Das im ersten Teil aus einer analytischen Perspektive entworfene Handlungsmodell dient dem Verstehen und Bewerten von menschlichen Handlungen, ggf. auch ihrer Vorhersage. Gerhard Tulodziecki geht davon aus, dass menschliches Handeln in der Regel mit einer Wechselwirkung von situativen Anforderungen und Bedürfnissen beginnt, die zu einem Spannungszustand (Motivation) führt, der sich ggf. in einer Abwägung und Bewertung von Handlungsmöglichkeiten fortsetzt, in eine Entscheidung und Handlung einmündet und schließlich mit der mentalen Verarbeitung von Handlungsfolgen endet. Systematisch entwickelt der Verfasser ein Verständnis für die dieser Modellvorstellung zugrunde liegenden Einflussfaktoren und ihre Wechselwirkungen. Im Einzelnen werden zunächst verschiedene Bedürfnisgruppen und damit verbundene Emotionen als handlungsrelevante Einflussfaktoren diskutiert. Diese Bedürfnisse werden in vielfältigen situativen Anforderungen aktiviert, die wesentlich durch die spezifische Lebenssituation mitbestimmt sind. Folgerichtig wird auch die allgemeine Lebenssituation anhand verschiedener Merkmale skizziert. Dabei wird selbst in der gebotenen Kürze der Ausführungen deutlich, inwiefern solche Aspekte der Lebenssituation in der Wechselwirkung mit individuellen Bedürfnislagen zu handlungsbezogenen Entscheidungsnotwendigkeiten führen können. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung ist der Mediatisierung und Digitalisierung als Merkmal der Lebenswelt ein eigenes Kapitel gewidmet.
Darin wird deutlich, welche allgemeinen Chancen und Risiken mit der – insbesondere digitalisierungsbezogenen – Mediatisierung verbunden sind und welche Konsequenzen dies für menschliches Handeln in Bezug auf die Wahrnehmung von Welt, den Umgang mit Informationen, die Regulierung von Emotionen, die Gestaltung von sozialen Beziehungen, Formen des Lernens, Arten des Denkens, öffentliche Meinungsbildung, Verhaltens- und Wertorientierungen sowie für die Identitätsbildung haben. Dass unsere Erfahrungen und unser Wissen – als weiterer Faktor – Einfluss auf das Handeln nehmen, mag auf der Hand liegen. Gleichwohl betont der Verfasser in Bezug auf diese Einflussfaktoren, dass es für das Handeln jeweils wichtig sei, zu reflektieren, welches Wissen bzw. welche Überlegungen zugrunde liegen, auf welchen Quellen sie beruhen und wie zuverlässig sie sind. Die in der Modellvorstellung angesprochenen Erwägungsprozesse, d. h. die Auseinandersetzung mit verschiedenen Handlungsalternativen, unterliegen mehr oder weniger komplexen Denkvorgängen und sozial-moralischen Urteilsprozessen. Diese beiden Einflussfaktoren werden ausführlich und wiederum mit Bezug auf übergreifende und ergänzende Beispiele diskutiert.
Dabei kann Gerhard Tulodziecki zeigen, dass gut durchdachte Entscheidungen von der Fähigkeit des Einzelnen abhängen, gedanklich mit Komplexität umzugehen. Dazu zeigt er fünf Arten des Denkens auf, die gleichzeitig als Stufen der intellektuellen Entwicklung gedeutet werden können und die Fähigkeit beschreiben, unterschiedliche Handlungsoptionen in den Blick zu nehmen, sie hinsichtlich verschiedener Kriterien zu analysieren, diese Kriterien selbst zu reflektieren und die Analyseergebnisse zu einem begründeten eigenen Standpunkt zusammenzuführen. Die Beurteilung einzelner Handlungsoptionen diskutiert Gerhard Tulodziecki unter der Frage, inwiefern Verantwortung übernommen wird, welche soziale Perspektive eingenommen wird und welches Verständnis von Gerechtigkeit einer Beurteilung unterliegt. Auch hier lassen sich verschiedene Muster sozial-moralischen Urteilens unterscheiden, die gleichzeitig als Stufen moralischer Entwicklung verstanden werden können. In der Argumentation wird deutlich, dass es letztlich das Bestreben sein muss, höherrangige Urteilsformen als eine Voraussetzung für eine humane Gestaltung der Lebensverhältnisse zu fördern. Gleiches gilt auch für die Förderung der Fähigkeit zum komplexen Denken als Voraussetzung für sozial verantwortliche und durchdachte Entscheidungen. Den ersten Teil abschließend, analysiert Gerhard Tulodziecki zwei politisch und gesellschaftlich bedeutsame Ereignisse vor dem Hintergrund der beschriebenen Modellvorstellung bzw. Einflussfaktoren. Zum einen geht es um den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, zum anderen um Einflussnahmen auf das menschliche Handeln im Zuge der Corona-Krise.
Die Analyse und Bewertung der beiden Beispiele zeigen zum einen den besonderen Wert des Handlungsmodells, zum anderen machen sie deutlich, dass handlungsbezogene Apelle und Überzeugungsversuche, die auf wissenschaftliches Wissen und soziale Verantwortung setzen, nur dann Wirkung entfalten können, wenn sie von allen Akteur*innen im Hinblick auf die situativen Gegebenheiten angemessen gedeutet werden, Bedürfnisse und Emotionen beachten, faktengerechtes Wissen fördern und die Bereitschaft und Fähigkeit zeigen, verschiedene Handlungsmöglichkeiten auf intellektueller Ebene sowie die Interessen anderer und das Gemeinwohl auf sozial moralischer Ebene zu berücksichtigen.
Im zweiten Teil des Buches wird zunächst die grundlegende Frage der Entscheidungsfreiheit beim Handeln aufgenommen. Gerhard Tulodziecki zeigt auf, dass die subjektiv empfundene Freiheit beim Handeln weder mit klassischen naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden nachgewiesen werden kann, noch als bloße Illusion aus der Perspektive eines äußeren Beobachters. Auch das Handlungsmodell geht letztendlich nicht von Kausalzusammenhängen zwischen den einzelnen Einflussfaktoren aus, sondern von einem systemischen Zusammenhang, der die Formulierung von Hypothesen erlaube, die dann einer empirischen Prüfung unterworfen werden können. Vor diesem Hintergrund und in der Auswertung verschiedener philosophischer Positionen zur Entscheidungsfreiheit des Menschen kommt der Verfasser resümierend zu der Einschätzung, dass unsere soziale und gesellschaftliche Praxis, unsere subjektiven Erfahrungen, die im Handlungsmodell integrierten Konzepte (die hinsichtlich verschiedener Annahmen theoretisch gut begründet und empirisch bewährt sind) und die menschliche Vernunft als gute Argumente gelten, dem Menschen Entscheidungsfreiheit beim Handeln zuzuschreiben.
Im nächsten Schritt wird das der bisherigen Argumentation zugrunde liegenden Menschenbild reflektiert. Dazu begründet Gerhard Tulodziecki Sachgerechtheit, Selbstbestimmung, Kreativität und soziale Verantwortung als normativ wünschenswerte Merkmale menschlichen Handelns. Bezieht man diese Zielperspektive auf das entwickelte Handlungsmodell, so wird deutlich, dass sich beim Menschen Dispositionen entwickeln lassen, die ein solches Handeln auch ermöglichen. Neben der Entscheidungsfreiheit argumentiert der Verfasser für ein Menschenbild, bei dem der Mensch als Subjekt seines Handelns bzw. als reflexiv eingestelltes und gesellschaftlich handlungsfähiges Subjekt begriffen wird. Diese Argumentation schließt auch eine Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden gegen den Subjekt-Status des Menschen, z. B. aus dem Poststrukturalismus, ein. Gleichwohl versteht der Verfasser das Menschenbild als offenen Entwurf, der insbesondere angesichts aktueller Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz immer wieder hinterfragt werden muss.
Genau diese Frage wird im letzten Teil des Buches aufgenommen. Nach einführenden Überlegungen zu Formen, Anwendungsfeldern, Chancen und Risiken von KI geht es um vier zentrale Aspekte: Beeinträchtigung der menschlichen Entscheidungsfreiheit durch KI, Auffassung des Menschen als Subjekt oder als Teil von Online-Communities, Übertragung von Verantwortung auf autonome Systeme und transhumane und posthumane Vorstellungen vom Menschen. Für die Frage der Entscheidungsfreiheit konstatiert der Verfasser, dass diese dann erhalten bleibe, wenn einerseits die KI-Nutzenden über angemessene Kompetenzen für eine reflektierte Verwendung verfügen und die Entwickler KI-Anwendungen so gestalten, dass die Ausgaben der Systeme hinsichtlich zugrunde liegender Kriterien oder mindestens bezüglich entscheidungsrelevanter Aspekte nachvollziehbar sind. Auf dieser Basis könne dann die Frage in den Mittelpunkt gestellt werden, wie Mensch-Maschine-Schnittstellen gestaltet werden können, um ein Zusammenwirken von KI-Technologie und Mensch im Rahmen humanen Handelns zum Wohle aller sicherzustellen.
In Bezug auf den Subjektstatus plädiert Gerhard Tulodziecki für die Beibehaltung des Leitgedankens eines reflexiv eingestellten und gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts, das gerade auch in Netzzusammenhängen angesichts vielfältiger Beeinflussungsversuche und Abhängigkeiten im Hinblick auf ein sachgerechtes, selbstbestimmtes, kreatives und sozial verantwortliches Handeln an Bedeutung gewinnt. Die Diskussion um Problemlagen im Zusammenhang der Delegation von Entscheidungen an autonome Systeme zeigt, dass nicht für jede Situation passende und nicht kritisierbare ethische Konzepte zur Verfügung stehen. Daher komme den Entwickler*innen und Betreiber*innen eine besonders hohe Verantwortung zu, Entscheidungen zur Entwicklung und zum Betrieb autonomer Systeme stets mit Blick auf das jeweilige Anwendungsfeld in sozial verantwortlicher Weise zu treffen. Wenn ethische Richtlinien dem Einzelnen auch die Verantwortung nicht abnehmen können, so bieten sie mindestens Hilfe, ein entsprechendes Problembewusstsein zu erzeugen. In Bezug auf ein zukünftiges Menschenbild rät Gerhard Tulodziecki abschließend von vorschnellen Orientierungen an transhumanistischen oder gar posthumanistischen Vorstellungen ab, weil die weiteren Entwicklungen zum einen in empirischer Hinsicht offen sind, und zum anderen, weil eine solche Orientierung als problematische Nebenwirkung zu einer Zuschreibung von Verantwortung an angeblich zwangsläufige (weil technologische) Entwicklungen führen könne. Das Verhältnis von Mensch und Maschine müsse auch in Zukunft auf der Grundlage eines offenen und verantwortungsbewussten Diskurses in humaner Weise gestaltet werden.
Mit dem Band Individuelles Handeln und Gemeinwohl legt Gerhard Tulodziecki eine ausführliche, sehr differenzierte und in jedem Schritt gut begründete Auseinandersetzung mit der Frage menschlichen Handelns im Spannungsfeld von individuellen Interessen und Bedürfnislagen und dem Gemeinwohl vor. Dazu entwickelt er unter Rückgriff auf erziehungswissenschaftliche, philosophische, psychologische und soziologische Theorieansätze und Konzepte ein in sich schlüssiges und konsistentes Modell menschlichen Handelns, das auf aktuelle gesellschaftliche und politische Situationen bezogen wird. Gleichzeitig gelingt dem Verfasser eine überzeugende Diskussion der „großen und grundlegenden“ Fragen nach Entscheidungsfreiheit, Verantwortung und Menschenbild, die der Modellvorstellung zugrunde liegen bzw. mit ihr verbunden sind.
Dass eine solche Modellvorstellung bzw. damit verbundene Leitideen als insgesamt offener Entwurf zu verstehen sind, demonstriert Gerhard Tulodziecki eindrücklich in der Konfrontation dieses Konzepts mit aktuellen Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz, die Fragen nach der Tragfähigkeit eines solchen Modells provozieren. Der Aufbau des Buches erlaubt den Leser*innen ein schnelles Erschließen der Gesamtargumentation sowie der Zusammenhänge einzelner Argumentationsstränge. Als interdisziplinär angelegte Handlungstheorie ist das Buch absolut lesenswert und anregend für alle genannten Disziplinen, einschließlich der Informatik.
BARDO HERZIG
hat die Professur Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik unter Berücksichtigung der Medienpädagogik an der Universität Paderborn inne. Er ist ebendort auch als Direktor des Zentrums für Bildungsforschung und Lehrerbildung (PLAZ) tätig.