Stimmen VON LORENA PIRCHER

Mit ihrem Text Stimmen reflektiert die Autorin LORENA PIRCHER über die Spannungsverhältnisse zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Literatur und Leben, Wirklichkeit und Wahn. Dafür arbeitet sie sich vorsätzlich an literarischen Vorlagen und mythologischen Quellen ab – und stellt zwischenmenschliche Beziehungen ins Zentrum ihres erzählerischen Flechtwerks.

I.

Aietes:

Auch tote Götter regieren. Immer noch. In der warmen, mondbelasteten Häuseransammlung der Toskana. Ich spreche. In Traumsprache. Vergangenheitssprache: Es ist nämlich so: Entweder ich bin von Sinnen, oder diese Familie ist auf einem Verbrechen gegründet. Dieses Dorf hat eine Untat bezeugt. In T. in der Provinz Pisa sei es gewesen, an jenem Palisadenzaun hätten sie gesessen, nach ihrem ersten Zusammentreffen, Nacht sei es gewesen. Da hätten sie gesessen und alles fügte sich schon damals in ein unausweichliches Schicksal. Und ich erzähle wieder Geschichten. Wie ich die Geschichte erzählte, nach der die Kinder gierten. Sie hat ihm zu den Marienstatuen aus der Dorfkirche verholfen, er hat die Kirchenreliquien geraubt. Hat sie verkauft. In einer schwarzen Nacht, in der der Wintermond durch die Skelette der Kiefern schien. Sie hat ihre Gemeinschaft, ihre Heimat verraten, sie nahm seinen Fuß in ihre Hände. Für uns entschuldigt die Liebe der Frauen zu einem Mann nicht alles. Diese Familie ist auf einer Untat begründet. Warum? fragte mich Maddalena immer wieder. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, sie nähere sich mit ihren Fragen einem Bereich, um den ich eine Grenze gezogen hatte, die niemand überschreiten durfte.

Maddalena:

Das Wort verbrennt mich immer noch. Auch jetzt, nach vielen Jahren. Verräterin. Auch, wenn die anderen beinahe schon wieder alles vergessen haben. Mein Vater vergisst nicht.

Alles begann mit seiner Ankunft. Giasone. Allein, von weit hergereist, blonde Locken, adrige Gesten, zähe Worte, fragende Augen. Ich sah ihn, ich errötete, ich erbleichte bei seinem Anblick, das graugrüne Meer erhob sich in meiner verlorenen Seele, meine Augen erblindeten, ich konnte nicht mehr sprechen, ich verlor meinen Körper Hautschicht um Hautfetzen, und in meinem Inneren wurde endlich Ruhe.

Ich sah unseren Gast mehrere Tage nicht. Ich schlief viel in diesen Tagen. Beim Erwachen an einem solchen Tag, erschrak ich, weil ich in der Mitte der fallenden Wellen des grauen Meeres saß. Ich hielt die grünen Iriden der Ozeane in meinen Händen. Ich taumelte gegen die trunkene See, die gegen die Wände unserer Gaststätte schlugen und sah plötzlich das Gesicht von Giasone sehr nahe an meinem. Er sah mich an mit kindlichen, verlorenen Augen. Erbleicht, Flammen durchzuckt, wurde ich wieder rot, wurde ich wieder blass, sah ich ihn und wurde erneut von Ozeanen durchspült.

Giasone:

Als ich mit dreißig Jahren Witwer wurde, merkte ich, dass ich nur halb lebendig gewesen war, ich wollte wieder auf das große Meer hinaus. Es war Herbst, und das Dorf, das sich meinem suchenden Blick ergab, lag in grünblauer Landschaft, graue Lehmbrocken, abfallende Schlucht wo sich das Ligurische Meer und das Tyrrhenische Meer trafen. Ich atmete wieder. Ich stieg in den Garten der ersten Gaststätte hinunter und wurde von schneidend kalter Luft empfangen. – : Sie mochte vielleicht Ende zwanzig sein und über ihrem mondgesichtigem Antlitz hingen unvollendete, lodernde Locken. Ihre großen braunen Augen bewegten sich biegsam durch den Raum. Sie war wunderschön. Ein nie gekanntes Ziehen in allen meinen Gliedern. Dann bemerkte ich, dass sich in dem stattlichen Zimmer noch jemand bewegte: ein älterer Signore, er war hager, sonnengegerbt, hatte adrige Gedanken und sprach zähe Worte.

II.

Maddalena:

Unsere unsicheren, schwankenden Hände berührten sich und wir lehnten uns schweigend aneinander. An jenem Palisadenzaun saßen wir, in astdurchlöcherter Nacht. Vater hasste ihn. Er hasste die Grübchen in seinen Wangen, die sich jetzt zu Gräben vertieft hatten, als hätte sich eine faule Wurzel in sein Inneres gefressen. Das muss die Trauer sein. Er hasste sein blondes Haar, jetzt weiß in der krankenden Sonne. Das muss die Verzweiflung sein. Damals also. Damals also sah Vater Giasone niemals ins Gesicht, wenn er ihn erblickte, wandte er sein erdfahlenes, verzerrtes Gesicht ab. Er glich von Tag zu Tag mehr der Trauerweide vor unserem Haus. Er wurde zu den ausgestreckten Ästen, den knorrigen Fingern, die im warmen Meer am Ende des Gartens rühren. Und doch: Für mich begann eine seltsame Zeit. Vor meinen Augen schienen die Dinge neu zu entstehen. Aus dem Chaos schälten sich Formen und fügten sich in meinem Inneren wieder neu zusammen, die Grenzen zwischen den Objekten verschwammen und ich erkannte, dass alles aneinander teilhatte. Die Bäume flößten den Steinen Leben ein, die Blätter fielen leise und lebendig, und ich verstand, dass ich ein Kind erwartete.

Aietes:

Noch in der gleichen Nacht brachte sie ihre Kinder zur Welt, es waren Zwillinge, halt, es sind Zwillinge, muss ich sagen, ein Mädchen und einen Jungen, gesund und kräftig, er blond wie Giasone, sie dunkel und kraushaarig wie Maddalena. Ich bin fortgegangen. Ich konnte ihre Stimmen nicht mehr hören. Seine Stimme. Er hat mir meine einzige Tochter genommen. Ich sage es noch einmal: Diese Familie ist auf einem Verbrechen aufgebaut. Warum? fragte da nun wieder Maddalena. Und da habe ich es gesagt: „Du, Maddalena, solltest wissen, dass man seine Familie auf verschiedene Weise auf dem Gewissen haben kann“. Und da ist sie bleich geworden, ich habe es gesehen. Öfter muss ich deshalb, halb zornig, halb betroffen, an Maddalenas Frage denken, die sie stellte, als sie mich verließ, nach unserem langen Gespräch. Sie fragte: Wovor läufst du eigentlich davon?

Maddalena:

Ich erinnere mich noch daran, als sein Name mir fremd wurde aus meinem Mund. Wohin treibt es ihn? Die Statuen? fragte ich ihn überrascht. Aber wieso die Statuen. Da standen wir vor der Kirche und ich habe zum ersten Mal das Funkeln in seinen graugrünen Augen gesehen. Die Statuen waren nicht nur ein Vorwand, sondern heilige Gegenstände, auf die er nicht verzichten kann. Warum, wollte ich wissen. Aber wie sollte er die Aura eines heiligen Gegenstandes mit dürren Worten beschreiben. Ich vergaß meinen Vater langsam. Er glitt aus meinem Gesichtsfeld, er verschwand stückchenweise. Er wurde starr und morsch wie die Statue in der Dorfkirche. Am Ende des Sommers gebar ich Zwillinge, zwei perfekt geformte, gesunde Kinder. Ihre lockigen Köpfe auf den Kissen neben mir, mein seliges Lächeln, die Erleichterung von Giasone. Giasone lief zum Zimmer, er wollte meinen Vater suchen, er wollte ihn umarmen: Nichtsdestotrotz, nichtsdestoweniger. Er fand ihn nicht. Auf dem sonnendurchzogenen Fußboden ein Blatt Papier. „Ich gehe fort“. Und jetzt holen mich eure Gesichter ein, Kinder. Eure Knochen. Im Tyrrhenischen Meer. All die Jahre über, habe ich nicht von euch träumen können, aber jetzt, mit den Erinnerungen, sind auch die Träume erwacht. „Unglückliche“ sagen sie zu mir. Oh, diese Ahnungslosen. Es sind die Ahnungslosen, die uns ins Verderben stürzen. Wenn ich an die Jahre und Jahrzehnte zurückdenke, die an der Trauerweide im Garten vorbeizogen, kann ich mich nicht mehr erinnern, welcher Tag dem anderen nicht ähnelte. Ich wanderte in die Tage hinein. Ich war glücklich.

III.

Aietes:

Ich wanderte in die Tage hinein und als ich zurückkam, sah ich die Kinder zuerst. Sie sahen mich zuerst. Maddalena rannte aus dem Haus, sie streckte mir verkümmerte Hände entgegen. Die Leute verwandeln sich von Bittsteller in Forderer und merken doch nichts. Jetzt will man ihn vernehmen, höre ich. Man wird dich auch befragen, Giasone, sagen die Dorfbewohner. Diese Familie ist auf einem Verbrechen aufgebaut. Ich lernte viel in diesem Fall. Ich lernte, dass keine Lüge zu plump ist, als dass die Leute sie nicht glauben würden, wenn sie ihrem geheimen Wunsch, sie zu glauben, entgegenkommt.

Giasone:

Er war zu einem Baum geworden. Einem Stein. Er hatte viel Menschliches verloren, geschwollene Adern an den knotigen Händen, im Gesicht Runzeln wie Schnüre, die Haare im Nacken locker zusammengebunden. Es ist alles meine Schuld. Ich habe gewusst, dass die Strafe kommen muss, ach, ich bin geübt im Bestraft-Werden, die Strafe tobt in mir, lange ehe ich überhaupt ihr Gesicht kenne. Was ich sagen konnte, habe ich gesagt. Ich habe die Statuen nicht geraubt. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Ich habe sie nicht verkauft. Ich habe mich nicht bereichert zum Leidwesen der Dorfgemeinschaft. Was geschehen soll, ist lange ohne uns beschlossen. Dann ist noch einmal die Zeit vergangen.

Jetzt packt mich die Sehnsucht nach all den Tagen, die sie mir rauben werden. Meine Kinder. Erinnerungen. An euch. Sehnsucht. Nach all den Sonnenaufgängen. Die Sonne geht auf. Wie die Türme meines Dorfes im Morgenglanz schimmern.

Aietes:

Nichts von all dem, was geschehen ist, habe ich gewollt. Aber was hätte ich tun sollen. Er hat sich selbst ins Verderben gestürzt, der Rasende. Man hat sie mir gestohlen. Meine einzige Tochter. Der unbekannte Besucher, der nie wieder gegangen ist. Der die Statuen aus der Kirche entweiht hat, der sie gestohlen hat, der sie entwendet hat wie meine Tochter. Wer bringt mir meine Tochter wieder zurück? Auf meinem Hals schwellen Adern an, das Blut des anderen schwillt meinem Blut entgegen. Die Pest greift um sich. Diese Familie ist auf einem Verbrechen begründet. Maddalena ist verloren. Giasone ist verloren. Vor meinen Augen verschwinden sie, und ich kann sie nicht halten. Ich habe ihnen eine Geschichte erzählt. Ich wollte ihnen eine Geschichte erzählen. Giasone zog die Kinder auf seinen Schoß als Maddalena sagte: Das ist euer Großvater, Kinder. Für die Kinder war der Großvater ein Wunder. Ein Meisterwerk, ein tieftrauriger, alter Baum, eine Linde, eine Trauerweide, seine adrigen Finger ihnen entgegengestreckt. Der Vater und die Mutter richteten ein Bett in der alten Gaststätte für den statuengleichen Großvater und sie scharten sich um ihn. Der kleine Junge sah den Großvater nachdenklich an, das Mädchen ergriff seine Hand. Großvater. Da erklärte das Meisterwerk: Hört Kinder, ich erzähle euch morgen ein Märchen. Kommt morgen wieder zu mir und ich erzähle euch, wo ich war. Ich habe eine Welt gesehen, die ihr euch gar nicht vorstellen könnt. Seine Augen glänzten wie zwei Glasscheiben, er wankte wie ein morsches Stück Holz.

IV.

Aietes:

Und die Kinder kamen. Am nächsten, frühesten Morgen kamen sie aus ihren Bettchen gerannt und wunderten sich nicht, mich noch dort sitzen zu sehen, wo ich gestern auf der Ofenbank verblieben war. Und ich erzähle ihnen die Geschichte. Mit vor Spannung bebender Stimme lege ich ihnen die Geschichte dar, die sie ins Verderben wirft. Diese Familie ist auf einem Verbrechen aufgebaut. Dort unten, wo ich war, und die Kinder fressen sich in meine Augen, sie hängen an den bebenden Lippen: Dort unten, wo ich war, da gibt es eine große Wiese, eine große Wiese mit Blumen, die aus Wasser gemacht sind. Dort gibt es Pferde aus Glas, die springen, und Vögel aus Wasser, die fliegen. Und in diesem Augenblick stürmten die Pferde durch das Fensterglas, das rotbeschienene Fensterglas. Im Widerschein des Wildbachs fielen die feurigen Pferde ein, aus den Nüstern Funken wie aus Kohle spritzend, die Kinder in unwiederbringlicher Ehrfurcht.

Ich lache mit den Kindern, ein trockenes Lachen, als würde morsches Holz bersten und dann gehe ich, gehe ich ein letztes und endgültiges Mal fort. Die Kinder sahen sich einige Augenblicke verwirrt an und dann begannen sie, aus der Türe zu treten, an der Trauerweide vorbei, über mehrere verschlungenen Wege die Weite des Ozeans suchend. Großvater, Großvater, riefen die kleinen Kinder mich. Doch ich kann nicht umkehren, kann nicht Frieden wahren lassen, diese Familie ist auf einem Verbrechen erbaut. Sie ist auf einem Verbrechen begründet. Und ich erinnere mich, wie Maddalena erbleichte, als ihr die Frauen vom Dorf jene brennenden, sie verätzenden Worte entgegenschrien, sie erbleichte, wie sie beim ersten Anblick von Giasone erbleicht war. Und er hat Unglück über die Familie gebracht, Unglück über das Dorf, seine Bewohner, er hat mir meine einzige Tochter gestohlen. Und ich habe seine Kinder geraubt. Ich habe ihm seine Kinder geraubt. Und die beiden Kinder, sich an den Händen haltend, auf dem Weg zum Ligurischen Meer. Die Sonne Kalkstreifen auf die Blätter der Bäume werfend und schon erheben sich vor ihnen die beschriebenen gläsernen Figuren, die bauschenden Pferde in der Gischt, schwankendes Licht, durch Äste zerbrochen. Die Kinder besteigen die klaffenden Felsen mit einer naiven Leichtigkeit und die Schritte, die sie machen, um mir nahe zu sein, um die gläsernen Blumen und geflügelten Pferde in dem Meerestoben zu berühren, – werfen sie in die Tiefe. Sie fallen in die Tiefe. Auch tote Götter regieren. Immer noch. In der warmen, mondbelasteten Häuseransammlung der Toskana. Ich spreche. In Traumsprache. Vergangenheitssprache: Es ist nämlich so: Entweder ich bin von Sinnen, oder diese Familie ist auf einem Verbrechen gegründet.

Nachbemerkung

Inspiration für diesen Text stellten Christa Wolfs Medea. Stimmen, Elsa Morantes Kurzgeschichte La nonna und Racines Phèdre dar. Es ist eine Dekonstruktion der Mythen, in der sich die Handlungsstränge vermischen und inhaltliche bzw. literarische Intertextualität vorkommen. Die Aspekte des Entweder-oder werden in den Elementen des Lebens und des Todes und in der alternierenden Verwendung der Prolepse und der Analepse in der Erzählstruktur ersichtlich. Chronologie und Zeitverhältnisse verschwimmen vollkommen, eine subjektive und relative Zeitempfindung beherrscht den Text. Der Text behandelt eine Familientragödie, die aus verschiedenen Sichtweisen in Form von inneren Monologen dargestellt wird, wobei sich die narrative Struktur durch die Gleichzeitigkeit der sprechenden Stimmen erschließt. Es scheint als würden alle Personen langsam aber sicher dem Wahnsinn verfallen und somit eine unzuverlässige Geschichte erzählen, die so stark zwischen Wahrheit und Lüge oszilliert wie die Stimmen selbst zwischen Wirklichkeit und Illusion.

LORENA PIRCHER

wurde 1994 in Südtirol, Italien, geboren. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Anglistik und Romanistik. Sie schreibt Kurzprosa und Lyrik. Ihr erster Gedichtband Irrende Welten wurde 2018 veröffentlicht; derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Lyrikband.

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