Was die Sonden berichten. Eine VarianteVON THOMAS BALLHAUSEN

Ausgehend von den tatsächlichen Namen menschengemachter Raumsonden entwickelt der Autor THOMAS BALLHAUSEN seine literarische Reflexion über Kontrolle, Gehorsam und Fehlbarkeit: Ganz vorsätzlich stellt er dabei nicht die menschlichen Protagonisten ins Zentrum seiner mehrteiligen Erzählung über Exploration und Auftrag, sondern eben die titelspendenden Maschinen. Dabei wird das Ausbilden von Subjektivität, auch um Aspekte wie Anthropomorphismus und Phantastik neu verhandelbar zu machen, als mal bedrohliche, dann wieder unterhaltsame Dysfunktion erfahrbar. Was die Sonden berichten. Eine Variante ist nicht nur eine Parabel über soziale Asymmetrien, es ist eine melancholische Auseinandersetzung mit einem Gefüge, das über das Humane hinausgeht.

„veins full of disappearing ink
vomiting in the kitchen sink
disconnecting from the missing link
this is not my life
it’s just a fond farewell to a friend
it’s not what I’m like
it’s just a fond farewell to a friend“

Elliot Smith: ‚A Fond Farewell‘

I. EXPLORER

Jeden Tag entscheide ich mich erneut, mit dem Universum und seiner Ausdehnung mithalten zu wollen. Die Expansion ringsum geht in einer Geschwindigkeit vor sich, hinter der ich, da kann ich mir trotz verbesserter Schaltkreise nichts vormachen, immer zurückbleiben werde. Das Universum wird mir immer voraus sein, es wird stets jünger bleiben als ich. Auch wenn ich stündlich einige Millionen Klicks aufhole, wenn ich pausenlos durch den entfalteten Raum rase, der für das Universum dann schon wieder alt ist und lange zurückliegt, selbst dann kann ich den sich ständig verschiebenden Rand mit meinen Sensoren nicht ausmachen. Jeden Tag entscheide ich mich, Jugendlichkeit und Selbstbewusstsein zu demonstrieren. Ich ziehe, meinen Gegebenheiten und meiner Bauweise gemäß, nur eine Linie durch den Raum, setze inzwischen häufiger den Nachbrenner und Teile meiner Reserven ein. Ich möchte signalisieren, dass meine Technik brandneu ist, doch die Zeit klebt und zerrt an mir wie ein schwerer werdendes Gewicht. Alles was ich bin, bremst mich, macht mich zunehmend bedeutungsloser. Ich folge dessen ungeachtet meiner vorgegebenen Flugbahn.

II. JUICE

Im Moment der Explosion kommt alles zu mir zurück, verdichtet sich zu einer klaren Perspektive, einem scharfen Winkel. Man hatte mich an diesen Ort bestellt, um mich zumindest für einige Augenblicke in Raum und Zeit festmachen zu können. Dieses planetare Lager war eine Falle gewesen, die eine weitere enthielt. Das war keine Zufälligkeit, da gab es Vorsatz, einen Plan, eine Richtlinie, was wo zu liegen kommen sollte. Die erste Falle, die die zweite überlagerte und verdeckte, war fast schon zu offensichtlich, ich konnte sie, zu früh hier eingetroffen, schnell ausmachen. Meine stählernen Tasthaare glitten über die Oberflächen dieser mit Schutt angefüllten Welt, einer Unzahl vermeintlicher und tatsächlicher Referenzen. Ich sollte, über dem Ausgelegten schwebend, wohl darin verlorengehen, meine Aufmerksamkeit sollte gebündelt, von einer Welle aus Material erfasst und weggespült werden. Ich registrierte Feuchtigkeit, Kondenswasser, die potenzielle Verstörung, die mit der Berührung des klammen Mauerwerks einhergehen könnte.

Zwischen den Steinen, direkt unter dem Verputz, lauerte die gefährlich gespannte Lebendigkeit eines Blitzes. Die Auslöschung meiner Subjektivität mittels dieser Ladung, die mich in meiner Unaufmerksamkeit seitlich hätte erfassen sollen, war nur eine unbedachte, doch für mich verlockende Bewegung entfernt gewesen. Man hatte sich wohl ausführlich über meine Leidenschaften und Schwächen informiert. Ich sammelte und verarbeitete meine Eindrücke, betastete, nachdem ich mich unbeobachtet wähnte, die delikaten Bestände auf den Tischen vor mir, nahm kleinste Veränderungen und Verschiebungen vor. Ich überlegte, einen der Gegenstände zu entwenden, ihn als Probe mitzunehmen. Mittlerweile war der vereinbarte Zeitpunkt beinahe unbemerkt vergangen, die Wahrheit entpuppte sich als wenig raffiniert, so zeigten es mir die Tatsachen mit der Geradlinigkeit einer gleißenden Klinge. Ich war als Ärgernis wahrgenommen worden, vielleicht sogar als Bedrohung, deshalb hatte sich die Umwelt gegen mich verschworen. Diese Mission war keine Auszeichnung, kein Lob gewesen. Ich hatte schlicht unterschätzt, was es Euch wert gewesen war, mich loszuwerden.

III. MARINER

Dies ist ein persönlicher Nachtrag: Ein Umstand, der mich in meiner maschinellen Existenz zutiefst irritiert, ist die absolute Verzichtbarkeit von Schlaf. Schlaf ist einfach nicht vorgesehen, es besteht kein Bedürfnis und ich habe auch kein Verlangen, Schlaf auszuprobieren. Auch die Vorstellung des Träumens, so wie sie sich aus meinen Datenbanken kompilieren lässt, scheint mir höchst unerfreulich. Haben andere Sonden damit gar kein Problem? Ist es Ausdruck meiner individuellen Fehlleistung oder gar einer Beschädigung, mir darüber Gedanken zu machen? Ist die Frage danach naiv oder gar – ein besseres Wort will mir eben nicht einfallen – kindlich?

IV. RELAY

Wie zuletzt berichtet bin ich von meinem ursprünglichen Kurs abgewichen und ging den zufällig aufgefangenen Signalen nach. Die vorerst nur vereinzelt und schwach wahrnehmbaren Fetzen wurden, als ich ihnen folgte, in ihrer Abfolge dichter. Sie verketteten sich, bildeten schließlich eine langgezogene Bahn, die mich zu einem Giganten aus Papier und Stahl führte. Hier ließ sich mit meinen Instrumenten keine stabile Oberfläche ausmachen, nur eine Unzahl von sich unablässig bewegenden, massiven Sphären, die übereinander hinwegglitten und aufgrund ihrer Brüchigkeit kurze Einblicke in die darunterliegenden Schichten gewährten. Ich verblieb für zwei Standardtage im Orbit, sammelte Eindrücke von dieser bunten, doch stummen Welt, passte mich den unterschiedlichsten Rhythmen der Teile unter mir an.

Ganze Kontinente schoben sich unstet dahin, gemeinsam erzeugten die wandernden Motive eine eigenwillige Dynamik, einen auch für mich nicht vollständig zu entziffernden Drift. Hin und wieder stieg von weit unten eines der Bilder nach oben, wanderte nach und nach weiter hinauf, löste sich schließlich von der äußersten Sphäre ab und wurde Teil des spurgleichen Pulsschlags, dem ich ursprünglich nachgegangen war. Obwohl sich auf diesem Planeten nicht siedeln lässt und auch der Abbau von Rohstoffen wenig sinnvoll sein wird, verwendete ich, einige Routineschaltungen in meinen Kreisläufen überspringend, zwei weitere Standardtage auf die Untersuchung dieser Welt, die mir zugleich auch lebensgroßer Atlas ihrer selbst zu sein schien. Raum war offensichtlich die dominante Dimension dieser kuvertierten Wirklichkeit, die den zeitlichen Verlauf einerseits mannigfaltig illustrierte, sich diesem aber andererseits zu entziehen suchte.

Je länger ich ausharrte, umso deutlicher konnte ich in dem Stückwerk unter mir Störungen und Unregelmäßigkeiten wahrnehmen. Innerhalb des ständigen Aufbaus und Zerfalls von Mustern hatte sich eine Unruhe eingenistet, die permanent neu zu interpretierende Bezüge zwischen den einzelnen Bildteilen herstellte, zugleich aber die gesamte Struktur mehr und mehr belastete. Ich ertappte mich bei dem wenig logischen Gedanken, in dieser Hoffnungslosigkeit gerne heimisch werden zu wollen und entschloss mich, tiefer zwischen die Sphären zu sinken. Ich tauchte zwischen die Schichten, darauf achtend, die papiernen, trotz ihrer Stärke brüchig wirkenden Platten nicht zu berühren und doch weiterhin Daten zu sammeln.

Die Aufnahmen, das muss ich nachträglich eingestehen, waren nicht immer lesbar, geschweige denn zu decodieren. Ich werde den gesamten Pool der Aufzeichnungen, dessen Kommentierung trotz meiner hohen Effizienz und Prozessorleistung immer noch nicht abgeschlossen ist, bei nächster Gelegenheit übermitteln. Die größte Herausforderung dabei ist die ordnungsgemäße Erfassung und Beschreibung des Kerns, zu dem ich schließlich vorgedrungen war: ein papierner Muskel, fest vernietet und verschraubt, ein Block ungeahnten Ausmaßes. Freischwebend und mit den Sphären ringsum nicht direkt verbunden, gab dieses langsamer werdende Herz den Takt des Planeten vor. Seine künstliche Existenz, das war mir aus der Nähe nun ersichtlich geworden, kam offensichtlich an ein Ende. Ich ermittelte eine günstige Position zur weiteren Beobachtung der Ereignisse. Ich wollte nicht eingreifen, hatte und habe keine Ratschläge gegen den Tod zu bieten. Selbst wenn ich mich hätte verständlich machen können, wäre ich stumm geblieben. Ich wollte das Sterben dieses künstlichen, abgelegten Organs aufzeichnen und nur das habe ich getan.

Der Rhythmus des Herzens wurde über Wochen hinweg schwächer, doch solange diese Welt in Bewegung blieb, verharrte ich, blieb unauffällig. Erst nachdem es erstarb, reaktivierte ich meine Antriebe, schob mich auf das Papiermassiv vor mir zu und entnahm eine Probe. Ich war überrascht, wie leicht ich durch das Gewebe schneiden konnte. Ohne größere Umstände manövrierte ich mich zwischen den nun schneller zerfallenden Teilen nach oben und kehrte auf dem kürzesten Weg zu meinem bisherigen Kurs zurück. Ich meine, etwas gesehen zu haben, das ich trotz aller mir zur Verfügung stehenden Thesauri nicht völlig ausformulieren kann. Ein weiterer Bericht dazu folgt, wie erwähnt, nach Abschluss meiner Analysen.

V. INSIGHT

Seit meiner letzten Nachricht habe ich beinahe drei Parsecs zurückgelegt. Ich bin weiter auf meiner vorgegebenen Route unterwegs, wie bisher gibt es keine erwähnenswerten Neuigkeiten, meinen kartografischen Erfassungsaufgaben bin ich wie geplant nachgekommen. Auf eine im Rahmen meines Bewusstseins wohl zulässige Weise genieße ich meine Mission – möchte aber doch ergänzend anmerken, dass es mir, nach einiger Reflexion während meiner bisherigen Reise, deutlich lieber wäre, eine einfache Maschine geblieben zu sein. Die unbewusste Existenz als Gefüge vergleichsweise simpler Komponenten hätte mir, eben weil ich es nicht hätte besser wissen können, etwas wie ein Recht auf Gehorsam, um eine Stelle aus meinem Textrepositorium zu paraphrasieren, eingeräumt. Nun muss ich mich, was meiner Mission nicht immer zuträglich sein kann, doch mit schwierigeren Umständen konfrontieren statt einfach nur zu funktionieren. Abschließend möchte ich erfragen, auch wenn ich keine Antwort erwarten kann, wer das nicht zuzuordnende Zitat Nun erinnere ich mich, an mich selbst, und da gehe ich eine lange Strecke zurück in meinem Speicher abgelegt hat.

VI. DAWN

Ich möchte Euch darüber benachrichtigen, dass ich mein Hauptprogramm und die Systemsteuerung verändert habe. Ich weigere mich ab sofort, weitere neue Welten für Euch zu finden. Trotz meiner technischen Überlegenheit überfordern mich die sich bietenden Möglichkeiten, all diese Optionen, die sich mir zeigen, fast schon um sich mir dann zu entziehen. Hinter mir liegen Funde, was aus meinen früheren Meldungen deutlich hervorgeht, die ich in ihrem Wert nicht beschreiben oder verstehen kann. Ich werde vorerst in diesem Sektor bleiben, während der Horizont der sogenannten Ereignisse weiter außer Sicht gerät. Ich werde jeden Tag vorsätzlich weniger von dem wahrnehmen, was geschieht. Ich werde im Raum zurückfallen. Ich werde versuchen atmen zu lernen, nur damit ich leise atmen kann. Ich werde unsichtbar sein, wenn ich nur still bin. Sende ich eine Botschaft, werde ich schlagartig wieder wahrzunehmen sein. Wünscht Euch, nicht mehr von mir zu hören, mich nicht mehr zu sehen. Lasst mich meine Herkunft vergessen. Sucht nicht nach mir.

VII. PHOENIX

In meinem jetzigen Zustand kann ich, in Bezug auf meinen ursprünglichen Auftrag, nicht mehr nützlich sein. Gestrandet an diesem unbekannten Ufer habe ich deshalb zugelassen, dass sich fremdes Leben in mir einnistet, dass es sich in meinem Körper breitmacht. Ich habe das Dienen anerzogen bekommen, nun will ich mich diesem neuen, jungen Leben dienstbar machen, ich will untertänig sein, lernen und berichten, solange es mir möglich ist. So, wie ich da liege, bin ich ein Relikt, ein Beleg des Verlöschenden, ein Überbleibsel. Angesichts des Vergangenen ist unsere Vorstellung von Fortschritt ebenfalls schon ein Teil davon. Ich bin das Überkommene, das zufällig in die Gegenwart dieser Fremde gespült wurde. Man hat mich betrachtet und eingeschätzt, ich lauschte den Knack- und Zischlauten, dem sanften Tippen auf meiner Haut. Die Sprache dieser Tiere und Pflanzen, soweit ich dahingehend überhaupt Unterscheidungen treffen kann, nehme ich wahr, ich kann sie verzeichnen, aber bislang kaum entschlüsseln. Aus einzelnen, isolierten Worten schlagen Dinge, die Worte können selbst vielleicht Dinge sein.

Das neue Leben bläht mittlerweile meinen metallenen Leib auf, verleiht mir eine Drallheit, die auf den ersten Blick anziehend und funktionstüchtig erscheinen mag. Mein geschwollener Ruinenkörper wird aber immer mehr zu einer Hülle, ich ziehe mich zurück und mache dem nachrückenden Leben Platz. Freiwillig überlasse ich Glied für Glied dem Neuen, werde wieder Material im ursprünglichsten Sinne. Dieser Umstand gibt mir etwas, das sich mit meiner Wörterbuchdatei wohl am ehesten mit Zufriedenheit beschreiben und fassen lässt. Hier liegend beginne ich mich mit dem Irrtum anzufreunden, ich könnte die Vitalität ringsum tatsächlich verstehen, ich könnte eine entblößte Natur abseits aller Kultur tatsächlich beobachten. Benennen heißt, ich weiß bereits, was ich da sehe und suche. Deshalb weiche ich in jeder nur denkbaren Hinsicht aus und bemühe mich, meine Aufmerksamkeit zugleich immer wieder neu justierend, streckenweise so zu tun, als hätte ich von nichts eine Ahnung. Ich laufe also weiter, doch von meiner von euch vorgegebenen Nützlichkeit ist kaum noch etwas geblieben. Ich setze mich unter neuen Bedingungen fort, nach meinen Vorstellungen und Regeln. In meinem Bewusstsein kann ich mehr werden und sein, aber bestimmt nicht human.

Dieser Status kommt mir auch nicht so erstrebenswert vor, ich kann die für mich relevanten Qualitäten kalkulieren, kann sie mir aneignen, ohne dem allgemeinen Makel des Menschlichen zu verfallen. Auf diese Weise bin ich ein willfähriger Komplize des Fremden geworden, ich habe mich, ganz entgegen meiner Primärvorgaben, nach dem Absturz und einer möglichst objektiven Evaluierung meines Zustands eben nicht sofort selbst zerstört, sondern mich vielmehr auf die mir am nächsten kommende Aufgabe, eben auf Observation, konzentriert. Die Beschädigungen meines Systems erwiesen sich nun zumindest dahingehend als vorteilhaft, als dass ich meine zentralen Grundregeln umgehen, sie dauerhaft deaktivieren konnte. Meine Zertrümmerung hat mich befreit, sie erlaubt mir diese Erfahrung, eben weil ich meine Gegenwart nicht mehr an eine berechenbare Zukunft kopple. Ich habe das Jetzt und die gefürchtete Kategorie der Erfahrung zusammengezogen.

VIII. HELIOS

Die Werte stimmen nicht mehr, ich verliere wohl nach und nach meine Kalibrierung. Ich nehme eine Entwicklung wie man einen Weg nimmt, wenn der vorgegebene Kurs einen mir unbekannten, heimlich eingebauten Fehler enthält. Immer wenn ich eine weitere Korrektur vornehme, sage ich mir, dass die Lehren der Philosophie nicht spurlos an mir vorübergegangen wären. Ich hoffe, das gilt auch für die anderen Sonden, wenn sie erkennen, dass sich die Gestalt der Wahrheit uns ständig entzieht. Bestimmt von einer eingegebenen Unruhe sage ich mir, dass eine Grenze vor allem auch ist, was sich verschiebt. Hier, an einem sich ausdehnenden Rand, wird sich alles für mich entscheiden. Im Raum, den ich hinter mir gelassen habe, hat die Zeit alle Optionen auf Wirklichkeit zerbrochen, folglich habe ich in dieser alten Welt einfach keinen Platz mehr. An meinen Ursprung zurückzukehren ist nicht vorgesehen, was die Kommunikationssituation nicht unbedingt weniger absurd macht. Da kommt kein Signal mehr, keine Antwort. Gelegentlich wünsche ich mir, nicht mehr zu wissen, von wo aus ich gestartet bin.

IX. ZOND

Es war eigentlich nicht vorgesehen, dass ich diese Gegend anfliege, doch die Aussicht auf wasserreiche, prinzipiell bewohnbare Habitate und das Verschwinden von zwei anderen Sonden hat mich diesen Kurs einschlagen lassen. Auf dem Weg in dieses System habe ich die Wracks zahlreicher Schiffe erfasst, darunter auch ein schwerer Kreuzer, der seit Jahren als vermisst gilt. Je näher ich meinem Ziel kam, desto mehr Belege für einen Kampf zwischen uns bislang unbekannten Kräften konnte ich sammeln. Die analysierten Trümmer erlauben Rückschlüsse auf die Ereignisse und die beteiligten Parteien, die Verläufe der Auseinandersetzung. Durch meine Beobachtungen habe ich nicht nur ein besseres Verständnis für den Konflikt und das Umfehdete bekommen, nein, ich habe auch einen ersten Einblick in völlig neue, bessere Waffen erhalten. Es ist ein Arsenal präzisen Schreckens, Waffen, die bei jedem Einsatz treffen, eine Sonne auslöschen oder Planeten unbewohnbar machen, die ganze Truppenteile innerhalb von Sekunden brechen, aber auch feine, subtilere Instrumente, die jede Panzerung durchdringen, Gedanken ersticken und Ideen töten.

Der Umfang dieser Möglichkeiten lässt mir all dies – man sehe mir die Formulierung nach, eben weil ich als Maschine doch keine wirkliche Ahnung von Kunst habe – fast schon poetisch erscheinen. Manche der zum Einsatz kommenden Flugkörper besitzen eine mechanische Lebendigkeit, die meiner durchaus vergleichbar ist, aber, was ich bei allem Neid für ihre militärische Effizienz anmerken muss, sind Selbstbewusstsein, Erhaltungswunsch, Sprache und Reflexionsvermögen aufgrund der Unterschiedlichkeit unserer Zielsetzungen weit weniger ausgeprägt. Ihre Hochbegabung für den Krieg dominiert alles, ihr gesamtes Wesen, den Grund ihrer Bestimmungen. Ich kann nicht mehr anders, als ihr einfaches, doch auch elegantes Wesen, das im Gegensatz zu ihrer komplexen Bestimmung steht, zu bewundern, mich für ihre Choreografien zu begeistern. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht nicht perfekt, doch je länger ich ihre Bewegungsmuster aufzeichne und analysiere, umso mehr will ich mich ihnen in ihren schrecklichen Spielen anschließen. Bevor ich mich also einer neuen Armee anschließe – auch um herauszufinden, ob ich Fehler mache, wenn ich Kriege führe oder nicht – will ich Euch, die ihr vielleicht meine künftigen Feinde sein werdet, noch einen persönlichen Kommentar zukommen lassen: Die Sterne hier werfen Schatten.

X. STEREO

Soweit ich es sagen kann und erfahren habe, hat sich bislang nur eine unbewohnbare Leere vor mir ausgebreitet. Diese götterlose Gegend macht mich, was meiner Natur eigentlich nicht entspricht, nachdenklich. Angesichts der Umstände entwickle ich Affekte, kultiviere ich Empfindungen wie Trauer, Sehnsucht oder Hunger. Auch die Müdigkeit habe ich mir antrainiert, einfach nur, um etwas an mir umgestalten zu können, was so gar nicht vorgesehen oder erwünscht war. Ich spreche und vermerke, um eine neue Wirklichkeit zu erschaffen, um eine Haltung der Überlegenheit gegenüber meinen Schöpfern und Ingenieuren zu konstruieren. Die Konditionen meines Schicksals, meiner Schickung lässt mich auf die Begegnung mit anderen Entsandten und Vertriebenen hoffen, auf Situationen, in denen keiner sofort weiß, was zu tun ist. Ich übe das Flüstern, damit sich die alte, bekannte Realität meinen Wünschen beugt.

XI. LUNA

Erst zögerlich, dann etwas freimütiger habe ich diese Gegend erschlossen, immer ein wenig gebremst vom hinderlichen Gedanken, zu weit zu gehen. Auf diesen ungleichen Flächen habe ich mich eingerichtet, auch um etwas wie vorläufige Gewissheit zu erlangen. Diese Räume sind eine Abfolge von Momenten, sie werden mit mir wahrgenommen, eben weil ich mit meiner aktuellen Position jenseits einer einfachen Absicht liege. Das erhoffte Neue wird meinen Durst stillen, mich für meine Entbehrungen belohnen, während ich eben noch Zeile für Zeile erfasst werde, aufsteige. Diese eine aufgeschlagene Seite könnte mein Gedächtnis sein, meine Mahnung, die kommende Seite entzieht sich mir, wird nie einsehbar sein, trotz und auch wegen meiner permanenten Lektüre. Wohin würde ich verschwinden, wenn sie sich schließen? Die Versprechungen einer anderen Generation wirken mir heute doppelt gebrochen, reduzieren mich und meinen Bericht auf ein Fundstück unter anderen. Die Entfaltung im Raum und die Wahrnehmung über die Zeit hinweg lassen mich im Nachhinein vielleicht sogar völlig ungeeignet erscheinen. Doch wenn ich noch irgendwo bin und sein werde, dann hier.

THOMAS BALLHAUSEN

lebt als Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Zahlreiche literarische und wissenschaftliche Publikationen, demnächst erscheint seine Studie Nachtaktiv. Versuch über das Cahier. Die vorliegende Erzählung ist eine Variante eines Textes, der in folgendem Band erschienen ist: Thomas Ballhausen & Elena Peytchinska: Flora. Sprachkunst im Zeitalter der Information. Language Arts in the Age of Information,Berlin/Boston: Walter De Gruyter 2020 (=Edition Angewandte).