Der Beitrag von ALESSANDRO BARBERI analysiert die Funktionsweise des Digitalen Kapitalismus aus marxistischer Perspektive und greift dabei in der durchgängigen Verteidigung des Mai 68 auf Erkenntnisse zurück, die nur einige Jahre nach der Finanzkrise von 2007–2008 erstmals publiziert wurden. Let’s find communality in our diversity!
I. Einleitung
„Tina Mendelsohn: Herr Boltanski, Sie attackieren
auch die 68er-Bewegung.
Sie sagen, es sind Werte durch die Attackierung
des Bürgerlichen und des Bürgertums
verloren gegangen.
Ist es das, was diese meritokratische Revolution
dann auch zerstört hat?
Luc Boltanski: Nein, ich meine, das ist ein Missverständnis,
dass ich die 68er angreife.
Ich habe einen sehr großen Respekt vor dem,
was in den 68er-Jahren erreicht wurde.
Man könnte im Gegenteil das intellektuelle und politische Leben
der letzten dreißig Jahre als einen Versuch der reaktionären Kräfte beschreiben,
sich der Bewegung der 68er und der Werte der Emanzipation zu entledigen.“
Gespräch zwischen Tina Mendelsohn und Luc Boltanski, 3sat Kulturzeit (2011)
„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre,
daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei,
also mit dem kategorischen Imperativ,
alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch
ein erniedrigtes, ein geknechtetes,
ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“
Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/1844)
Kein anderes Ereignis des 20. Jahrhunderts hat für die Nachgeborenen und dabei für die internationale Linke eine so einschneidende Bedeutung gehabt wie die Weltrevolution der Neuen Linken im Jahr 1968. Black Power, Hippies, Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung in Amerika, die Maiunruhen in Paris, die Märzunruhen in Polen, die studentischen Zengakuren in Japan, generalstreikende Arbeiter*innen in Frankreich und Italien, die außerparlamentarische Opposition in Deutschland, die Frauenrechtsbewegung und aktionistische Künstler*innen, der Globuskrawall in der Schweiz und der Prager Frühling standen im globalen Kontext des Kalten Krieges. In Frankreich wurde der Staat erschüttert, in Deutschland kam es zu Straßenschlachten und selbst in Österreich bündelten sich diese Ereignisse und Strömungen in der sogenannten „Uni-Ferkelei“ (vgl. dazu insgesamt Ebbinghaus 2008).
Mit all diesen Aktionen und revolutionären Ereignissen war dabei auch eine Erweiterung der gesellschaftlichen und demokratischen Lebenswelt(en) verbunden, die sich den konservativen, verstockten und faschistoiden bis faschistischen Verhältnissen der 1950er- und 1960er-Jahre entgegenstellten. Kleidungsvorschriften wurden dabei genauso in Frage gestellt wie bürgerlicher Habitus, Sexualität, Wohngewohnheiten und Redeweisen. Radikaldemokratischen und antikapitalistischen Forderungen nach Mitsprache und -bestimmung an den Universitäten (Schlagwort in Österreich: „Drittelparität“) und eben auch in den Betrieben entsprach dabei eine nachdrückliche Macht- und Gesellschaftskritik an den bestehenden Verhältnissen. Vor allem im deutschsprachigen Raum kursierte in der Linken die bohrende Frage, was denn die Väter so im Krieg getan. Unter den Talaren / Muff von 1000 Jahren.
In den letzten Jahrzehnten machte sich indes ein eigentümliches 68er-Bashing in den deutschsprachigen Feuilletons, Redaktionsstuben, Parteien und Bildungsanstalten breit: die langhaarigen Linken hätten durch die gesellschaftskritische Infragestellung der Familie und mit der sexuellen Revolution die (konservative) Keimzelle der Gesellschaft zerstört, sie hätten mit ihrem individualistischen Hedonismus den Neoliberalismus vorweggenommen, sie hätten mit ihrer Klassenkampfrhetorik direkt in den Terrorismus geführt und ob ihrer Ideologie den bereits damals gescheiterten Sozialismus befördert. Überhaupt sei alles obsolet, woran die 68er „damals“ geglaubt hätten, obwohl sie – fast wie die Sozialistische Partei Bruno Kreiskys – gleichzeitig an allem schuld sein sollen.
Demgegenüber lässt sich indes mit allem Nachdruck behaupten, dass die 68er – und gerade sie – uns bis heute hervorragende theoretische und praktische Mittel hinterlassen haben, um den derzeitigen Weltzustand des deregulierten Digitalen Kapitalismus (Staab 2019) zu begreifen. Denken wir dabei nur an die kritische Umwertung der Frankfurter Schule und die dadurch entstandenen verschiedenen Formen der Kritischen Theorie (Jeffries 2021). Werfen wir in diesem kritischen Sinne einen Blick auf die innere Funktionsweise und die Produktionsbedingungen des aktuellen Digitalen Kapitalismus, um kursorisch auszumachen, wie genau unsere neofeudalen Lebenswelten im Rahmen der letzten 40 Jahre systematisch individualisiert und verknappt wurden, was französische progressive Intellektuelle schon vor über zehn Jahren leichter sehen konnten als deutsche Redakteurinnen der Kulturzeit von 3sat (siehe Abbildung 1).
II. Prekarisierung, Verschwinden des Mittelstands und Finanzmärkte
Entgegen der neoliberalen oder vielmehr neofeudalen Doktrin und Ideologie der technologisch unterstützten Deregulierung wurde das Gesamtsystem der kapitalistischen Produktionsweise in den letzten Jahrzehnten in einer noch nie zuvor gesehenen Art und Weise kybernetisch durchreguliert und digitalisiert. Damit sollte noch die letzte gesellschaftliche Pore des Sozialen und der Gesellschaft besetzt bzw. ausgemerzt werden (Tiqqun 2007). Die beiden Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari haben diese Bewegung des global integrierenden und auf allgemeine Äquivalenz zulaufenden „Gott-Kapitals“ (Deleuze/Guattari 1988: 290) als Territorialisierung aller (minoritären und molekularen) Lebensbereiche bereits in der direkten Folge des Pariser Mai 68 am Beginn der 1970er-Jahre diagnostiziert und dem eine schizophrene Revolution entgegengehalten.
In der Folge hat Jürgen Habermas den von Edmund Husserl und Alfred Schütz übernommenen Begriff der „Lebenswelt“ – auch in Erinnerung an Marxens „Lebenskraft“ im Sinne des klassischen sozialistischen Naturalismus – hinsichtlich seiner kapitalistischen „Kolonialisierung“ analysiert (Habermas 1981: 489–547). Damit stellte er das menschliche Leben gegen die (u. a. systemtheoretische) Vereinnahmung durch Steuerungsmedien wie Geld und Macht (vgl. auch aktuell Habermas 2022). Sowohl deutsche als auch französische Progressive haben mithin das begriffliche Rüstzeug hergestellt, um im Sinne der Macht- und Gesellschaftskritik auf das zu reagieren, was heute mit der breiten Prekarisierung der Gesellschaft und dem zunehmenden Verschwinden des Mittelstands vor Augen steht. Nämlich ein immer weiteres Auseinanderdriften von (männlich sichtbarem) Kapital und (weiblich unsichtbarer) Arbeit, dem ein buchstäblicher Wirtschaftskrieg noch in den zivilisiertesten Gegenden und Räumen entspricht. Ein Krieg, den als globalen Klassenkampf zu bezeichnen nur wenige bereit sind (vgl. dementgegen Žižek 2015). Je weiter also die Schere der Ungleichheit polarisierend auseinandergeht, je mehr Menschen also erneut in Lohnarbeitsverhältnisse gedrängt werden – und es waren in der Geschichte des Kapitalismus noch nie so viele wie heute – desto klarer wird auch, dass die Kategorie des Proletariats – auch als Prekariat und Kognitariat – wieder an Aktualität und Realität gewinnt.
Dies vor allem, nachdem die Proletarier*innen ganz gezielt von konservativer und reaktionärer Seite her delegitimiert wurden, um Gewerkschaften und linke Radikalökonomien bis hin zur (historischen und gegenwärtigen) Unkenntlichkeit zu schwächen und zu zerstören. Dass damit gleichsam jeder Buchstabe des Marxismus theoretisch destruiert werden sollte, versteht sich von selbst. Es versteht sich aber auch von selbst, dass Marx nicht totzukriegen ist und deshalb auch gespenstert (Derrida 1995). Ein Wiener Bezirksrat brachte ganz in diesem Sinne bereits vor über zehn Jahren die Phraseologie des marktradikalen Digitalen Kapitalismus und/als Neofeudalismus auf den Punkt: „Proletarier*innen aller Länder, vereinzelt Euch!“
Mag es dahingehend auch sein, dass die Menschen z. B. in Westeuropa im Durchschnitt noch genügend zu essen haben. Wohl ist aber aus soziologischer Sicht eine innere, eine psychische Verelendung und Devastierung zu konstatieren. Sie steht ökonomisch ganz klar damit in Zusammenhang, dass die auf den Finanzmärkten zirkulierenden Werte keine realwirtschaftliche Entsprechung mehr in der sozialen Wirklichkeit und den Lebenswelten der Menschen haben. Eigentümlich, dass der von den 68ern so verehrte Karl Marx auch hier wieder mit seiner Kritik der politischen Ökonomie (Marx 1989) Recht behält (Eagleton 2012): Denn wenn die Geldwerte (G-W-G’) vollständig von den Warenwerten (W-G-W’) abgekoppelt werden (G-G’-G’’) deliriert der Kapitalismus sich paranoisch nur mehr selbst und fällt folglich erneut mit den verschiedenen aktuellen Formen des global vernetzen Faschismus zusammen. Er wirft damit alle Akteur*innen in einen unaufhebbaren Schuldzustand, den der Proto-68er Walter Benjamin „die endliche völlige Verschuldung Gottes“ (Benjamin 2003) nannte (vgl. dazu auch Graeber 2011).
Genau diese Tendenz stand schon mit der Rettung der Banken nach der Finanzkrise von 2007–2008 vor Augen, die streng genommen nichts anders war als eine breit angelegte Bevölkerungsenteignung und d. i. Bevölkerungsbeschuldigung. Den letzten dreißig Jahren – also etwa seit dem Fall der Mauer – entspricht gerade deshalb auch ein Aufleben verschiedenster religiöser Fundamentalismen, weil der Kapitalismus nicht nur aus der Religion stammt, sondern tatsächlich – wie Benjamin im Blick auf die Religionskritik von Feuerbach und Marx festhielt – eine „reine Kultreligion“ (Benjamin 2003) ist. Eine Religion, deren Funktionsweise es – durchaus in Erinnerung an Max Webers Religionssoziologie (Weber 2010) – rational aufzuklären und im Blick auf den Sozialismus atheistisch und d. h. säkular zu überwinden gilt (vgl. dazu auch Honneth 2015). Oder es explodieren eben – wie am Ende von Fight Club (David Fincher 1999) – früher oder später die Hochhäuser und Zentralen aller Kreditkartenunternehmen und Bankster*innen, um sämtliche Konten entschuld(ig)end auf null zu stellen (siehe Abbildung 2). Ach, die linke Gewaltbereitschaft, die sich immer schon gegen Schwächere gerichtet hat.
III. Permanente Taktung durch digitale Sozialdisziplinierung
Der genannten Fiktionalisierung der Werte (G-G’-G’’) auf den Finanzmärkten (vgl. dazu auch Hilferding 2000) entspricht dabei eine kapitalistische Ökonomisierung und Verknappung aller gesellschaftlichen Felder und Lebenswelten im digitalen Semiokapitalismus (Berardi 2009). Um diese betriebswirtschaftliche Taktung aufrechterhalten zu können, ist es schon in der Fabrik des 19. Jahrhunderts auf breiter Ebene notwendig geworden, die „gelehrigen Körper“ verschiedenen Formen der Disziplinierung zu unterwerfen und sie damit zu überwachen und zu bestrafen (Foucault 1976). Über Taylorismus und Fordismus hinaus hat die dritte, die digitale industrielle Revolution neuartige Verbindungen zwischen Mensch und Maschine produziert, die gleichzeitig einem radikalen Abbau von Arbeitsplatzsicherheit, Lebensqualität und Lebenserwartung entsprechen.
Die (überaus fragwürdige) marktradikale „Freiheit“ der Ich-AGs besteht ja genau genommen nur in der permanenten Bereitschaft der proletarisierten Wissensarbeiter (Cognitarians) ihr Know-how weltweit und stundenweise von zuhause aus (Outsourcing) ohne soziale Absicherung auf den Markt zu werfen, wie durch die Corona-Pandemie für uns alle spürbar wurde. Gänzlich beschleunigte und getaktete Lieferung der „Hirnware“ korreliert dann mit gänzlich kapitalisierten und digitalisierten globalen Niedrigstlöhnen. Also eigentlich kein Wunder, dass die Ich-AGs vier bis sechs Verträge als „freie“ Dienstnehmer*innen haben und doch nicht über die Runden kommen. Aber die marktradikale Ideologie verlautbart und hämmert ein: „Geht’s mir selbst gut, geht’s der Wirtschaft gut!“.
Dieser gezielten Zerschneidung der individuellen und damit auch kollektiven Sozialkörper im Spätkapitalismus entspricht dabei ein fataler Abbau sowohl der politischen (d. h. formaljuristischen) als auch der sozialen (d. h. materialen) Demokratie. Die Individuen werden unter digitalen Bedingungen hochgradig isoliert und voneinander abkoppelt, wodurch jede Form von Mitsprache und Mitbestimmung (nicht nur) in entscheidenden wirtschaftlichen Fragen im Keim erstickt werden. Und miteinander reden ist nun mal eine kollektive, gemeinschaftliche und intersubjektive Sache zwischen Ich und Du, die sich nicht auf eine individuelle „Robinsonade“ im Sinne Marxens zurückführen lässt. Eben dieser egoistischen Individualität eines vermeintlich rationalen Homo oeconomicus folgen indes auch unsere akademischen Ökonometrien und Verwaltungen.
Kein Wunder also, dass an der Wiener Wirtschaftsuniversität die radikale Ökonomie zur Seite gedrängt wurde und sich Larry Summers, der gefährliche ehemalige Präsident der Harvard University, auf das Härteste gegen die Regulierung der Finanzmärkte stemmte (siehe Abbildung 3). Dies wurde in dem herausragenden und vom Titel weg bezeichnenden Dokumentarfilm Inside Job (Charles H. Ferguson 2010), der die Finanzkrise von 2007–2008 lupenrein erklärt, schon vor geraumer Zeit nachgewiesen. Die auf die Französische Revolution verweisenden emanzipatorischen Werte der 68er bzw. der Arbeiter*innenbewegung, also Freiheit, Gleichheit, Solidarität oder auch Kooperation (Sennet 2012), werden eben punktgenau und angeblich „wissenschaftlich“ auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, um der blanken Konkurrenz und der Eiseskälte des Kapitalismus wirtschaftlichen Platz in den Lebenswelten der Menschen zu schaffen.
Oft genug werden diese Werte als „pure Nostalgie“ (Reckwitz 2019: 442) stigmatisiert, weil sie ein rationales und egalitäres Prinzip darstellen, dass angeblich nicht (mehr) eingeholt werden kann. Dahingehend sei auch daran erinnert, dass die Student*innenrevolte des Mai 68 mit dem größten Generalstreik der französischen Geschichte in eins fiel (siehe Abbildung 4). Komisch nur, dass sich daran kaum jemand erinnern mag, wenngleich viele (vor allem ältere) Menschen auch in Österreich noch wissen, dass der Sozial- und Wohlfahrtsstaat Inseln des Gesellschaftlichen etabliert hatte, mit denen Demokratie (in allen Wortbedeutungen) allererst möglich wurde. Dabei war der Sozial- und Wohlfahrtsstaat faktisch nur die Hälfte des Möglichen. Oiso, losst’s ma di oidn leit in ruah!
IV. Spaltung der Linken und deutsche Ideologie(n)
Es ist deshalb mit allem Nachdruck daran zu erinnern, dass die letzten dreißig Jahre für die Durchsetzung der Ideale der Arbeiter*innen- und Student*innenbewegung einen bedenklichen Tiefpunkt darstellen. Nach dem Niedergang der Grenzrealität(en) der realsozialistischen Staaten sackten auch im Westen die linken und progressiven Kräfte programmatisch und ideologisch ein, obwohl sie dies kaum nötig gehabt hätten. Im Sinne der soeben skizzierten marktradikalen Deregulierung wurden nach der Wende alle Begriffe und Konzepte, die das Gemeinsame, Gesellschaftliche oder das Prinzip der Gleichheit betrafen, durch die vollkommen unnötige Fortsetzung eines marktschreierischen und anachronistischen Antikommunismus und/als Treuhandfaschismus auf dem dritten Weg zerschlagen und delegitimiert.
Mit dem Begriff des Sozialismus in allen möglichen Wortbedeutungen fiel daher auch das Soziale in der sozialen Marktwirtschaft des Westens und mithin auch die etablierten Standards des Sozial- und Wohlfahrtsstaates (Bourdieu 2014). Da sich in diesem Kontext die Sozialdemokratie brutal von der Idee und Wirklichkeit des Sozialismus abwendete, führte auch dazu, ihn in der eigenen Geschichte revisionistisch zu bekämpfen und auszulöschen. Jeder Gedanke an die Gemeinde (man denke an die Pariser Commune von 1789 sowie 1871) und an gemeinsames oder öffentliches Eigentum wurde mit dem Hinweis auf den Totalitarismus fast schon unter Strafe gestellt, wodurch auch die ehedem sozialistischen Parteien der Sozialdemokratie dem Sozialismus den Kampf ansagten.
Obwohl in den 1990er-Jahren mit den Debatten zum Kommunitarismus (Haus 2003) im angelsächsischen Raum eben dieses Gemeinsame auf dem diskursiven Spiel stand, dürfte erst durch die Finanzkrise von 2007–2008 und aktuell durch die Corona-Krise und den Ukraine-Krieg ein langsamer Wandel in der internationalen Linken eingesetzt haben. So kann auch heute noch aktualisierend daran erinnert werden, dass die Occupy-Bewegung gerade an der Wall Street einen Spruch kreierte, der das hier Diskutierte auch angesichts der Diskussionen zu Diversität (Michaels 2021) hervorragend zusammenfasst und im Grunde auch über Michael Hardt und Antonio Negri hinausgeht, da deren partikularistische Multitude (Hardt/Negri 2002) nun wieder auf Gemeinsames bezogen ist: We find communality in our diversity!
V. Conclusio
Demgegenüber forderten deutsche Ideologen wie Peter Sloterdijk allen Ernstes und schon vor über zehn Jahren die Abschaffung von Steuern, weil auch ihnen noch der Geruch des totalitären Übergriffs auf die unendliche Freiheit des (philosophisch und d. i. ökonomisch spekulierenden) Individuums anhaftet (Sloterdijk 2010). Ein Individuum, das angeblich nur mehr Im Weltinnenraum des Kapitals (Sloterdijk 2006) leben kann. Lassen wir uns an diesem Punkt nicht täuschen: Die theoretische und praktische Deregulierung aller Märkte setzt keine Lebenswelten „frei“, sondern reguliert unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Maschinisierung und Kybernetik erst recht im Sinne des kapitalistischen Totalitarismus der Finanzmarktdiktatur. Es geht hier um eine „digital[e] Leibeigenschaft, gegen welche die analoge des Absolutismus als harmlos erscheint“ (Gremliza 2017). Eine finanzaristokratische und reaktionär bourgeoise Wirtschaftsdiktatur auf globalem Niveau, die mehr und mehr vor Augen steht und – etwa mit dem AMS oder Hartz IV – schmerzhaft in die Körper der Menschen eingreift, um sie zu takten, zu normieren, zu (re-)sozialisieren und ökonomisch wiederverwertbar zu machen.
Vorsicht ist auch geboten, wenn aus Michel Foucaults linker Widerstandsfigur einer Sorge um Sich (Foucault 1989) eine psychotische und kapitalistische Sorge ums Ich wird. Man soll auch schon deutsche Professoren und Beamte gesichtet haben, auf deren kulturwissenschaftlicher Agenda – im Übrigen ganz gegen das deutsche Grundgesetz (Abendroth 1978) – die gänzliche Absage an den Sozialstaat und den Gesellschaftsbegriff ganz oben steht und zum buchstäblichen Programm erhoben wurde. Im Grunde bleibt da in unseren verknappten und kolonisierten Lebenswelten nur eines zu sagen:
La lotta continua! La lutte continue! Der Kampf geht weiter!
Wobei dieser Satz in den romanischen Sprachen nicht so hart klingt wie im Deutschen. Man denkt an Deutschland im Herbst (Fassbinder, Alexander/Kluge et al. 1978; siehe Abbildung 5). Und im freundschaftlichen Gruß an Luc Boltanski rufen wir aus: Willkommen in der Vorhölle!
ALESSANDRO BARBERI
ist Chefredakteur der Fachzeitschriften ZUKUNFT (www.diezukunft.at) und MEDIENIMPULSE (www.medienimpulse.at). Er ist Historiker, Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Wien, Magdeburg und St. Pölten. Politisch ist er im Umfeld der SPÖ Bildung und der Sektion Wildganshof (Landstraße) aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/
Dieser Beitrag erschien in einer sehr frühen Fassung bereits in 08/16, Nr. 05/2012: 14–15 und wurde für diesen Wiederabdruck stark aktualisiert und erweitert.
Literatur
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Benjamin, Walter (2003): Kapitalismus als Religion, in: Baecker, Dirk (Hg.) (2003): Kapitalismus als Religion, Berlin: Kadmos, 15–18.
Berardi, Franco „Bifo“ (2009): Precarious Rhapsody. Semiocapitalism and the pathologies of the post-alpha generation, London: Minor Compositions.
Boltanski, Luc (2011): Die Vorhölle. Eine Kantate für mehrere Stimmen, Berlin: Berlin University Press.
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Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1988): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Graeber, David (2011): Schulden. Die ersten 5.000 Jahre, Stuttgart: Klett-Cotta.
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Honneth, Axel (2015): Die Idee des Sozialismus, Berlin: Suhrkamp.
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Michaels, Walter Benn (2021): Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren. Berlin: Edition Tiamat.
Reckwitz, Andreas (2019): Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin: Suhrkamp.
Sennett, Richard (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Berlin: Hanser.
Staab, Philipp (2019): Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Ungleichheit, Berlin: Suhrkamp.
Sloterdijk, Peter (2006): Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Berlin: Suhrkamp.
Sloterdijk, Peter (2010): Die nehmende Hand und die gebende Seite: Beiträge zu einer Debatte über die demokratische Neubegründung von Steuern, Berlin: Suhrkamp.
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Žižek, Slavoj (2015): Der neue Klassenkampf: Die wahren Gründe für Flucht und Terror, Berlin: Ullstein.
Filme
Fincher, David (1999): Fight Club © Fox 2000.
Ferguson, Charles H. (2010): Inside Job © Sony Pictures Classic.
Fassbinder, Rainer Werner/Kluge, Alexander et al. (1978): Deutschland im Herbst © Filmverlag der Autoren.
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