In den Großstädten des ehemaligen Jugoslawien dominieren seit der kapitalistischen Restauration Spekulation und Korruption die Stadtplanung. Dass die Lage nicht völlig gekippt ist, verdanken die Städte dem Wohnbauprogramm des sozialistischen Jugoslawiens, wie CHRISTOPH BAUMGARTEN mit diesem Beitrag festhält.
I. Einleitung
Es ist eine große Wohnung, die eine Freundin zum Verkauf anbietet. 86 Quadratmeter, direkt an der Titova in Sarajevo, gleich bei der Ewigen Flamme, mit Balkon. 580.000 Mark beträgt der Verkaufspreis. 290.000 Euro. Das in einem Land mit einem Durchschnittseinkommen von vielleicht 800 Euro. Als ich den Preis neutral kommentiere, antwortet sie: „Bedenk doch bitte die Lage“. 500 Meter, hügelaufwärts, will Adis Nachbar sein Haus mit großem Parkplatz verkaufen. „Er will eine Million Mark“, sagt mir Adi. „Das ist gar nicht teuer. Aus dem Grundstück kann man was machen. Ein Haus mit ein paar Wohnungen, da verdient man gut damit“. In Belgrad würden diese Preise den meisten Maklern nur ein Lächeln abringen. Die Immobilienpreise dort nähern sich in zentralen Lagen Wiener Verhältnissen. Das trifft auch auf die Mieten zu. Offiziell liegt das Durchschnittseinkommen in Serbien mittlerweile bei etwa 1.000 Euro. Jeder weiß, dass das eine Lüge ist. Auch am Stadtrand ziehen die Preise an. Ein Bekannter mit Wurzeln in Belgrad kaufte vor knapp zehn Jahren eine Wohnung in einem Plattenbau in Novi Beograd: „Damals hab ich 90.000 Euro bezahlt. Heute kosten Wohnungen in unserem Viertel etwa das Doppelte.“
II. „Wissen über Wohnungsbau wurde radikal verworfen“
Die Immobilienmärkte in beiden Städten sind heiß gelaufen. Trotz massiver Emigration aus Serbien wie aus Bosnien. Serbiens Bevölkerung schrumpfte seit dem Krieg um etwa 20 % auf etwa 6,5 Millionen. Die aktuelle Bevölkerungsprojektion der bosnischen Statistikbehörde liegt bei 2,6 Millionen Einwohner*innen. 1991 hatte das Land 4,2 Millionen. Allein ein paar Großstädte wachsen. Belgrad und Sarajevo am meisten. Belgrad hat mittlerweile etwa 1,7 Millionen Einwohner*innen, Sarajevo ca. 275.000, bedingt durch den komplizierten Friedensvertrag von Dayton sind Vergleiche mit Vorkriegszeiten praktisch unmöglich. Für die neuen Bewohner*innen muss Wohnraum geschaffen werden. Das hat man privaten Firmen überlassen. „Jegliches Wissen über den Wohnungsbau wurde in den 1990er-Jahren aus ideologischen Positionen als sozialistisches Erbe radikal verworfen, der Sozialwohnungsfonds privatisiert und der einzige geplante und finanziell unterstützte Bau war das im Jahr 2000 von der SDP initiierte Incentive Housing Program (POS)“, beschreibt die Zagreber Architekturforscherin Tamara Bjažić Klarin in einem Interview mit der Zagreber Zeitschrift Novosti die Situation in Kroatien. In Serbien und Bosnien geschah das Gleiche.

Sarajevo – Stadtansicht © Christoph Baumgarten
III. Historisches Erbe wird geopfert
Vor allem in Belgrad geht das zulasten der historischen Bausubstanz. Erst Anfang Februar wurde das alte Postgebäude neben dem ehemaligen Hauptbahnhof am Savski Venac abgerissen. Es weicht dem nach wie vor nicht fertiggestellten Projekt Beograd na Vodi, für das bereits weite Teile des historischen Sava Mala-Viertels abgerissen wurden. Das neue Stadtviertel beinhaltet Büros und Luxuswohnungen. Die sind alle verkauft. Ein guter Teil steht leer. Spekulationsobjekte.
Auch das bekannte Hotel Jugoslavija in Novi Beograd ist der Goldgräberstimmung vor wenigen Wochen zum Opfer gefallen. An seiner Stelle entstehen exklusive Wohnungen, die für den Normalbürger nicht leistbar sind. Bald wird das ehemalige Verteidigungsministerium abgerissen. Jared Kushner, Schwiegersohn von Donald Trump, hat das Gebäude gekauft, das beim NATO-Bombardement 1999 schwer beschädigt und nie restauriert worden war. Über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart – genauso wie über die Nebenbedingungen für das Beograd na Vodi-Projekt. Für das opferte Serbiens Hauptstadt sogar seinen Hauptbahnhof und damit den zentralen Knotenpunkt des serbischen Schienennetzes. Einzig das Gebäude blieb als Fassade erhalten. Das gesamte Projekt steht unter Korruptionsverdacht.
Die Schuld an den steigenden Immobilienpreisen gibt man in Serbien gerne den Russ*innen und Ukrainer*innen. Zehntausende sind ins Land gekommen, nachdem Russland Anfang 2022 die Ukraine überfiel. Für Serbien – wie auch für Bosnien, Montenegro und Mazedonien – brauchen russische Staatsbürger*innen kein Visum. Hier gibt es auch historisch eine größere Diaspora. Freilich, die Wenigsten haben genug Geld, sich hier eine Wohnung zu kaufen. Und die Immobilienpreise stiegen schon Jahre bevor der erste russische Panzer an der ukrainischen Grenze auffuhr.
Dass die Lage nicht völlig gekippt ist, Durchschnittsverdiener nicht in Scharen in benachbarte Kleinstädte ziehen müssen, ist dem Wohnbauprogramm des sozialistischen Jugoslawien zu verdanken. 60 bis 70 % des Wohnraumbestandes in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens stammen aus dieser Zeit, ergibt das Forschungsprojekt Housing.yu unter Leitung von Tamara Bjažić Klarin. In anderen Worten: Der Turbokapitalismus am Immobilienmarkt lebt von der Substanz des sozialistischen Jugoslawien, sei es in Belgrad, Sarajevo, Skopje oder Zagreb.

Bahnhof in Belgrad © Christoph Baumgarten
IV. Infrastruktur hinkt Bauboom hinterher
Die städtische Infrastruktur hinkt dem Bauboom um mindestens ein Jahrzehnt hinter. So hat es Sarajevo erst vor Kurzem geschafft, seine Straßenbahnlinie wenigstens auf einen modernen Stand zu bringen. Irgendwann soll die Linie sogar ausgebaut werden – allerdings nicht in die Wachstumsgebiete der Stadt. Freilich macht die Stadtpolitik öffentliche Verkehrsmittel so unattraktiv wie möglich. Bis heute gibt es keine einheitliche Netzkarte. Für Straßenbahn, O-Bus oder Bus braucht man jeweils eigene Fahrkarten. Der Fahrpreis ist mit 90 Cent für lokale Einkommensverhältnisse ebenfalls ziemlich teuer. Und das gilt nur für die Tickets des städtischen Verkehrsbetriebs GRAS. Parallel dazu unterhält der private Buskonzern Centrotrans ein Busnetz in der bosnischen Hauptstadt. Für das braucht man eigene Fahrkarten. Schwierig auch die Situation in Belgrad: Weder Fuhrpark der städtischen Verkehrsbetriebe noch Fahrpläne wurden in einem Ausmaß erneuert und angepasst, wie es der wachsenden Einwohner*innenzahl entsprechen würde. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass öffentliche Verkehrsmittel in der serbischen Hauptstadt seit Jahresbeginn kostenlos sind. Immerhin hat man in Belgrad endlich mit dem Bau der ersten U-Bahn-Strecke begonnen. Das Projekt war 30 Jahre lang auf Eis gelegen. Diese Strecke wird freilich auch erst in einigen Jahren das Verkehrsnetz entlasten.
Das führt zu massiv überlasteten Straßen. Die meisten Verkehrswege werden in beiden Städten mit dem Auto zurückgelegt – trotz Spritpreisen, die gemessen am Einkommen drei- bis viermal so hoch sind wie etwa in Österreich. Staus zu Spitzenzeiten sind die Norm. Parkplätze sind rar und vor allem in Sarajevo zum einträglichen Geschäft geworden. Kostenpflichtige Miniparkplätze werden wild auf privaten Grundstücken errichtet – die damit nicht zur Bebauung zur Verfügung stehen. Dieser Faktor verschärft die Wohnungsknappheit zusätzlich. Und ist neben der totalen Privatisierung des Wohnungsbaus ein Beitrag, dass die Altbauwohnung auf der Titova in ein paar Jahren wohl um die 400.000 Euro wert sein wird statt 290.000 heute. Wer auch immer die Wohnung kauft, kann schnell viel Geld verdienen. Ganz im Sinn der postjugoslawischen Politik, die Profit über alles stellt.