlich integrativer Wirkung ist. Der Umstand, dass im Pool dieses potenziellen Nachwuchses kaum jemand auch nur die Untertitel von Marx’ und Engels Hauptwerken nennen könnte, ist zwar bedauerlich, ändert aber nichts an der symbolischen Bedeutung – symbolisches Kapital im weiteren Sinne (Bourdieu 1983) –, die der Begriff Kommunismus für viele junge Menschen hat. Der Umstand, dass dem so ist, resultiert nicht bloß aus der naiven Anfälligkeit junger Leute für Utopien, sondern auch daraus, dass eine planwirtschaftlich strukturierte Gesellschaft eigentlich schlüssiger und rationaler erscheint als das allumfassende (theologische) Konzept einer unsichtbaren Hand, welche die Märkte ausgleicht. (Hier sei angemerkt, dass der aktuelle Neoliberalismus Adam Smith längst rechts überholt hat.)

Die absolut zulässige Frage ist bloß, wie – und inwieweit – wir auf die tatsächliche Ordnungskraft jener Hand verzichten können. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Marx und Engels – etwa im Kommunistischen Manifest (Marx/Engels 1972) – die Dynamik des Kapitalismus mehr angepriesen als verdammt haben. Den beiden Philosophen ging es schließlich darum, die effektiven Vorzüge des kapitalistischen Produktionssystems ins Gemeinwohl zu überführen.

Ist es wirklich gefährlich, wenn z. B. aus dem wirren zerstrittenen Haufen, den man gemeinhin ‚das dritte Lager‘ nennt, der Vorwurf an die Sozialdemokrat*innen erschallt, Kommunist*innen zu sein? Im Gegenteil, solch ein Vorwurf wäre, im Hinblick auf jüngere Wähler*innenschichten, von ernst zu nehmender Werbewirksamkeit. Sollte dieser Vorwurf nämlich tatsächlich von gefährlicher, stigmatisierender Wirkung für die Sozialdemokratie sein, so wäre dem Roten Wien dringend anzuraten, den Karl-Marx-Hof in „Bau der Eisenstädter Erklärung“ umzubenennen. Wozu also auf Jungwähler*innen verzichten, die sich erneut mit der Systemkritik von Marx und Engels identifizieren können? Politisch betrachtet, ist das wahrhaft selbstverschuldete Unmündigkeit im kantschen Sinne.

Egal was man vom Begriff des Kommunismus halten mag, oder welche Vorstellungen man damit verbindet, er war und ist eine Ideologie des vernetzten und gemeinsamen Denkens. Egal ob man den Begriffsrealismus des marxschen Klassenbegriffs teilen mag oder nicht, Klassenunterschiede abzubauen bedeutet (u. a.) Menschen in gegenseitiger Wechselwirkung – gerade unter digitalen Bedingungen – kommunitär miteinander zu verbinden. Dies gilt sowohl für die Lohn-, die Bildungs- als auch die Digitalisierungsschere. Und niemals war der Vernetzungsgedanke stärker als unter den Bedingungen moderner Kommunikationsmittel. Wenn auch unter anderen Vorzeichen, verstand Kant unter Mündigkeit eindeutig kollektives und also vernetztes Denken. Und ohne vernetztes Denken werden sich auch die heutigen soziökonomischen Probleme nicht lösen lassen.

5. Schluss

Die aktuelle Pandemie darf hier als virulent gewordene Spitze gegen den entfesselten Wirtschaftsliberalismus verstanden werden. Wo COVID-19 nicht gerade rechtspopulistisch ignoriert oder verschwörungstheoretisch verbrämt wird, reagieren die Staaten der Welt mit Maßnahmen, die irgendwo zwischen teilverstaatlichtem Kapitalismus und hysterisch erzwungener Planwirtschaft schwanken. Ökonomisch globalisiert, aber sozial segmentiert, wuseln die unsichtbaren Hände wohlhabender Staaten konzeptlos herum und schütten Gräben zu, wo sie andere aufreißen. Genau der Staat, den manche noch bis vor Kurzem wegprivatisieren wollten, ist nicht nur der ökonomisch, sondern (mit Hinblick auf das Gesundheitswesen) auch logistisch überstrapazierte Bürge einer Politik, die mehr den Reichtum verwalten wollte als die Gesellschaft.

„Mehr privat, weniger Staat“, lautete das Credo. Der Staat ist doch – im Verhältnis zur Privatwirtschaft – träge, undynamisch und unzuverlässig? Merkwürdig wenige behaupten aber, dass man die Probleme der Pandemie in die treuen Hände der Privatwirtschaft legen sollte! Jetzt wo es um Gesundheit, Leib und Leben geht, ist der Staat aber nicht mehr bloß jene ‚ancilla ökonomiae‘ als den ihn der Wirtschaftsliberalismus positionieren wollte, sondern soll sich als flexibel, durchsetzungsstark und vor allem großzügig erweisen. Ist es nicht bemerkenswert, dass die Wirtschaft nun händeringend nach dem zur Dienstmagd degradierten Stadthalter ruft?

Die Epidemie wird abklingen. Populismus und geradezu religiös übersteigerter Wirtschaftsliberalismus aber sicher nicht. Für die österreichische Sozialdemokratie bedeuten diese Bemerkungen, sich von der Bewunderung für fleischgewordene Persuationsstrategien wie Haider, Kurz oder auch Dietrich Mateschitz abzuwenden. Man muss diese Strategien nicht einmal bekämpfen, sondern sich der nachhaltigen Bewältigung sichtbarer Probleme widmen. Wenn die österreichische Sozialdemokratie mehr sein will als die archäologische Genese eines foucaultschen Begriffes, muss sie ihre pathogene Anpassungsfähigkeit gegenüber dem Zeitgeist abstreifen und sich einer klaren Programmatik und Ideologie widmen …

Sapere aude!

Literatur

Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hg.) (1983): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt Sonderband, Vol. 2, Göttingen: Schwartz, 183–198.

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.

Honneth, Axel (2017): Die Idee des Sozialismus: Versuch einer Aktualisierung, Berlin: Suhrkamp.

Kant, Immanuel (2017): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ders. Werkausgabe in 12 Bänden, Band 12, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 51–61.

Engels, Friedrich/Marx, Karl (1972): Manifest der kommunistischen Partei, Berlin: Dietz.

GEORG KOLLER ist Schriftsteller und Angestellter im öffentlichen Bildungsbereich. Er lebt und arbeitet in Wien.