Editorial 06/2021: Erzählungen des Politischen  – VON ALESSANDRO BARBERI, BIANCA BURGER UND THOMAS BALLHAUSEN

Die Struktur von Erzählungen ist so politisch, wie das Politische erzählt werden muss. Diese grundlegende poetologische (und eben politische) Einsicht stand der Redaktion der ZUKUNFT vor Augen, als sie beschloss, dem Thema Erzählungen des Politischen eine eigene Ausgabe zu widmen, die nunmehr unseren Leser*innen übergeben werden kann. Denn an der Grenze von Politik und Literatur verhandelt eine gegebene Gesellschaft nicht nur ihre grundlegenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Problemlagen, sondern entwirft auch Ideen, Utopien oder Träume, die auf die soziale Wirklichkeit rückwirken können. Im dialektischen Wechselspiel von politischer Realität und ihrer erzählerischen Verarbeitung öffnet sich mithin ein Möglichkeitsraum der Aushandlung unserer ZUKUNFT …

In welchem Verhältnis stehen also Erzählungen zum Politischen? Erkan Osmanović behandelt in seinem eröffnenden Beitrag diese und weitere Fragen: Was haben Robert Musil und die Mondlandung mit der Klimakrise zu tun? Warum müssen wir immer wieder über unsere Visionen, Ideen und Träume sprechen? Und was kann uns die Einführung des Sicherheitsgurts über die Bewältigung der Klimakrise lehren? Mit Blick auf das Thema dieser Ausgabe der ZUKUNFT streift unser Autor auf verschiedenen Ebenen durch Musils Der Mann ohne Eigenschaften, setzt die Leser*innen in die Spannung zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn und berichtet von Ideen, die unsere Demokratie am Leben erhalten könnten. Denn wenn wir die prinzipielle Veränderbarkeit der Welt nicht vergessen, können wir auch die shifting baselines unserer Gesellschaft verschieben und unsere Demokratie für neue Herausforderungen stärken – der Möglichkeitssinn ist also nach wie vor gefragt.

Dass die Literatur ein bevorzugter Ort ist, an dem auch Politisches verhandelt und erzählt wird, arbeitet auch der darauffolgende Essay der Literaturwissenschaftlerin Marie-Theres Stampf anhand einer vergleichenden Lektüre ausgewählter Werke von Franz Kafka (1883–1924) und Eugen Egner (*1955) heraus. Dabei wird eine Ästhetik der Groteske analysiert, in der die Komik des Schrecklichen ebenso vor Augen steht, wie das Lachen oder die Entfremdung. Im mehrfachen Rekurs auf Sigmund Freuds Traumdeutung werden so auch die literarischen Verfahren der Verdichtung und Verschiebung erläutert und angewendet. Im Blick auf Kafka und Egner wird so auch deutlich, dass Körper, Räume und ganze Welten bei diesen wichtigen deutschsprachigen Autoren nicht zuletzt politisch auf den Kopf gestellt werden. Dabei bedienen sich beide auf mehreren Ebenen einer Metafiktionalität, bei der Textgrenzen aufgezeigt und gleichzeitig negiert werden.

Der Wiener Autor Thomas Ballhausen bietet in der Folge mit seiner Erzählung Sommerquartier eine Spielart von literarischem fictocriticism, also einen Text und eine Erzählung, in dem das romantische Erbe von Reflexivität und Phantastik sichtbar wird: Auf der formalen Ebene werden Referenzen und Gemachtheit des Kunstwerks ausgestellt, auf der inhaltlichen Ebene wird der Frage nach der Erzählbarkeit von Theorie nachgegangen, die immer auch ein Verhältnis mit politischen Elementen eingeht. In der Auseinandersetzung mit dem sensiblen Feld der Erinnerung, der dynamischen Gegenläufigkeit aus individueller (Kindheits-)Erfahrung und übergreifendem historischem Hintergrund setzt also auch Ballhausen mit seiner Erzählung auf eine Verhandlung von Wirklichkeit, die in ihrer vorsätzlichen Verfremdung Formen produktiven Verfehlens und Irritierens evoziert. In diesem Sinne gilt: Literatur kann alles, aber muss nichts.

Auch freut es die Redaktion in diesem Zusammenhang ein besonderes Juwel aus den österreichischen Zeitungsarchiven präsentieren zu können. Denn Johanna Lenhart zeichnet in ihrem reich bebilderten Beitrag nach, wie politische Umstürze auch vor einer Comicfigur nicht Halt machen, wenn sie die Comicfigur Tobias Seicherl untersucht, der in den 1930er-Jahren der populäre Protagonist eines politisch-satirischen Comicstrips in der Tageszeitung Das Kleine Blatt gewesen ist und dabei eine zwiespältige politische Karriere durchgemacht hat. Denn es ist bemerkenswert, dass diese Comic-Erzählungen verschiedentlich auf zeitgenössische politische Ereignisse reagieren und bis hin zu Austrofaschismus und Nationalsozialismus mehrfach einen bedenklichen politischen Wandel durchmachen. Genau deshalb handeln die Erzählungen dieses Comics vom Politischen, wenn sie aus der historischen Distanz heraus mit dem Untergang der Demokratie verbunden werden.

Auch die Erzählung Straßenbahn, 1914 der Autorin Zarah Weiss verhandelt unser Schwerpunktthema, wenn sie hervorhebt, wie Sprache und mit ihr auch die Struktur der Erzählung Wirklichkeit stiftet und wie damit unser Sprachgebrauch die Welt nicht nur formt, sondern aktiv gestaltet. Dies wird wahrnehmungspsychologisch deutlich, wenn die ästhetische Erfahrung eines Gemäldes wie Alexander Bogomazovs Straßenbahn, 1914 mehr als hundert Jahre nach seinem Entstehen mit einer Aktualität aufgeladen ist, welche u. a. den Kubismus, die russische Avantgarde oder die Rolle des Verkehrs mit unserer Gegenwart verfügt. Dabei ist es auch wichtig, so der reflektierte Ansatz der Autorin, nicht zuletzt auf das unbedacht Ausgesprochene zu achten, das ein unkontrollierbares Eigenleben zu entwickeln vermag. Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen Macht und Machtlosigkeit entfaltet Weiss ein menschliches Drama über Strategien des Betrachtens, des Erzählens und – durchaus im politischen Sinn – des (solidarischen) Helfens.

In einer Auseinandersetzung mit dem Themenkreis um Graffiti und Street Art befragt dann die Forscherin Stefanie Fridrik ihre wissenschaftliche Praxis und plädiert mit ihrem Beitrag Another … in the wall erneut dafür, das Potenzial der Überkreuzung von Graffiti und Forschung herauszuarbeiten. Der Beitrag geht davon aus, dass Graffiti und Street Art schon längst in den Arenen der Werbung, des Tourismus, des Fashion- sowie Grafik-Designs, der Kunstmessen und -auktionen, des urbanen Marketings sowie der Galerie- und Museumsausstellungen kursieren und in einer Vielzahl von Publikationen analysiert und diskutiert werden. Der Artikel erläutert dabei die Rolle und Funktion von Graffiti-Erzählungen und stellt auch ein bildungspolitisches Plädoyer dar: We … need … education. Insgesamt geht es darum, nicht nur etwas über Graffiti zu lernen, sondern von Graffiti zu lernen, um so das zu „feiern“, was es sein kann: Unfinished business.

Friederike Landau arbeitet dann in ihrem literarisch-essayistischen Beitrag Formationen des Politischen die Debatten über denkmalgestützte Erinnerungspolitik in öffentlichen Räumen heraus: Lyrisch gerahmt macht sie aktuelle internationale Entwicklungen im erzählerischen Ausverhandeln von Geschichte und Geschichten anhand ausgewählter Beispiele wie dem Wiener Lueger-Denkmal greifbar. Im weiterreichenden Diskurs über Erzählungen sowie den Auf- und Abbau, die An- und Abwesenheit des Politischen drängt sich dabei die Frage auf, wie städtische Gesellschaften und „die Politik“ mit Denkmälern umgehen, wenn sowohl ihre andauernde Präsenz als auch ihre konstruierte Leere problematisch werden. Wenn also Bedeutungskonflikten in einer gegebenen Stadt Raum gegeben und dieser Raum bewusst offen- und ausgehalten wird, anstatt eine allseits anerkannte und somit pseudo-abgeschlossene Version von Geschichte zu erzählen, können, so die Autorin, in verwundeten Städten vielleicht auch (politische) Heilungsprozesse beginnen.

In seinem Review Essay unternimmt Dominik Irtenkauf dann eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit Kilian Jörgs Erzählung Backlash (2020), die vom Titel weg damit verbunden ist, dass die aktuelle politische Landschaft sich derzeit in eine gefährliche Richtung bewegt: Das Erstarken (rechts-)populistischer Bewegungen, der zunehmende Verlust einer eigenen kritischen Mitte und die Indifferenz gegenüber dem ökologischen Kollaps unseres Planeten führen zu einer Rückwärtsbewegung, zu einem reaktionären Backlash. Ein Umstand, der politisch mit den devastierenden Wirkungen des Kapitalismus zusammenfällt, dessen fortlaufende Produktion dafür sorgen muss, die (metaphorische) Maschinerie gut zu ölen. Dabei steht auch vor Augen, dass sich das neoliberale kapitalistische System vermehrt durch die Abweichungen von der Norm als durch die Norm antreibt … eine politische Erzählung, eine Erzählung des Politischen, die nicht zuletzt die Notwendigkeit einer Rückkehr zu Text und Lektüre fordert.

Die Redaktion der ZUKUNFT kann auch diesmal eine thematisch passende Bildstrecke präsentieren, welche die Künstlerinnen Elisabeth Öggl und Lorena Pircher dankenswerter Weise gestaltet haben. Am Ende unserer Ausgabe erläutern sie mit ihrem Beitrag I followed my instinct and turned into a book eingehend Ihre Kunstwerke und erlauben Einblicke in ihre Schwerpunktsetzungen und Arbeitsprozesse. Dabei durchzieht die visuelle Linie dieser Ausgabe der ZUKUNFT eine intensive Auseinandersetzung mit dem Buch als Objekt und folgt im Sinne der Erzählungen des Politischen der Frage: Wenn das Buch nichts mehr muss, was kann es dann?

Wir hoffen wie immer, dass unsere Leser*innen mit dieser Ausgabe der ZUKUNFT visuell und schriftlich mehrere Möglichkeiten vor Augen haben an der Grenze von Literatur und Politik Anregungen dafür zu erhalten, aktuelle Diskussionen aus mehreren Perspektiven zu beleuchten. Denn die Aktualität ist der Redaktion der ZUKUNFT ein eminentes Anliegen … Erzählen Sie sich doch das Politische und politisieren Sie die Erzählungen … Wir senden Ihnen im Namen der gesamten Redaktion

herzliche und freundschaftliche Grüße,

Bianca Burger, Thomas Ballhausen und Alessandro Barberi

BIANCA BURGER ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert.

THOMAS BALLHAUSENlebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zuletzt erschien sein Buch Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien).

ALESSANDRO BARBERI ist Chefredakteur der ZUKUNFT; Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/