Artikel aus der Ausgabe 02/2008
BILDUNGSPOLITIK Der BSA hat sich das Jahresthema »Mut zum aufrechten Gang« gegeben und die Zukunft bringt dazu unregelmäßig Beiträge. Diesmal geht es darum, nicht nur Räume zu schaffen, in denen SchülerInnen diesen Mut lernen können, sondern auch deutlich zu machen, dass die Politik aufgerufen ist, diesen Mut zu zeigen und bürokratische Fesseln zu lösen, um auch denen, den aufrechten Gang zu erlauben, die bereit sind, die neue Schule wirklich werden zu lassen.
In der Informations- und Wissensgesellschaft und angesichts der fortschreitenden Globalisierung wird Bildung und Ausbildung immer wichtiger. Unbestritten ist auch, dass die Schule, so wie sie sich heute noch im Wesentlichen in Österreich präsentiert und den Anforderungen der Industriegesellschaft gerecht werden sollte, längst nicht mehr zeitgemäß ist. Über diese Tatsache herrscht unter BildungsexpertInnen weitgehend Konsens, selbst unter den SchulreformskeptikerInnen in der österreichischen Politlandschaft ist das unbestritten.
Dennoch muss leider gesagt werden, dass in Österreich bestenfalls gerade einmal die ersten notwendigen Schritte gesetzt wurden, um einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik herbeizuführen. Selbst so bescheidene und im Grunde genommen von vornherein vorsichtige, aus einem kompromissgeprägten Regierungsabkommen entstandene Reformversuche wie die Modellregionen zur Neuen Mittelschule, werden schon im Keim abgewürgt. Nicht einmal der Versuch eines Versuchs darf also sein. Warum gerade bei uns die Widerständigkeiten gegen Bildungs- und Schulreformen so groß sind, möchte ich im Folgenden am Beispiel der Debatte um die Schulautonomie zeigen.
UMWÄLZUNGEN IN DER SCHULE
Zunächst aber ein paar Bemerkungen zu den Umwälzungen, die in den letzten Jahrzehnten weltweit auf dem Bereich von Schule, Bildung und Ausbildung stattgefunden haben. Der Hintergrund, auf dem heute Bildung stattfindet, ist ein völlig anderer als noch Mitte des vorigen Jahrhunderts. Damals gab es eine überschaubare Anzahl von »fertigen« Berufen, oder man zählte sich zur Zahl der ungelernten ArbeiterInnen, die von der Industrie dringend benötigt wurden. Wenn man die Schule oder eine Universität abgeschlossen hatte, übte man damit normalerweise ein Leben lang einen Beruf aus. Lebenslange Weiterbildung war vielleicht ein Hobby mancher, gewiss aber keine Notwendigkeit, um existentiell bestehen zu können. Kindern wurden tradierte und selbstverständliche Werte weitergegeben.
Diese Sicherheiten sind ein für allemal vorbei. Kinder und Jugendliche sehen sich heute einer Fülle von offenen Fragen gegenüber, für die es keine fertigen Antworten gibt. Etwa: Was heißt heute Lebensplanung in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft? Was bedeutet heute Frausein, Mannsein? Wie steht es mit dem Generationenvertrag? Was heißt Familie? Wie ist Arbeit und Kinderbetreuung zu vereinbaren – von Männern, von Frauen? Wie wird sich die Welt angesichts des immer dramatischeren Klimawandels weiterentwickeln? Und, vor allem anderen auch: Welche Art von Wissen brauchen wir, um mit all diesen Anforderungen an unser Leben zu Recht zu kommen? Was sollen / müssen wir angesichts der Überfülle von Information, die uns jederzeit und überall zur Verfügung stehen, wissen?
VOM LEHREN ZUM LERNEN
Dass sich auf diesem Hintergrund die Vorstellung von dem, was Lernen ist bzw. heute sein soll, grundlegend geändert hat, ist verständlich. Während bis in das zweite Drittel des 20.Jahrhunderts die Schule selbstverständlich ein Ort war, in dem Wissen vermittelt, weitergegeben wurde, und zwar ein staatlicherseits definierter Kanon von Wissen, so geht es heute in erster Linie darum, eine Schule zu gestalten, deren Hauptzweck das Lernen der SchülerInnen ist.
Das Lernen der SchülerInnen muss also im Zentrum von Schule stehen, nicht die Wissensvermittlung eines fertigen Wissens durch die Lehrenden. Wobei wichtig ist zu erkennen, dass Lernen weit mehr ist als nur kognitives Lernen. Lernen ist auch soziales Lernen, Lernen ist Kunst erleben und Kunst verstehen, Lernen ist Politik begreifen und verstehen, um nur einige wenige Bereiche zu nennen.
Was es alles bedarf, um dorthin zu kommen, darüber gibt es bereits sehr viel Erkenntnisse, Erfahrung und praktische Beispiele. Viele Länder haben ihre Schulsysteme schon völlig umgestellt, bzw. haben sich auf den Weg gemacht, dies zu tun. Ein Schulsystem völlig umzustellen ist ein jahrelanger, ja jahrzehntelanger Prozess und erfordert einen nationalen Konsens über die Ziele einer solchen grundlegenden Schulreform. Wie dies erfolgreich passieren kann, haben uns nicht nur skandinavische Länder oder etwa Südtirol gezeigt, sondern das zeigt uns gerade eine Reihe von ehemaligen Ostblockländern, die dabei sind, ihre Bildungssysteme grundlegend neu zu gestalten.
TRADITION ALS RAHMEN
In Österreich ist allerdings gehen die Uhren etwas anders. Warum sich hierzulande Schulreformen so schwierig gestalten und stets in einen Lagerkampf ausarten, hat viele, großteils historisch bedingte Gründe. Besonders hemmende Elemente sind bekannterweise die ständische und obrigkeitsstaatliche Tradition, in der die österreichische Schule historisch verankert ist und die noch immer höchst wirksam ist.
Im Folgenden möchte ich einen Aspekt herausgreifen, der als besonders wichtiger Parameter für erfolgreiche Schulreformen gilt, nämlich die Autonomie des Bildungssystems, verbunden natürlich mit einer Dezentralisierung des gesamten Systems. An der Autonomie und deren Scheitern lässt sich meines Erachtens besonders gut zeigen, wie sehr das zentralistische, obrigkeitsstaatliche Moment unser ganzes Schulsystem noch immer prägt.
Dazu kommt eine Bürokratie, die sich zu einem Bürokratismus ausgewachsen hat, der seinesgleichen sucht. Die österreichische Schulgesetzgebung wuchert kontinuierlich und unaufhaltsam aus zu schon längst unüberblickbar gewordenen Vorschriften, Verordnungen, Erlässen, Durchführungsbestimmungen, Ausnahmeregelungen. Die Bürokratie als Selbstzweck erleben wir in der Schule Tätigen immer häufiger in unserem Arbeitsalltag. Entscheidungen sind bis ins Kleinste an umfassende, hierarchisch organisierte bürokratische Strukturen gebunden.
SCHULAUTONOMIE ALS MÖGLICHKEIT
Dabei hatte auch in Österreich vor etwa 20 Jahren alles recht viel versprechend und optimistisch begonnen. Seit 1988 gibt es in Österreich die Forderung nach mehr Schulautonomie. Es gab zu Beginn etwa parteiübergreifende Arbeitsgruppen von SchuldirektorInnen, in denen tatsächlich so etwas wie Aufbruchstimmung zu bemerken war. Damit befand sich Österreich in dieser Hinsicht damals genau im internationalen Trend, da längst erkannt worden war, dass die Autonomie von Schule für sich genommen zwar kein Erfolgsprogramm ist, aber ein wichtiges Moment für das Gelingen von Schulreform: Schulautonomie bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass Verantwortung dort übernommen wird, wo Schule »gemacht« wird, nämlich auf der Ebene der Betroffenen – das ist die Region, die Gemeinde, die einzelne Schule. Das heißt aber auch, dass die Zentrale Macht abgeben muss, nämlich die (vermeintliche) Kontrollmacht auf allen Ebenen. Vor allem die Steuerungsfunktion soll ausgelagert und den regionalen Ebenen überlassen werden(Bildungsregionen, Schulleitungen). Um das gleich klarzustellen: Bildung darf nicht dem freien Markt überlassen werden, sondern ist und bleibt öffentliche Aufgabe.
KritikerInnen der Schulautonomie hängen häufig einer völlig verkürzten Sichtweise an und setzen Schulautonomie in eins mit einem neoliberalen System in rücksichtlosem Wettbewerb. Dass diese Gleichsetzung nicht zulässig ist, beweisen unter anderem die skandinavischen Länder oder Südtirol: Sie zeigen uns, wie bei höchstmöglicher Autonomie in der Schulverwaltung dennoch bei einem hohen Maß an staatlicher Letztverantwortung erfolgreich Schule gemacht wird.
In den 60er und 70er Jahren waren fast überall Schulreformen zentral gesteuert. Doch man begann in Schweden und Finnland schon sehr früh, nämlich zu Beginn der 70er- Jahre, zu erkennen, dass zentrale Steuerung in Bereichen, in denen sich die Verhältnisse immer schneller verändern, nicht sehr wirksam waren. Daher begann man mit groß angelegten Dezentralisierungsprogrammen: Abschaffung der regionalen Schulaufsichtsbehörden ebenso wie der staatlichen Schulaufsicht, Globalbudgets für Gemeinden und Einzelschulen, sowie Auslagerung der Verantwortung, wie die nationalen Curricula umgesetzt werden, an die Einzelschulen.
Solche Systeme verfügen jeweils nur mehr über eine sehr schlanke Zentrale, die für Gesetzgebung und (Qualitäts-)-Kontrolle zuständig ist. Der Bildungsauftrag wird durch staatliche Rahmen- und Zielvorgaben und regelmäßige Überprüfungen gesichert. Die Entscheidungen über die Konkretisierung dieser Rahmenvorgaben werden ausgelagert in die Bildungsregionen/Gemeinden und zu einem sehr hohen Ausmaß auch in die einzelnen Schulen. Die Lehrpläne sind zielorientiert und sehr knapp gehalten, die Konkretisierung obliegt völlig der jeweiligen Schule. Landesweite und nationale Tests sorgen dafür, dass die staatlichen Zielvorgaben eingehalten werden. Außerdem gibt es stichprobenweise landesweite Evaluationen von Einzelschulen.
Die einzelnen Schulen suchen selbstverständlich ihre LehrerInnen aus, sie legen ihre Schwerpunkte fest, sie legen in manchen Ländern sogar fest, wie viel Stunden pro Fach wann unterrichtet wird, sie legen fest, wie viele Personen in der Schulleitung und der Administration tätig sind und vieles mehr. Globalbudgets machen dies möglich. Selbstverständlich müssen die Schulen Rechenschaftsberichte ablegen – ein weiteres Kontrollelement zusätzlich zu den nationalen Überprüfungen der Schülerleistungen.
Folgende Ebenen müssen jedenfalls mindestens betroffen sein, wenn von Schulautonomie die Rede sein soll: Die Lehrpläne werden an den Schulen festgelegt, der Staat stellt nur Rahmenlehrpläne zur Verfügung; die Organisation der Schule und die Festlegung der Stundentafeln obliegt der Einzelschule; dasselbe trifft auf die Leitungs- und Managementstrukturen zu; die Schule ist für Lehrerauswahl zuständig.; die Schulen verwalten autonom Globalbudgets. Sehr viele Schulsysteme funktionieren bereits erfolgreich so. Alle Länder mit guten PISA- Ergebnissen weisen übrigens einen hohen Autonomiegrad in der Schulverwaltung auf. Ich konnte mir nicht nur an schwedischen und finnischen Schulen davon ein Bild machen, wie solche Modelle funktionieren, sondern vor einem Jahr auch an einer Schule in Klausenburg (Rumänien), wo man in sehr kurzer Zeit die Umstellung von einem sehr zentralistischen zu einem autonomen, dezentralisierten Schulsystem in die Wege geleitet hat.
Was aber ist in Österreich mit der Schulautonomie geworden? Die idealistischen Bestrebungen Einzelner wurden in den 90er Jahren vom System aufgegriffen und in Gesetze gegossen. 1996 erhielten Bundesschulen Autonomie im Sachaufwandsbudget. Leider war die Einführung dieser Autonomie auch schon der Anfang von deren Ende, und in den letzten Jahren, so wage ich zu behaupten, ist wieder eine starke Gegenbewegung in Richtung Zentralisierung und zentraler Kontrolle wahrzunehmen gewesen. So wurde etwa in den letzten Jahren die Buchhaltung für Bundesschulen zentralisiert, die Beschaffung ebenso wie die Archivierung von Materialien in Schulen. Erlässe, die genau festlegen, zu welchen Themen LehrerInnen und vor allem SchulleiterInnen Stellung beziehen dürfen, wurden neu verlautbart – um nur einige Beispiele von vielen zu nennen. Dass das genau in die gegenteilige Richtung von Schulautonomie geht, erklärt sich von selbst. Was aber sind die Gründe?
AUTONOME MANGELVERWALTUNG
Dass die Autonomie in Österreich nicht einmal ein bescheidenes Pflänzchen geworden ist, hat mehrere Gründe. Einer davon ist sicherlich darin zu sehen, dass zeitgleich mit der Einführung eine Kürzung der Schulbudgets stattfand, was dazu geführt hat, dass seither Schulautonomie vielfach mit der Punzierung »Verwaltung des Mangels« versehen ist und so eine stark negative Konnotation hat. Aber alles auf die Sparmaßnahmen der schwarz-blauen Regierung zu schieben, greift viel zu kurz. Ein großes Problem besteht in Österreich sicher darin, dass vier verschiedene Ebenen für Schule zuständig sind. der Bund, das Land, der Bezirk/die Gemeinde und die Schule selber.
Aber weder die Umstände der Einführung der sogenannten Schulautonomie 1996 noch die bereits als gewichtiger einzustufende Bund-Länder-Problematik steht der Einführung der Schulautonomie am meisten im Weg, sondern es ist die Tradition der österreichischen Schule selbst: Die hat bis jetzt erfolgreich verhindert, dass wir mit den internationalen Entwicklungen im Schulwesen mithalten können. Das öffentliche Schulwesen in Österreich hatte – und hat leider noch immer – ausgeprägt obrigkeitsstaatlichen Charakter. »Die mächtigste Tradition, die gerade die Lehrerinnen und Lehrer aus der Gründungsgeschichte der Schule ererbt haben, ist … die des ‚Blicks nach oben’. …Dem entsprechend fühlten sich Lehrer zwei Jahrhunderte lang ihren jeweiligen Vorgesetzten gegenüber verantwortlich, nicht den Eltern.« So Kurt Scholz in einem Vortrag bei der Österreichischen Forschungsgemeinschaft im Juni des letzten Jahres.
Dieses fast bedingungslose Obrigkeitsdenken ist gerade in unserem Schulsystem so stark strukturell verankert, dass es bis jetzt jegliche Ansätze in Richtung Dezentralisierung, Einzelverantwortung und Deregulierung verhindert hat. Der im Zentralismus begründete Bürokratismus sowie die obrigkeitsstaatliche Prägung haben bis jetzt erfolgreich alle Ansätze in Richtung Autonomie im Keim erstickt. Was bei uns mit Autonomie bezeichnet wird, hat mit richtiger Schulautonomie nichts zu tun. Zynisch gesagt: Wenn Schulautonomie zentral gesteuert und kontrolliert und reguliert werden könnte, dann könnte sie auch in Österreich gleich eingeführt werden.
SCHULAUTONOMIE AN MODELLSCHULEN?
Dennoch: Gerade in der letzten Zeit haben sich wieder Windows of Opportunity für einen Systemwechsel aufgetan. Die Diskussion um die Einführung der Neuen Mittelschule ist war zwar ein Paradebeispiel dafür, wie schnell alle Gegenreformkräfte mobilisiert werden, wenn es um Schulreform geht, andererseits würden gerade die paar Modellschulen ein wunderbares Exerzierfeld bieten, auf dem sich Autonomie erproben ließe.
Dazu braucht es aber den Mut der politisch Verantwortlichen. Hier gäbe es die Möglichkeit, erstmals zu zeigen, dass auch in Österreich Schulreform nicht in erster Linie von Interessensvertretungen oder Beamten gemacht wird, sondern von den unmittelbar Betroffenen. Die Macht der Bürokratie könnte hier drastisch eingeschränkt werden. Also: Keine Durchregulierung von oben, sondern die Schulen arbeiten lassen in einem sehr großzügigen gesetzlichen Rahmen. So könnte das Nichtzustandekommen der Modellregionen vielleicht doch noch zu einem – kleinen – Erfolgsmodell werden, ein Probierfeld für die Schulautonomie an den Modellschulen. Es würde sich lohnen, denke ich, und gleichzeitig hätten wir den Begriff der Autonomie wieder rehabilitiert.
MAG.A HEIDI SCHRODT
ist Direktorin einer Wiener AHS