Marx 2020 – von Birgit Gasser

BIRGIT GASSER analysiert das Jahr 2020 aus marxistischer Perspektive und widmet sich dabei dem Trickle-Down-Effekt genauso wie der kapitalistischen Verelendung und der viel zu wenig anerkannten (unsichtbaren) Arbeit von Pflegerinnen. Der Artikel erschien zuerst in der „Die Zukunft 11-12/2020“. Weitere Artikel aus der Zeitschrift sind hier in unserem Blog zu finden.

I. Einleitung

Dobroslav Houbenov – Blackprint 2
Dobroslav Houbenov –
Blackprint 2
130 x 28 cm, 2015
© Dobroslav Houbenov

Eine Seuche geht um auf der Welt – wie ein Gespenst sucht es Nation um Nation heim. Das Gespenst des Corona-Virus. Schon die Finanzkrise rund um 2008 (und zahlreiche vor ihr) zeigten die Unmöglichkeit eines humanen, „sozialen“ Kapitalismus und bestätigten die Kritik der Marxschen Analyse am vorherrschenden Wirtschaftssystem. Die Geschehnisse rund um Covid-19 zeigen dies noch einmal schneller, härter, zugespitzter.

Denn im Laufe des Jahres 2020 war schnell ersichtlich, dass die Pandemie und vor allem die wirtschaftlichen Folgen die üblichen Gruppen hart treffen: Geringverdienende, prekär Beschäftigte, Frauen, Migrant*innen, anderweitig gesellschaftlich marginalisierte Personen. Da die fatalen Folgen insbesondere für diese Gruppen so klar absehbar waren und auch in der Öffentlichkeit von Anfang an stark thematisiert wurden, ist es umso verwunderlicher, dass von politischer Seite wenig und spät darauf reagiert wurde. Schnelle Hilfe gab es vor allem für Großkonzerne und die traditionellen österreichischen Lobbys wie den Tourismusverband – also für die, die bereits vor der Corona-Krise gegenüber der Durchschnittsbevölkerung privilegiert waren.

II. Trickle-Down-Effekt, Dekadenz und globale Konzerne

Dem zugrunde liegt bekannterweise die tiefe Überzeugung der Konservativen, dass durch den Trickle-Down-Effekt der Wohlstand von oben auch auf den Pöbel herabregnet. Was wir Linken schon lange wissen, ist nun auch in der konservativen Wirtschaftswissenschaft durchgesickert: der Trickle-Down-Effekt existiert im realen Leben nicht. So veröffentlichte die London School of Economics vor Kurzem eine umfassende Studie, in der noch einmal deutlich bewiesen wird, wie sich Steuerbegünstigungen für Reiche auf den Rest der Bevölkerung auswirken: nämlich gar nicht.

Trotzdem führt diese festsitzende Überzeugung dazu, dass bereits im Frühjahr die ersten Mengen an Hilfsgelder bedingungslos an z. B. die AUA, Swarovski oder ATB ausgezahlt wurden, während zahlreiche Kleinunternehmen und Arbeitskräfte monatelang in der Luft hingen. Auch auf darauffolgende Kündigungswellen oder Abwanderungsvorhaben der mit Steuergeld geretteten Konzerne reagierte die k. u. k. Regierung (Kurz & Kogler) kaum. Die Kosten der Krise können also, wie in bisherigen Krisen auch, ungestraft auf die Arbeiter*innen abgewälzt werden, die nun zu Hunderttausenden in existenziellen Notlagen stecken, ihre Mieten kaum zahlen und ihre Familien nicht versorgen können. Parallel dazu kann man auf den Instagram-Accounts der Familie Swarovski mitfiebern, in welcher Villa und an welchem idyllischen Sandstrand sich der nun dritte Lockdown am besten überstehen lässt.

Diese Zuspitzung der Ungerechtigkeit, der Verschlechterung von Arbeits- und Lebensbedingungen und der Massenarbeitslosigkeit auf der einen und der Dekadenz und Turboakkumulation auf der anderen Seite hat sich bereits in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgebaut, die Pandemie beschleunigt diese Dynamik noch zusätzlich. Bestes Beispiel für Turboakkumulation und Ungerechtigkeit ist sicherlich der Konzern Amazon. Bereits vorher marktbeherrschend bei den Konsumierenden im Westen, hat das Großunternehmen im Jahr 2020 rund 30 % höhere Profite als 2019 erzielt, allein im 3. Quartal waren das rund 96,15 Milliarden Euro. An den bekanntermaßen unmenschlichen Arbeitsbedingungen hat sich nichts geändert und die Arbeitenden haben nach wie vor keinen Anteil am Profit. Durch steigende Arbeitslosigkeit steigt auch der Druck auf die Arbeitnehmer*innen, sich den Bedingungen bei Amazon weiterhin zu beugen, verständlicherweise möchte niemand während einer globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise arbeitslos sein.

III. Krise, Kapitalismus und Verelendung

Der Covid-19 Virus ist zwar neu, die Krisenhaftigkeit von kapitalistischen Systemen allerdings nicht. Ob die Märkte nun aufgrund von realen Geschehnissen (z. B. einer Pandemie und deren Folgemaßnahmen) oder aufgrund von künstlich erschaffenen Blasen (z. B. durch Immobilien- oder Rohstoffspekulationen) einbrechen, für marxistische Analytiker*innen ist diese Dynamik nichts Überraschendes und auch nichts, woran der Kapitalismus zwingend zugrunde gehen muss. Denn schon die Überzeugung davon, in der besten aller möglichen Welten und dem gerechtesten aller Wirtschaftssysteme zu leben, hält die Entscheidungsträger*innen (die gleichzeitig Nutznießer*innen dieses Systems sind) in diesem Kreislauf gefangen.

Dabei ist die Verelendung infolge der aktuellen Krise insbesondere in den USA greifbar: mit Ende des Jahres sind ca. 40 Millionen Menschen in unmittelbarer Gefahr, in die Obdachlosigkeit zu rutschen, da sie keine Miete oder Hypotheken mehr bezahlen können. Die Arbeitslosenquote ist zwar rückläufig, gleichzeitig sind die Prognosen für die nächsten Jahre düster, denn viele der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zeigen sich erst mit der Zeit. Verelendung betrifft nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse der einzelnen Menschen, sondern auch den steigenden psychischen Druck in einer immer schneller werdenden Welt, schlechtere Lebensbedingungen, steigende Lebenskosten bei stagnierenden Löhnen, sinkende soziale Mobilität und Regierungen, die die Verantwortung für ein gutes Leben mehr oder weniger ausschließlich beim Individuum verorten.

Die Lebenserwartung ist in den USA bereits seit einigen Jahren rückläufig, was nicht zuletzt an der schlechten medizinischen Versorgung vieler Menschen durch die Profitorientierung von Gesundheitsleistungen liegt. Auch dabei sind dieselben, eingangs erwähnten Gruppen besonders hart betroffen. Alle diese Tendenzen waren bereits vor 2020 deutlich vorhanden, auch hier hat die sogenannte Coronakrise bestehende Dynamiken nur verstärkt. In diesem Zusammenhang hätte bereits vor Jahren der politische Wille das Elend der Betroffenen aufheben können.

IV. Pflegerinnen, Skipisten und Testungen

Die medizinische Versorgung ist in Österreich zwar vergleichbar besser, jedoch wird auch diese seit Jahren durch die „Logik“ der Wirtschaftlichkeit und Ökonomisierung zermürbt. Von einer Pflegeoffensive und -reform wird stets nur geredet, gleichzeitig verlässt man sich weiterhin auf Pflegerinnen (ja, Frauen) aus den Nachbarländern, die diese berufliche Belastung auch während einer Pandemie zu denselben schlechten Arbeitsbedingungen auf sich nehmen. Im Budgetvoranschlag 2021 werden rund 100 Millionen bei den Spitälern eingespart, es gibt weder Geld für eine Ausbildungsoffensive oder auch nur den Hauch von ernstzunehmenden Lösungen, um den horrenden Notstand an medizinischen Fachpersonal aufzufangen.

Weiters ist es nicht logisch argumentierbar, warum Skipisten eine dermaßen hohe Priorität für die österreichische Bevölkerung haben, dass diese im Gegensatz zu Gastronomie, Einzelhandel, Kulturstätten usw. während des 3. Lockdowns geöffnet wurden. Die Fetischisierung des Skis zum identitätsstiftenden Moment für die urösterreichische Seele mag wohl wichtiger sein als die wirtschaftliche Existenz zahlloser Kleinunternehmer*innen und Arbeiter*innen in den geschlossenen Branchen oder auch wichtiger als das Bedürfnis nach sozialen Kontakten (die
abseits der Skipisten stark eingeschränkt waren).

Ebenso seltsam mutet die Inszenierung der Testungen an, „wir testen soviel es geht“ wurde zum Synonym für „wir gehen erfolgreich mit dieser Krise um“. Ungesagt blieb, dass Testen zwar wichtig und richtig ist, aber ein funktionierendes und gut finanziertes Gesundheitssystem nicht ersetzen kann und stets nur Momentaufnahmen und statistische Erkenntnisse bringt. Diese statistischen Erkenntnisse wurden monatelang bei den fast schon täglichen Pressekonferenzen zur Schau gestellt. Ähnlich einer katholischen Prozession pilgerten die Journalist*innen, Expert*innen und allen voran die Regierungsmitglieder ins Bundeskanzleramt, um sich in der immergleichen Zeremonie die Litaneien über die neuesten Zahlen, geänderten Maßnahmen und die nächsten, „entscheidenden Wochen“ anzuhören. Statt dem „Amen“ bleibt aber zum Schluss ein „Bleiben Sie gesund!“.

V. Conclusio

Von Verelendung, Turboakkumulation, Ökonomisierung und Fetischisierung bietet die Corona-Krise im Jahr 2020 also zahlreiche Beispiele für marxistische Analysen. Aber, wie wir wissen, kommt es nicht nur auf das Analysieren und Interpretieren der Welt an, sondern darauf sie zu verändern.

BIRGIT GASSER ist Öffentlichkeitsarbeiterin bei der Stadt Wien, Vorsitzende der Jungen Generation der SPÖ Hernals und schwankt stets zwischen Zynismus und optimistischer Utopie.