Die Gesundheit darf nicht vom Geldbörsl abhängen! – VON JULIA HERR

Mit ihrem Beitrag thematisiert JULIA HERR, Vize-Klubobfrau der SPÖ, den drohenden Gesundheitsnotstand in Österreich. Dem Gesundheitssystem attestiert sie, nach wie vor eines der besten der Welt zu sein, doch mit gesundheitlicher Ungleichheit sowie wachsendem Ärzt*innen- und Pflegepersonalmangel vor enormen Herausforderungen zu stehen.

I. Einleitung

Österreich hat zwar eines der weltweit besten Gesundheitssysteme, doch ist es bei Weitem nicht für alle Menschen gleich gut. Wer wenig Einkommen und einen niedrigen Bildungsabschluss hat, lebt kürzer und wird früher krank. Längst hat sich eine Schere geöffnet: Wer dringend einen Termin braucht und es sich leisten kann, zahlt für eine Privatversicherung oder Wahlärzt*innen. Dort sind Wartezeiten oft kürzer als bei den verbliebenen und oft überlaufenen Kassenärzt*innen. Dabei steht uns allen, unabhängig vom Einkommen, die beste Gesundheitsversorgung zu. Wir müssen daher den Mangel an Kassenärzt*innen und Pflegekräften wirksam bekämpfen, bevor es zu US-amerikanischen Zuständen kommt, wo das eigene Geldbörsl über die Qualität der Gesundheitsversorgung mitentscheidet.

II. Zwei-, Drei-, Vier-Klassen-Medizin

Wer in Österreich eine Universität oder Fachhochschule abgeschlossen hat, weist nicht nur eine höhere Lebenserwartung, sondern auch eine bessere Gesundheit auf als Menschen, deren höchster Bildungsabschluss die Pflichtschule ist. Männer mit Hochschulabschluss können sich im Schnitt bis ins Alter von 71,6 Jahren einer guten oder sehr guten Gesundheit erfreuen. Bei Pflichtschulabschluss sind es nur 54,1 Jahre – ein Unterschied von mehr als 17 Jahren! Bei Frauen sind es rund 15 Jahre (70,9 zu 56,0). Wie bei Bildung ist auch das Einkommen eng mit der eigenen Gesundheit verknüpft. Von chronischen Erkrankungen über Bluthochdruck bis hin zu Depressionen: Sie alle sind sozial ungleich verteilt (Fößleitner/Giefing 2022: 2f). Wer wenig verdient, lebt also kürzer und bei schlechterer Gesundheit (Momentum Institut 2023).

Alle Zahlen belegen eine enorme gesundheitliche Ungleichheit. Zugleich hat Österreich im weltweiten Vergleich nach wie vor eines der besten Gesundheitssysteme. Fast alle Menschen, die in unserem Land leben, haben eine Krankenversicherung und somit Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem und zu kostenfreien Leistungen. Doch harte körperliche Arbeit bis ins hohe Alter, Stress durch finanzielle Unsicherheit oder die gesundheitlichen Folgen von Energiearmut haben ihren Preis. Aber es ist auch das Gesundheitssystem selbst, das Ungleichheit verstärkt. In manchen Bereichen haben wir hierzulande bereits eine Zwei- oder gar Drei- und Vier-Klassenmedizin.

Wer auf Kassenärzt*innen angewiesen ist, wartet nicht selten wochen- oder gar monatelang auf einen Termin bei einem Facharzt oder einer Fachärztin. Wer keine Zusatzversicherung abgeschlossen hat, muss mit langen Wartezeiten auf OP-Termine rechnen. Kein Wunder, dass Privatversicherungen und Wahlärzt*innen, die kurze Wartezeiten und längere Zeit mit den Ärzt*innen versprechen, boomen. Menschen mit gutem Einkommen können so eine schnellere und dadurch oft bessere Versorgung erhalten als jene mit geringem Einkommen. Und diese Schere geht immer weiter auf!

III. Kassenärzt*innen und Pflegepersonal gesucht!

Bereits 2019 waren rund 330 Planstellen für Kassenärzt*innen (4,6 %) nicht besetzt (Rechnungshof Österreich 2021: 34). In der Allgemeinmedizin sowie der Kinder- und Jugendheilkunde ist die Lücke besonders groß. Die verbliebenen Kassenärzt*innen werden gestürmt. Darunter leidet auch die Qualität der Versorgung, weil für viel mehr als Fließbandarbeit keine Zeit bleibt. Viele Patient*innen, wenig Zeit für Beratung und zwar ein hohes, im Verhältnis zu Wahlärzt*innen aber trotzdem geringeres Gehalt macht die Stelle als Kassenärzt*in unattraktiv. Das ist eine Spirale nach unten: Weil die Zahl der Kassenärzt*innen in ländlichen Regionen zurückgeht und in urbanen entweder ebenso fällt oder zumindest nicht mit der wachsenden Bevölkerung mithalten kann, wächst der Druck und sinkt die Attraktivität. All das passiert noch dazu vor dem Horizont einer Pensionierungswelle. Innerhalb der nächsten 10 Jahre wird jede dritte Ärzt*in in Pension gehen. Spätestens dann droht der Gesundheitsnotstand Realität zu werden. Die Gesundheitsversorgung, wie wir sie über Jahrzehnte hinweg gewohnt waren, wird dann nicht mehr möglich sein. Sofern wir heute nicht rasch damit beginnen, dieser Entwicklung entgegenzusteuern.

Neben dem Kassenärzt*innenmangel ist es aber auch der Mangel an Pflegepersonal, der unser Gesundheitssystem bedroht. Eine alternde Gesellschaft trifft auf schlechte Arbeitsbedingungen in der Pflege, die aktive Pflegekräfte zum Aufhören bringen und Menschen, die überlegen in den Pflegeberuf einzusteigen, abschrecken. Das Verhältnis von Pflegekräften zu Patient*innen ist oft katastrophal und der physische und psychische Stress enorm. 2021 zeigte eine Studie der Gewerkschaften, der Wiener Ärztekammer und der AK Wien auf, dass fast die Hälfte der Pflegekräfte ans Aufhören denkt (Gewerkschaften et al. 2021). 68 %der Befragten geben an, erschöpft und niedergeschlagen zu sein. 57 % finden an ihrer Arbeit keine Freude mehr. Die Pflegepersonal-Bedarfsprognose des Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2019 geht von einem Bedarf von 76.000 zusätzlichen Personen in der Pflege bis 2030 aus (BMSGPK 2019: 5). Der enorme Druck auf alle Angestellten im Gesundheitssystem durch die Corona-Pandemie ist hier noch gar nicht eingepreist. Es ist also auch der Pflegemangel, der das österreichische Gesundheitssystem an den Rand des Gesundheitsnotstandes drängt und Lösungen erfordert.

IV. Antworten auf die Gesundheitskrise

Gesundheitliche Ungleichheit trifft auf ein Gesundheitssystem, in dem es an vielen Ecken und Enden kracht. Jede Lösung dafür muss zwei Anforderungen genügen: beste gesundheitliche Versorgung für alle Menschen, egal welches Einkommen sie haben und gute Arbeitsbedingungen und Löhne für alle, die in Gesundheitsberufen tätig sind. Es ist daher Aufgabe der Politik wieder für eine ausreichende Zahl an Kassenärzt*innen und Pflegepersonal zu sorgen und dafür braucht es starke, mutige Schritte. Die folgende Auflistung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, was angesichts der vielen Baustellen und Herausforderungen im Gesundheitssystem weder möglich noch seriös ist. Doch die Auswahl soll zeigen, wohin die Reise gehen muss:

  • Plätze im Medizinstudium aufstocken

Trotz wachsendem Personalmangel werden Jahr für Jahr tausende Menschen abgewiesen, die Medizin studieren wollen. An einer Verdoppelung der Studienplätze führt daher kein Weg vorbei und angesichts der Dringlichkeit und der notwendigen Ausbildungszeit muss dieser Schritt rasch erfolgen!

  • Arbeit im öffentlichen Gesundheitssystem

Das Dasein als Wahlärzt*in ist verständlicherweise verlockend: Mehr Geld und weniger Patient*innen. Doch Österreich braucht ausreichendes Personal im öffentlichen Gesundheitssystem. Wer das Medizinstudium an einer öffentlichen Universität abschließt, sollte daher für eine gewisse Zeit verpflichtet werden, im öffentlichen Gesundheitssystem zu arbeiten, egal ob im Krankenhaus oder als Kassenärzt*in.

  • Primärversorgung ausbauen

Ansprüche von Ärzt*innen an ihr Arbeitsumfeld und von Patient*innen an die Gesundheitsversorgung haben sich geändert. Primärversorgungszentren geben eine Antwort darauf: Gebündelte Kompetenzen, lange Öffnungszeiten und die Arbeit als Team. Neue Strukturen stoßen oftmals auf Widerstände, doch ihr Ausbau muss vorangetrieben werden!

  • Arbeitszeitverkürzung in der Pflege

Personalmangel in der Pflege und Arbeitszeitverkürzung scheinen auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Doch nur sie kann den gordischen Knoten aus schlechten Arbeitsbedingungen, ausgebrannten Pflegekräften und zu geringem Interesse am Pflegeberuf lösen. Eine Arbeitszeitverkürzung gibt Zeit für Erholung und macht den Beruf attraktiver. Es ist der einzige Weg, aktive Pflegekräfte zu halten und mehr Menschen vom Pflegeberuf zu überzeugen. Kein Wunder, dass in Kollektivvertragsverhandlungen die Arbeitszeitverkürzung oft schon einen höheren Stellenwert hat als Lohnerhöhungen. Außerdem sollen Pflegekräfte eine Schwerarbeitspension erhalten, wo auch die Ausbildungszeiten mit angerechnet werden.

  • Entlohnung für Menschen in Pflegeausbildung

Wertschätzung für den Pflegeberuf muss bereits in der Ausbildung beginnen. Neben besseren Arbeitsbedingungen muss auch der Lohn passen. Ähnlich der Polizeiausbildung braucht es auch in der Pflegeausbildung eine existenzsichernde Entlohnung.

  • Gesundheitskassen zurück in die Hand der Arbeitnehmer*innen

Es sind die unselbständig Beschäftigten, die mit ihren Beiträgen die Leistungen der Gesundheitskasse finanzieren und von ihnen profitieren. Es sollte daher selbstverständlich sein, dass auch sie darüber bestimmen. Doch seit der schwarz-blauen Zerschlagung der Krankenkassen haben nicht mehr die Arbeitnehmer*innen das Sagen, sondern die Arbeitgeber*innen. Die Gesundheitskassen müssen wieder im Interesse ihrer Beitragszahler*innen handeln!

  • Sozialpolitik ist die beste Gesundheitspolitik

Arbeitsbedingungen und das Einkommen haben eine große Auswirkung auf die Lebenserwartung und die Gesundheit der Menschen. Nur mit guten Löhnen, fairen Arbeitsbedingungen und einem gut ausgebauten Sozialstaat können wir dafür sorgen, dass solche Faktoren nicht über die Gesundheit entscheiden. Denn eines ist klar: eine gute Sozialpolitik ist zentral für eine gute Gesundheitspolitik.

V. Conclusio

Das Ziel aller Maßnahmen muss die beste Gesundheitsversorgung für alle sein. Es darf nicht das Geldbörsl darüber entscheiden, ob ein OP-Termin in zwei Wochen oder erst in einem halben Jahr stattfindet. Es darf nicht davon abhängen, ob ich mir eine Privatversicherung oder Wahlärzt*innen leisten kann, um rasch die beste medizinische Beratung und Versorgung zu erhalten. Alle Menschen haben das Recht auf beste Gesundheitsversorgung! Wenn wir den Ärzt*innen- und Pflegemangel beheben und die Gesundheitskassen wieder in die Hände jener geben, für die sie da sind, dann können wir das auch gemeinsam schaffen!

06 Julia Herr © Parlamentsdirektion Photo Simonis

JULIA HERR

ist Abgeordnete zum Nationalrat der SPÖ und seit Juni 2023 Vize-Klubobfrau im sozialdemokratischen Parlamentsklub.

Literatur

BMSGPK – Bundesministerium Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (2019): Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Österreich, online unter: https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=722 (letzter Zugriff: 01.10.2023).

Fößleitner, Sophie/Giefing, Martin (2022): Kommunale Gesundheitspolitik – Herausforderungen und Lösungsansätze, in: Momentum-Kongress 2022: Transformation, Oktober 2022, Hallstatt, 13–16.

Gewerkschaften/Wiener Ärztekammer/AK Wien (2021): Gesamtergebnisse der Online-Umfrage „Ich glaub’ ich krieg’ die Krise“, online unter: https://www.arbeiterkammer.at/service/gbr/Beilage_Offensive_Gesundheit_Umfrage.pdf (letzter Zugriff: 01.10.2023).

Momentum Institut: https://www.momentum-institut.at/ (letzter Zugriff: 01.10.2023).

Rechnungshof Österreich (2021): Ärztliche Versorgung im niedergelassenen Bereich. Bericht des Rechnungshofes, online unter: https://www.rechnungshof.gv.at/rh/home/home/004.840_A_rztliche_Versorgung.pdf (letzter Zugriff: 01.10.2023).