Das Jahr 2020 wird in der Retrospektive wohl als Corona-Jahr in Erinnerung bleiben. Durch die beiden Lockdowns wurden annähernd alle Staatsbürger*innen und Institutionen auf neue Verhältnisse zwischen privat und öffentlich, zwischen Nähe und Distanz oder zwischen analog und digital verwiesen. Gleichzeitig steht – gleichsam hinter dem Virus – eine der gravierendsten Wirtschaftskrisen der Menschheitsgeschichte vor Augen, wodurch die grundlegende Instabilität unserer Wirtschaftsordnung erneut zur Debatte steht. Deshalb hat die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen mit der Doppelausgabe 11 und 12/2020 dazu einzuladen, dieses mehr als schwierige Jahr zum Gegenstand der Analyse und Betrachtung zu machen. Dabei leitete uns die Frage, ob wir bereits jetzt das Jahr 2020 als verlorenes Jahr bezeichnen können. Es freut uns deshalb, dass eine bemerkenswerte Zahl von Autor*innen auf unsere Themenvorgabe reagiert hat und wir deshalb ein breit aufgestelltes Heft präsentieren können.
Dies beginnt mit dem Artikel von Birgit Gasser, die das Jahr 2020 aus marxistischer Perspektive betrachtet und dabei deutlich macht, wie die globalen Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie zeigen, dass die Unmöglichkeit eines humanen, „sozialen“ Kapitalismus auf allen Ebenen eine Systemkritik hervortreibt. Diese Kritik ist schlussendlich ohne die Kapitalismuskritik Marxens nicht denkmöglich. Gasser widmet sich dabei dem Trickle-Down-Effekt genauso wie der Verelendung im globalen Maßstab und zeigt u. a., wie die viel zu wenig anerkannte (unsichtbare) Arbeit von Pfleger*innen zum Symptom einer Gesellschaft wird, die in den letzten Jahrzehnten das öffentliche Eigentum (und mithin auch das Gesundheitssystem) deregulierte und privatisierte.
Ganz in diesem Sinne fragt auch Benjamin Enzmann danach, ob wir mit der Corona-Krise den endgültigen Zusammenbruch des neoliberalen Wirtschaftssystems vor Augen haben und mithin ans Ende seiner Geschichte gekommen sind oder ob diese Krise nicht auch neue Formen der Solidarität mit sich gebracht hat. Der Autor rekapituliert dabei u. a. das Superwahljahr 2020 und die Black Lives Matter-Bewegung und stellt – im Blick auf die Linke, die Sozialdemokratie und den demokratischen Sozialismus – eine kritische Analyse des politischen Systems Österreichs angesichts der Krise vor Augen. Dies führt zu der einfachen Frage, ob wir einen Weg zu alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen finden, um aus der gesellschaftlichen Erschütterung des Jahres 2020 zu lernen.
Angesichts von Home Office und Distance Learning steht auch der Umstand im Raum, dass wir es auch mit einer tiefgreifenden Bildungskrise zu tun hatten. Deshalb präsentieren wir mit dem Beitrag von Anton Tantner, der für die IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen tätig ist, eine eingehende Analyse der derzeitigen Probleme im Rahmen der österreichischen Bildungslandschaft. Basis für diesen Beitrag ist eine Rede, die der Autor anlässlich der Demonstration ADVENT, ADVENT, DIE #BILDUNGBRENNT am 19. Dezember 2020 im Wiener Resselpark gehalten hat, um erneut auf die mehr als schwierige Lage von prekär Beschäftigten aufmerksam zu machen, die gerade 2020 nur schwer zu den klassischen Methoden des Kampfs um soziale Verbesserung greifen konnten.
Auch Katharina Ranz rekapituliert in ihrem Beitrag das verlorene Jahr 2020 und analysiert dabei – angesichts der Lockdowns – die Auswirkungen auf das österreichische Bildungssystem. Dabei fragt sie im Blick auf die Wiener Koalition von SPÖ und Neos nach der aktuellen Rolle des (Neo-)Liberalismus in Zeiten der Krise. Der Beitrag macht dabei deutlich, dass Home Office und Distance Learning uns vor neue Herausforderungen stellen und das Problem aufwerfen, wie unsere Gesellschaft nun mit der mangelnden Medienkompetenz umgehen könnte. Dabei stehen die Problemlagen der sozialen Ungleichheit vor allem angesichts des Digital Divide vor Augen.
Ganz in diesem Sinne hat sich der Bildungswissenschafter Florian Rainer dann die Mühe gemacht, im Sinne einer Chronologie der Ereignisse das Jahr 2020 aus bildungspolitischer Perspektive zu rekapitulieren. So steht eine historische Textur vor Augen, in der die Entwicklung der Pandemie mehrfach mit (bildungs-)politischen Ereignissen korreliert wird, um für die sozialen und ökonomischen Problemlagen der Gegenwart zu sensibilisieren. Rainer ist es darum zu tun, die gravierenden Ungleichgewichte im Bildungssystem aufzuzeigen. Diese Chronologie steht dabei vor dem Hintergrund dessen, was gerade nicht passiert ist. Denn, wie der Autor mehr als deutlich macht, es hätte auch anders sein können.
All diese Problemfelder der Bildungspolitik werden dann mit dem Beitrag von Karim Hallal abgerundet, der mit seinem Rückblick auf das (verlorene) Jahr 2020 zusammenfasst, welche Probleme sich durch die COVID-19-Pandemie für Studierende ergeben haben und nach wie vor ergeben. Denn wenn die Pandemie nicht nur die körperliche und geistige Gesundheit massiv bedroht, sondern auch die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen zerstört hat, steht angesichts der universitären Abläufe die Frage im Raum, ob wir aus der Krise lernen wollen und können. Hallal diskutiert dabei, wie etwa Videokonferenzsysteme neue Formen der solidarischen Kommunikation ermöglichten, es aber gleichzeitig zu problematischen Formen der sozialen Distanz kam.
Die Psychoanalytikerin Ute Müller-Spieß legt dann mit ihrem prägnanten Essay Terrorist sein eine persönliche Annäherung an die Psyche von Attentätern vor. Ausgehend von den tragischen Ereignissen vom 2. November 2020 in Wien entwickelt sie eine philosophisch unterfütterte Durchleuchtung der fatalen Verbindung von Ideologie und vermeintlich legitimiertem Gewaltakt, die sich klassischen Deutungsmustern zu entziehen scheint. Ihr Text arbeitet richtigerweise die Notwendigkeit eines umfassenden Verstehens heraus, das gleichermaßen die eigene Position bzw. (fachliche) Perspektive als auch die Kontexte von Gemeinschaft (z. B. Familie, Gesellschaft usw.) berücksichtigt und kritisch reflektiert.
In seinem feinfühligen Beitrag Solidarität der Sterblichen führt dann auch der Literaturwissenschaftler Erkan Osmanović Informationen aus unterschiedlichsten Disziplinen über das Jahr 2020 zusammen. Seine bestechende Schlussfolgerung besteht in der Notwendigkeit, Solidarität in ihrer Komplexität neu zu perspektivieren: Angesichts von Klimawandel, Corona und den menschlichen Verlusten einer allgemeinen Krisenstimmung ist es nur schlüssig, dass der Autor unter Rückgriff auf die Arbeiten von Constantin Castoriadis ein verstärktes Bewusstsein für unser aller Fragilität im Denken einer inklusiven Gemeinschaft einfordert. Die unbequeme Berücksichtigung der eigenen Endlichkeit wird hier als Aufruf zur Verantwortung für ein gelungeneres Miteinander lesbar.
Im Gespräch zwischen Augusta Laar und Thomas Ballhausen geht es um Gedichte über Planeten und Musik – und noch viel mehr. Laar, die als Autorin, Veranstalterin und DJane international arbeitet, erlaubt Einblicke in ihre medienübergreifenden Recherche- und Arbeitsprozesse; sie berichtet nicht nur von den Herausforderungen für die Kunst- und Kulturschaffenden, sondern auch von der Entwicklung möglicher positiver Perspektiven. Textauszüge aus ihrer aktuellen Veröffentlichung Avec Beat begleiten den Austausch, der die im Corona-Jahr medial überaus prominenten Kategorien Produktivität und Erfolg kritisch mitverhandelt. Laar erweist sich mit ihren Antworten und Ansätzen in der Analyse von 2020 einmal mehr als aufmerksame, sensible Künstlerin.
Anlässlich des 25. Todestages des deutschen Dramatikers Heiner Müller berichtet die Theater- und Filmwissenschaftlerin Hemma Prainsack in der Folge von ihrer unausgesetzten Auseinandersetzung mit seinen Schriften. In einer Zusammenschau aus dramatischen Arbeiten, Statements und nachgelassenen Veröffentlichungen gelingt ihr die Nachzeichnung einer produktiven Lektüre, die ganz vorsätzlich mit Müller das Krisenjahr 2020 durchleuchtet. Im Zentrum ihrer Ausführungen steht die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Pandemie auf Kunst, Kultur und Bildung sowie der Umstand, dass Heiner Müllers Werk in der Lage ist, überraschend aktuelle Antworten und Einsichten zu bieten.
In ihrer exklusiv für die ZUKUNFT geschriebenen Erzählung Abend mit Polly erkundet die Wiener Erfolgsautorin Daniela Chana in der Folge die Frage nach der literarischen Darstellbarkeit von Zeit und Zeitverläufen in Ausnahmesituationen. Wie auch schon in ihrem vielgelobten Gedichtband Sagt die Dame spürt sie schonungslos, doch auch mit schrägem Humor und Liebe zum nur vermeintlich vernachlässigbaren Detail, der Möglichkeit authentischer Begegnung zwischen Menschen nach. Ihr Text ist eine Auseinandersetzung mit Kommunikation angesichts limitierter Bewegungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, mit zu hinterfragenden Vorstellungen von Normalität und weiblicher Identität.
Einen herzlichen Dank wollen wir erneut an dieser Stelle Dobroslav Houbenov aussprechen, der uns zum wiederholten Male eine äußerst anregende Bildstrecke zur Verfügung gestellt hat. Die Serie Printing Times markiert vom Cover weg ein Spiel mit geometrischen Formen, die durch die Bearbeitung von (beschädigten) Alltagsgegenständen entstanden sind, wie der Künstler auch in einem kurzen Beitrag am Ende dieser Ausgabe erklärt. Den Abschluss macht dann eine Rezension von Alessandro Barberi, der den politisch äußerst relevanten und 2020 erschienenen Roman Aufruhr von Michael Scharang gelesen hat, um der Möglichkeit einer österreichischen Revolution in der ZUKUNFT Raum zu geben.
Alles in allem bieten sämtliche Beiträge dieser Doppelausgabe die Möglichkeit das Thema 2020 – Ein verlorenes Jahr? aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, um auch im Ausblick auf die ZUKUNFT verschiedene Problembereiche im Umfeld der Politik diskutabel zu machen. Wir hoffen daher, dass die Leser*innen der ZUKUNFT sich in der breiten Palette der hier präsentierten Beiträge wiederfinden und laden Sie auch herzlich dazu ein, uns im Jahr 2021 auf dem Weg in die ZUKUNFT zu begleiten …
ALESSANDRO BARBERI ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/
THOMAS BALLHAUSEN lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig.